Abschied vom IQ

Buch Abschied vom IQ

Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen

Klett-Cotta,
Erstausgabe:1985


Rezension

Ist jeder, der einen hohen IQ hat, intelligent? Wird der herkömmliche In­tel­li­gen­ztest unseren vielfältigen Fähigkeiten gerecht? Nein, meint der amerikanis­che Kog­ni­tion­swis­senschaftler Howard Gardner und stürzt den IQ vom Thron. Seine Forschungen widerlegen die These der Allein­herrschaft einer al­lum­fassenden Intelligenz, wie sie in stan­dar­d­isierten Tests ermittelt wird. Stattdessen ruft Gardner gleich sieben In­tel­li­gen­zen auf den Plan, darunter die musikalis­che, die räumliche und die körper­lich-kinästhetische. Das ehrgeizige Ziel: dem ganzen Menschen gerecht werden – und allen Menschen, auch denen außerhalb der westlichen Kultur. Gardner erklärt seine Ideen anschaulich und auch für Laien nachvol­lziehbar. Die Umsetzung in pädagogische Konzepte lässt allerdings zu wünschen übrig – bis heute. Immerhin bereitete die 1985 erschienene Erstausgabe des Buchs mit ihrem Begriff der „multiplen In­tel­li­gen­zen“ den Weg für Daniel Golemans Buch Emotionale Intelligenz, das zehn Jahre später erschien. Heute arbeiten Hirn­forscher daran, die Ansätze der beiden Har­vard-Psy­cholo­gen zu erhärten. BooksInShort empfiehlt diesen Klassiker der Populärwis­senschaft Ausbildern, Führungskräften und Per­son­al­fach­leuten.

Take-aways

  • Intelligenz heißt: eine Ansammlung von Fähigkeiten, mit denen ein Mensch ein spez­i­fis­ches Problem erkennen und lösen kann.
  • Die Annahme vieler Forscher, es gebe nur eine generelle Intelligenz, ist falsch.
  • Es lassen sich sieben „multiple In­tel­li­gen­zen“ un­ter­schei­den: lin­guis­tis­che, musikalis­che, lo­gisch-math­e­ma­tis­che, räumliche, körper­lich-kinästhetische, in­trap­er­son­ale und in­ter­per­son­ale Intelligenz.
  • Der IQ-Test misst nur logische und lin­guis­tis­che Fähigkeiten.
  • Jede Intelligenz wird von Prozessen im Gehirn gesteuert und ist dort eindeutig lokalisier­bar.
  • In­tel­li­gen­zen sind im Detail nicht ver­gle­ich­bar, sie folgen eigenen Gesetzen.
  • Ein Merkmal jeglicher Intelligenz ist die Tendenz zur sym­bol­haften Darstellung.
  • Symbole sind die Grundlage für die Entwicklung von Sprache, Kunst und Wis­senschaft.
  • Die ver­schiede­nen In­tel­li­gen­zen entwickeln sich auf un­ter­schiedlichen Al­tersstufen.
  • Jede Intelligenz sollte dann gefördert werden, wenn das Hirn diesbezüglich besonders flexibel ist.
 

Zusammenfassung

In­tel­li­gen­z­forschung und multiple In­tel­li­gen­zen

Um men­schliches Verhalten ver­gle­ich­bar zu machen, werden mittels sta­tis­tis­cher Methoden Tests aus­gear­beitet. Der bekannteste von ihnen ist der so genannte In­tel­li­gen­ztest, mit dem man den In­tel­li­gen­zquo­tien­ten (IQ) einer Person misst. Das Problem: Mit diesem Test werden nur logische und lin­guis­tis­che Fähigkeiten bewertet. Außerdem werden die Ergebnisse solcher stan­dar­d­isierter Testver­fahren von der Gesellschaft oft überbewertet.

„In­tel­li­gen­ztests forschen häufig nach Wissen der Art, wie man es erwirbt, wenn man in einem bestimmten sozialen und pädagogischen Milieu aufwächst.“

In­tel­li­gen­z­forscher lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die einen gehen von einer generellen Intelligenz aus, die anderen glauben an spezial­isierte, voneinander unabhängige Fähigkeiten. Die Erforschung der kindlichen Entwicklung verdanken wir dem Schweizer Psychologen Jean Piaget. Ihn in­ter­essierte vor allem, wie ein Kind ein Problem löst, weniger das Ergebnis. Piagets Theorie berücksichtigt aber weder andere Kul­turkreise noch andere als lo­gisch-ra­tio­nale Fähigkeiten. Zudem vernachlässigt er, dass sich ver­schiedene Fähigkeiten zu un­ter­schiedlichen Zeitpunkten entwickeln. Die „Schule der Sym­bol­sys­teme“ berücksichtigt dagegen kulturelle Einflüsse und Erken­nt­nisse der modernen Hirn­forschung. Erst die Entwicklung von Symbolen hat Leistungen wie Sprache, Kunst und Wis­senschaft möglich gemacht. Aufgrund neuester Forschungsergeb­nisse aus Psychologie, Neu­rowis­senschaften, An­thro­polo­gie und Pädagogik geht diese Schule von sieben ver­schiede­nen In­tel­li­gen­zen aus, den „multiplen In­tel­li­gen­zen“.

