Intelligenzforschung und multiple Intelligenzen
Um menschliches Verhalten vergleichbar zu machen, werden mittels statistischer Methoden Tests ausgearbeitet. Der bekannteste von ihnen ist der so genannte Intelligenztest, mit dem man den Intelligenzquotienten (IQ) einer Person misst. Das Problem: Mit diesem Test werden nur logische und linguistische Fähigkeiten bewertet. Außerdem werden die Ergebnisse solcher standardisierter Testverfahren von der Gesellschaft oft überbewertet.
„Intelligenztests forschen häufig nach Wissen der Art, wie man es erwirbt, wenn man in einem bestimmten sozialen und pädagogischen Milieu aufwächst.“
Intelligenzforscher lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die einen gehen von einer generellen Intelligenz aus, die anderen glauben an spezialisierte, voneinander unabhängige Fähigkeiten. Die Erforschung der kindlichen Entwicklung verdanken wir dem Schweizer Psychologen Jean Piaget. Ihn interessierte vor allem, wie ein Kind ein Problem löst, weniger das Ergebnis. Piagets Theorie berücksichtigt aber weder andere Kulturkreise noch andere als logisch-rationale Fähigkeiten. Zudem vernachlässigt er, dass sich verschiedene Fähigkeiten zu unterschiedlichen Zeitpunkten entwickeln. Die „Schule der Symbolsysteme“ berücksichtigt dagegen kulturelle Einflüsse und Erkenntnisse der modernen Hirnforschung. Erst die Entwicklung von Symbolen hat Leistungen wie Sprache, Kunst und Wissenschaft möglich gemacht. Aufgrund neuester Forschungsergebnisse aus Psychologie, Neurowissenschaften, Anthropologie und Pädagogik geht diese Schule von sieben verschiedenen Intelligenzen aus, den „multiplen Intelligenzen“.
Die Rolle der Gehirnforschung
Letztlich werden die Biowissenschaften das Phänomen der Intelligenz erklären können. Der Aspekt der Flexibilität bei der Entwicklung der Intelligenz steht dabei im Mittelpunkt. Die Formbarkeit des Menschen ist nicht unbegrenzt, sondern durch genetische Veranlagung eingeschränkt. Unser Nervensystem wächst nach einem festgelegten Programm. Dieses Wachstum kann durch äußere Stimulation deutlich verbessert werden, was ein größeres Verhaltensspektrum ermöglicht und zu einem größeren Gehirn führt. Das menschliche Gehirn ist säulenförmig gegliedert und dezentral aufgebaut, seine unterschiedlich angeordneten und ausgebildeten Regionen dienen verschiedenen Prozessen und Funktionen. Besonders auffällig ist die funktionale Asymmetrie der rechten und linken Hirnhälfte.
Was ist Intelligenz?
Unter Intelligenz kann man ein Bündel von Fähigkeiten verstehen, die es dem Besitzer ermöglichen, Probleme zu entdecken und zu lösen. Jede Intelligenz stellt ein System dar, das nach eigenen Gesetzen funktioniert. Von einer bestimmten Intelligenz ist dann die Rede, wenn die entsprechenden Fähigkeiten an gewisse neuronale Mechanismen gekoppelt werden können. Die Annahme einer spezifischen Intelligenz ist ferner nur dann plausibel, wenn sie sich evolutionsbiologisch herleiten lässt, wenn sie also in Vorstufen auch bei anderen Lebewesen vorkommt, und in experimentellen psychologischen Tests nachweisbar ist. Ein Charakteristikum aller Intelligenzen ist die Tendenz zur symbolischen Darstellung.
- Linguistische Intelligenz: Der Lyriker als Sprachtalent schlechthin hat ein ausgeprägtes Gespür für die Bedeutungen der Wörter, ihren Rhythmus und die Ästhetik eines Satzes. Zum Wissen um die Semantik, die Bedeutung einzelner Wörter, gesellt sich die Kenntnis der Syntax und der Flexion. Außerdem verfügt ein Lyriker über ein breites Literatur-Repertoire und ein gutes Gedächtnis für Stimmungen, aus dem er schöpfen kann. Linguistische Intelligenz findet ihren Ausdruck in Rhetorik, bildhaften Eselsbrücken und Erklärungen. Schon ein Kind kann mit vier oder fünf Jahren gemäß der Syntax der Erwachsenen sprechen. Wenn die linke Hirnhälfte geschädigt ist, leiden Menschen unter Aphasie, einem Sprachverlust. Das spricht für die Autonomie der sprachlichen Intelligenz, die beim Rechtshänder im linken Schläfenlappen lokalisiert ist. Kulturelle Besonderheiten sprachlicher Fähigkeiten zeigen sich z. B. in der mündlichen Überlieferung traditioneller Inhalte wie Heldenepen. Mündliche und schriftliche Ausdruckskraft haben dieselbe Basis, die schriftliche bedarf aber zusätzlicher Fähigkeiten.