Die Rolle der Gehirn­forschung

Letztlich werden die Biowis­senschaften das Phänomen der Intelligenz erklären können. Der Aspekt der Flexibilität bei der Entwicklung der Intelligenz steht dabei im Mittelpunkt. Die Formbarkeit des Menschen ist nicht unbegrenzt, sondern durch genetische Veranlagung eingeschränkt. Unser Ner­ven­sys­tem wächst nach einem fest­gelegten Programm. Dieses Wachstum kann durch äußere Stimulation deutlich verbessert werden, was ein größeres Ver­hal­tensspek­trum ermöglicht und zu einem größeren Gehirn führt. Das menschliche Gehirn ist säulenförmig gegliedert und dezentral aufgebaut, seine un­ter­schiedlich an­ge­ord­neten und aus­ge­bilde­ten Regionen dienen ver­schiede­nen Prozessen und Funktionen. Besonders auffällig ist die funktionale Asymmetrie der rechten und linken Hirnhälfte.

Was ist Intelligenz?

Unter Intelligenz kann man ein Bündel von Fähigkeiten verstehen, die es dem Besitzer ermöglichen, Probleme zu entdecken und zu lösen. Jede Intelligenz stellt ein System dar, das nach eigenen Gesetzen funk­tion­iert. Von einer bestimmten Intelligenz ist dann die Rede, wenn die entsprechen­den Fähigkeiten an gewisse neuronale Mechanismen gekoppelt werden können. Die Annahme einer spez­i­fis­chen Intelligenz ist ferner nur dann plausibel, wenn sie sich evo­lu­tions­bi­ol­o­gisch herleiten lässt, wenn sie also in Vorstufen auch bei anderen Lebewesen vorkommt, und in ex­per­i­mentellen psy­chol­o­gis­chen Tests nachweisbar ist. Ein Charak­ter­is­tikum aller In­tel­li­gen­zen ist die Tendenz zur sym­bol­is­chen Darstellung.