- Musikalische Intelligenz: Musikalische Wunderkinder machen bereits im Vorschulalter auf sich aufmerksam. Ihre Fähigkeiten können trotz einer Behinderung vorhanden sein und durch ein musikalisches Elternhaus oder besondere Unterrichtsmethoden gefördert werden. Zusätzlich zur Beherrschung der musikalischen Technik ist ein Genie in der Lage, ein Stück individuell zu interpretieren und damit etwas Eigenes zu schaffen. Am Akt des Komponierens, der sich jenseits des rationalen Denkens vollzieht, lassen sich die außergewöhnlichen Leistungen musikalischer Talente aufzeigen. Musik hat einen hohen emotionalen Gehalt. Ihre historische Entstehung reicht womöglich zurück in eine Zeit, als sie mit dem ganzen Körper untrennbar vereint war und Gesten, Tanz und Gesang umfasste. Obgleich Musiker mit rhythmischen und nummerischen Elementen arbeiten, lassen sich im Gehirn musikalische Aktivitäten von mathematischen deutlich abgrenzen. Untersuchungen gesunder und hirngeschädigter Menschen ergaben, dass die Mehrzahl musikalischer Fähigkeiten isoliert im rechten Vorderlappen angesiedelt ist.
- Logisch-mathematische Intelligenz: Die Fähigkeiten dieser Art von Intelligenz zeigen sich im Umgang mit Objekten, zunächst konkreten, später abstrakten. Dazu gehört das Zählen, das Gruppieren und Klassifizieren sowie das Wissen, dass Objekte jenseits der auf sie bezogenen Aktionen existieren. Im Alter von 30 bis 40 Jahren steht ein mathematisch begabter Mensch im Zenit seiner Leistungsfähigkeit. Zu den Höhepunkten mathematischer Leistungen zählen rein mentale Problemstellungen aus Gleichungen und Symbolen, deren Lösung es zu beweisen gilt. Die Hirnforschung weist eine präzise Rechenfähigkeit auch bei sonst rückständigen Kindern nach. Bei Hirngeschädigten können musikalische oder linguistische Fähigkeiten unabhängig von rechnerischen erhalten bleiben. Während mathematische Zeichen in der linken Hirnhälfte verarbeitet werden, werden mathematische Beziehungen in der rechten Hälfte erkannt. Das Gehirn zeigt in Bezug auf die Lokalität bei der Verarbeitung logisch-mathematischer Aufgaben eine große Flexibilität und Aktivitäten in mehreren Bereichen. Zu behaupten, dass die westliche Welt mit ihrer logischen Denkweise dem „primitiven“ Teil der Menschheit überlegen wäre, ist übrigens falsch: Im jeweiligen kulturellen Zusammenhang lassen sich auch bei „wilden“ Völkern ausgeprägte mathematische Fähigkeiten nachweisen, angewendet bei Jagd, Handel oder Zeitrechnung. Überdies stellt die logisch-mathematische Intelligenz nicht die Intelligenz schlechthin dar; sie ist eine unter vielen.
- Räumliche Intelligenz: Diese Intelligenz umfasst Fähigkeiten, die sich bei der Wahrnehmung des Raumes, der Orientierung in der Umwelt und ihrer selbstständigen Reproduktion zeigen. Sie lassen sich mit Tests messen, bei denen die Probanden gezeichnete oder verbal beschriebene dreidimensionale Figuren drehen und vergleichen sollen. Die räumliche Intelligenz ist eng mit dem Sehsinn verbunden. Untersuchungen an Blinden zeigen allerdings, dass der fehlende visuelle Sinn durch den taktilen ersetzt werden kann. Blinde sind ebenso fähig wie Sehende, sich in einen Raum zu bewegen, wenn von diesem nur eine Beschreibung vorliegt. Beispiele für Anwendungen ausgeprägter räumlicher Intelligenz sind Bildhauerei oder Navigation auf dem Meer nach den Sternen. Der Sitz des visuell-räumlichen Vorstellungsvermögens befindet sich in der Hinterhauptregion der rechten Hirnhälfte und im Parietallappen.