  • Lin­guis­tis­che Intelligenz: Der Lyriker als Sprach­tal­ent schlechthin hat ein ausgeprägtes Gespür für die Bedeutungen der Wörter, ihren Rhythmus und die Ästhetik eines Satzes. Zum Wissen um die Semantik, die Bedeutung einzelner Wörter, gesellt sich die Kenntnis der Syntax und der Flexion. Außerdem verfügt ein Lyriker über ein breites Lit­er­atur-Reper­toire und ein gutes Gedächtnis für Stimmungen, aus dem er schöpfen kann. Lin­guis­tis­che Intelligenz findet ihren Ausdruck in Rhetorik, bildhaften Eselsbrücken und Erklärungen. Schon ein Kind kann mit vier oder fünf Jahren gemäß der Syntax der Erwachsenen sprechen. Wenn die linke Hirnhälfte geschädigt ist, leiden Menschen unter Aphasie, einem Sprachver­lust. Das spricht für die Autonomie der sprach­lichen Intelligenz, die beim Rechtshänder im linken Schläfenlappen lokalisiert ist. Kulturelle Beson­der­heiten sprach­licher Fähigkeiten zeigen sich z. B. in der mündlichen Überliefer­ung tra­di­tioneller Inhalte wie Heldenepen. Mündliche und schriftliche Aus­druck­skraft haben dieselbe Basis, die schriftliche bedarf aber zusätzlicher Fähigkeiten.
  • Musikalis­che Intelligenz: Musikalis­che Wun­derkinder machen bereits im Vorschu­lal­ter auf sich aufmerksam. Ihre Fähigkeiten können trotz einer Behinderung vorhanden sein und durch ein musikalis­ches Elternhaus oder besondere Un­ter­richtsmeth­o­den gefördert werden. Zusätzlich zur Be­herrschung der musikalis­chen Technik ist ein Genie in der Lage, ein Stück individuell zu in­ter­pretieren und damit etwas Eigenes zu schaffen. Am Akt des Kom­ponierens, der sich jenseits des rationalen Denkens vollzieht, lassen sich die außergewöhnlichen Leistungen musikalis­cher Talente aufzeigen. Musik hat einen hohen emotionalen Gehalt. Ihre historische Entstehung reicht womöglich zurück in eine Zeit, als sie mit dem ganzen Körper untrennbar vereint war und Gesten, Tanz und Gesang umfasste. Obgleich Musiker mit rhyth­mis­chen und num­merischen Elementen arbeiten, lassen sich im Gehirn musikalis­che Aktivitäten von math­e­ma­tis­chen deutlich abgrenzen. Un­ter­suchun­gen gesunder und hirngeschädigter Menschen ergaben, dass die Mehrzahl musikalis­cher Fähigkeiten isoliert im rechten Vorder­lap­pen angesiedelt ist.
  • Lo­gisch-math­e­ma­tis­che Intelligenz: Die Fähigkeiten dieser Art von Intelligenz zeigen sich im Umgang mit Objekten, zunächst konkreten, später abstrakten. Dazu gehört das Zählen, das Gruppieren und Klas­si­fizieren sowie das Wissen, dass Objekte jenseits der auf sie bezogenen Aktionen existieren. Im Alter von 30 bis 40 Jahren steht ein math­e­ma­tisch begabter Mensch im Zenit seiner Leistungsfähigkeit. Zu den Höhepunkten math­e­ma­tis­cher Leistungen zählen rein mentale Prob­lem­stel­lun­gen aus Gleichungen und Symbolen, deren Lösung es zu beweisen gilt. Die Hirn­forschung weist eine präzise Rechenfähigkeit auch bei sonst rückständigen Kindern nach. Bei Hirngeschädigten können musikalis­che oder lin­guis­tis­che Fähigkeiten unabhängig von rech­ner­ischen erhalten bleiben. Während math­e­ma­tis­che Zeichen in der linken Hirnhälfte verarbeitet werden, werden math­e­ma­tis­che Beziehungen in der rechten Hälfte erkannt. Das Gehirn zeigt in Bezug auf die Lokalität bei der Ve­r­ar­beitung lo­gisch-math­e­ma­tis­cher Aufgaben eine große Flexibilität und Aktivitäten in mehreren Bereichen. Zu behaupten, dass die westliche Welt mit ihrer logischen Denkweise dem „primitiven“ Teil der Menschheit überlegen wäre, ist übrigens falsch: Im jeweiligen kulturellen Zusam­men­hang lassen sich auch bei „wilden“ Völkern ausgeprägte math­e­ma­tis­che Fähigkeiten nachweisen, angewendet bei Jagd, Handel oder Zeitrech­nung. Überdies stellt die lo­gisch-math­e­ma­tis­che Intelligenz nicht die Intelligenz schlechthin dar; sie ist eine unter vielen.
  • Räumliche Intelligenz: Diese Intelligenz umfasst Fähigkeiten, die sich bei der Wahrnehmung des Raumes, der Ori­en­tierung in der Umwelt und ihrer selbstständigen Re­pro­duk­tion zeigen. Sie lassen sich mit Tests messen, bei denen die Probanden gezeichnete oder verbal beschriebene drei­di­men­sion­ale Figuren drehen und vergleichen sollen. Die räumliche Intelligenz ist eng mit dem Sehsinn verbunden. Un­ter­suchun­gen an Blinden zeigen allerdings, dass der fehlende visuelle Sinn durch den taktilen ersetzt werden kann. Blinde sind ebenso fähig wie Sehende, sich in einen Raum zu bewegen, wenn von diesem nur eine Beschrei­bung vorliegt. Beispiele für Anwendungen ausgeprägter räumlicher Intelligenz sind Bildhauerei oder Navigation auf dem Meer nach den Sternen. Der Sitz des visuell-räumlichen Vorstel­lungsvermögens befindet sich in der Hin­ter­haup­tre­gion der rechten Hirnhälfte und im Pari­etal­lap­pen.
  • Körper­lich-kinästhetische Intelligenz: Schaus­pieler, Tänzer und Sportler, die eine vollständige Kontrolle über ihre Körper­be­we­gun­gen besitzen, sind Beispiele für hoch entwickelte Körper­in­tel­li­genz. Aber auch In­ge­nieurleis­tun­gen und fein­mo­torisches Handwerk gehören in diesen Bereich. Rein physisch erlebbar, hebt sich die Körper­in­tel­li­genz von den zuvor genannten „geistigen“ In­tel­li­gen­zen deutlich ab. Körper­in­tel­li­genz ist deshalb aber nicht weniger wertvoll, denn sie besteht aus komplexen Abläufen, die präzises Timing erfordern. Kompetenzen körperlicher Intelligenz sind das Beobachten, Nachahmen und Neuer­schaf­fen von Ausdruck, Bewegungen oder Objekten. Neben dem Menschen, bei dem motorische Fähigkeiten in der Regel in der linken Hälfte platziert sind, haben auch einige Tiere eine ausgefeilte Werkzeug­be­nutzung entwickelt, z. B. Schimpansen beim Ter­mi­te­nan­geln.
  • Personale In­tel­li­gen­zen: Dabei handelt es sich um zwei In­tel­li­gen­zen, die in­trap­er­son­ale und die in­ter­per­son­ale, die sich mit dem Begriff „Selbstsinn“ treffend bezeichnen lassen. Beide sind neuronal voneinander unabhängig, in ihrer Entwicklung aber eng miteinander verwoben. Sie unterliegen einem starken kulturellen Einfluss, trotzdem verfügen Menschen aller Kulturen über personale In­tel­li­gen­zen. Während die in­trap­er­son­ale Intelligenz dem Ego entspricht – in der psy­chol­o­gis­chen Forschung durch Freuds Psy­cho­analyse the­ma­tisiert –, zeigt sich die in­ter­per­son­ale Intelligenz in der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft, wie sie die Sozialpsy­cholo­gie beschreibt. Individuum, Persönlichkeit, Selb­sterken­nt­nis und die Fähigkeit zum persönlichen Wachstum sind zentrale Begriffe und Gegenstände beider Ansätze. Die Entwicklung der personalen In­tel­li­gen­zen vollzieht sich stufenweise und bringt je nach Alter intra- oder in­ter­per­son­ale Fähigkeiten hervor. Eine der ersten ist die Selb­st­wahrnehmung im Spiegel. Prägend ist die enge Mut­ter-Kind-Beziehung während des ersten Leben­s­jahres; Störungen in dieser Zeit wirken sich negativ auf die weitere persönliche Entwicklung aus. Personale In­tel­li­gen­zen befinden sich im Frontal­lap­pen. Dort treffen zwei Hin­ter­haupt­lap­pen und das limbische System zusammen, was die Rolle der Persönlichkeit als umfassendes In­te­gra­tionssys­tem erklärt.

Pädagogische Aspekte

Drei Beispiele sollen verdeut­lichen, wie Aus­bil­dungsmeth­o­den und In­tel­li­gen­zen zusammenhängen:

  • Lernen in der oralen Gesellschaft: Im Volk der Puluwat in Mikronesien gibt es Spezial­is­ten, die mit dem Kanu nach den Sternen navigieren und segeln. Ihre Ausbildung – meist durch Verwandte – erfolgt mündlich und durch Nachahmung und bildet die räumliche und die körper­lich-kinästhetische Intelligenz aus.
  • Tra­di­tionelle religiöse Schulen: Ko­ran­schulen un­ter­richten die arabische Sprache und den Koran durch Wiederholen und Rezitieren, vermitteln also lin­guis­tis­che Fähigkeiten. Gle­ichzeitig fördern der enge Zusam­men­schluss der Jungen und die Hinwendung zu einem Lehrer die Entwicklung in­ter­per­son­aler Intelligenz.
  • Säku­lar­isierte Schulen: Hier wird z. B. das Pro­gram­mieren eines Computers mit math­e­ma­tisch-lo­gis­cher Intelligenz erlernt. Der Lernprozess kann viele Medien einbeziehen und bei in­trap­er­son­aler Intelligenz selb­st­ges­teuert erfolgen.
„Pädagogische Bemühungen müssen auf der Kenntnis dieser angeborenen in­tellek­tuellen Tendenzen und der Punkte aufbauen, an denen diese Tendenzen am flex­i­bel­sten und anpassungsfähigsten sind.“

Diese Beispiele zeigen: In­tel­li­gen­zen genießen kulturell bedingt un­ter­schiedlich hohes Ansehen. Auch entwickeln sie sich auf un­ter­schiedlichen Al­tersstufen. Pädagogisch sinnvoll ist es, Fähigkeiten dann zu fördern, wenn die entsprechende Entwicklung am flex­i­bel­sten ist.

Über den Autor

Howard Gardner ist Psychologe an der Harvard University und hält eine Professur an der dortigen Graduate School of Education. Außerdem forscht er am Boston Veterans Ad­min­is­tra­tion Medical Center. Er ist auch Autor der Bücher Good Work! und So genial wie Einstein.