- Körperlich-kinästhetische Intelligenz: Schauspieler, Tänzer und Sportler, die eine vollständige Kontrolle über ihre Körperbewegungen besitzen, sind Beispiele für hoch entwickelte Körperintelligenz. Aber auch Ingenieurleistungen und feinmotorisches Handwerk gehören in diesen Bereich. Rein physisch erlebbar, hebt sich die Körperintelligenz von den zuvor genannten „geistigen“ Intelligenzen deutlich ab. Körperintelligenz ist deshalb aber nicht weniger wertvoll, denn sie besteht aus komplexen Abläufen, die präzises Timing erfordern. Kompetenzen körperlicher Intelligenz sind das Beobachten, Nachahmen und Neuerschaffen von Ausdruck, Bewegungen oder Objekten. Neben dem Menschen, bei dem motorische Fähigkeiten in der Regel in der linken Hälfte platziert sind, haben auch einige Tiere eine ausgefeilte Werkzeugbenutzung entwickelt, z. B. Schimpansen beim Termitenangeln.
- Personale Intelligenzen: Dabei handelt es sich um zwei Intelligenzen, die intrapersonale und die interpersonale, die sich mit dem Begriff „Selbstsinn“ treffend bezeichnen lassen. Beide sind neuronal voneinander unabhängig, in ihrer Entwicklung aber eng miteinander verwoben. Sie unterliegen einem starken kulturellen Einfluss, trotzdem verfügen Menschen aller Kulturen über personale Intelligenzen. Während die intrapersonale Intelligenz dem Ego entspricht – in der psychologischen Forschung durch Freuds Psychoanalyse thematisiert –, zeigt sich die interpersonale Intelligenz in der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft, wie sie die Sozialpsychologie beschreibt. Individuum, Persönlichkeit, Selbsterkenntnis und die Fähigkeit zum persönlichen Wachstum sind zentrale Begriffe und Gegenstände beider Ansätze. Die Entwicklung der personalen Intelligenzen vollzieht sich stufenweise und bringt je nach Alter intra- oder interpersonale Fähigkeiten hervor. Eine der ersten ist die Selbstwahrnehmung im Spiegel. Prägend ist die enge Mutter-Kind-Beziehung während des ersten Lebensjahres; Störungen in dieser Zeit wirken sich negativ auf die weitere persönliche Entwicklung aus. Personale Intelligenzen befinden sich im Frontallappen. Dort treffen zwei Hinterhauptlappen und das limbische System zusammen, was die Rolle der Persönlichkeit als umfassendes Integrationssystem erklärt.
Pädagogische Aspekte
Drei Beispiele sollen verdeutlichen, wie Ausbildungsmethoden und Intelligenzen zusammenhängen:
- Lernen in der oralen Gesellschaft: Im Volk der Puluwat in Mikronesien gibt es Spezialisten, die mit dem Kanu nach den Sternen navigieren und segeln. Ihre Ausbildung – meist durch Verwandte – erfolgt mündlich und durch Nachahmung und bildet die räumliche und die körperlich-kinästhetische Intelligenz aus.
- Traditionelle religiöse Schulen: Koranschulen unterrichten die arabische Sprache und den Koran durch Wiederholen und Rezitieren, vermitteln also linguistische Fähigkeiten. Gleichzeitig fördern der enge Zusammenschluss der Jungen und die Hinwendung zu einem Lehrer die Entwicklung interpersonaler Intelligenz.
- Säkularisierte Schulen: Hier wird z. B. das Programmieren eines Computers mit mathematisch-logischer Intelligenz erlernt. Der Lernprozess kann viele Medien einbeziehen und bei intrapersonaler Intelligenz selbstgesteuert erfolgen.
„Pädagogische Bemühungen müssen auf der Kenntnis dieser angeborenen intellektuellen Tendenzen und der Punkte aufbauen, an denen diese Tendenzen am flexibelsten und anpassungsfähigsten sind.“
Diese Beispiele zeigen: Intelligenzen genießen kulturell bedingt unterschiedlich hohes Ansehen. Auch entwickeln sie sich auf unterschiedlichen Altersstufen. Pädagogisch sinnvoll ist es, Fähigkeiten dann zu fördern, wenn die entsprechende Entwicklung am flexibelsten ist.