Emotionen außer Kontrolle
In der modernen Gesellschaft fühlen sich viele Menschen ganz und gar der Vernunft verpflichtet. Doch inmitten des Gemeinwesens blitzen immer wieder emotional motivierte Wahnsinntaten auf: Amokläufe von Schulkindern, Gewaltakte in Familien, ausländerfeindliche Attacken. Nach Berichten über solchen Horror suchen viele Menschen Erklärungen. Doch allzu häufig macht sich nichts als Ratlosigkeit breit. Die Eindrücke trügen nicht: Mehr Menschen als früher verlieren die Kontrolle über sich selbst. Es kommt zu aggressiverem Verhalten von Teenagern und zu mehr Depressionen unter Erwachsenen. Eine breit angelegte Untersuchung in den USA hat ergeben: Kinder sind einsamer, depressiver, gereizter, ängstlicher und aggressiver als früher.
Warum US-Erfahrungen für uns wichtig sind
Kinder und Jugendliche in Deutschland sind zwar in einer anderen psychologischen Verfassung als die in den USA – die amerikanische Jugend ist wesentlich gewalttätiger –, bei den somatischen Krisensymptomen, die oft auf unterdrückte Sorgen und Ängste schließen lassen, ist die hiesige Jugend aber mit der amerikanischen durchaus vergleichbar. Die Wahrscheinlichkeit, an Depression zu erkranken, ist bei den Nachkriegsgenerationen in Deutschland dreimal höher als bei den vor 1944 Geborenen. Wie lässt sich das erklären?
Die Kartografie des Gehirns
Der Schlüssel zur Lösung solcher Fragen liegt in der emotionalen Intelligenz, im Ausgleich von Rationalität und Mitgefühl. Die gute Nachricht lautet: Die Forschung schreitet voran. Die Neurowissenschaften liefern derzeit viele neue Erkenntnisse darüber, wie die Menschen ihre Emotionalität besser für sich nutzen können – statt gegen sie zu arbeiten. Bildgebende Verfahren liefern immer tiefere Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns und damit mehr Wissen über das Denken und Fühlen der Menschen.
„Anders als der IQ, der seit fast hundert Jahren an Hunderttausenden untersucht wurde, ist die emotionale Intelligenz ein neues Konzept.“
Bislang war man überzeugt, der Intelligenzquotient sei durch die Gene bestimmt, werde durch Lebenserfahrungen nicht verändert und sei das Los des jeweiligen Menschen. Doch es gibt erfolgreiche Menschen mit niedrigem IQ, während andere, die einen hohen IQ besitzen, scheitern. Das liegt am Vorhandensein oder Fehlen gewisser Merkmale der emotionalen Intelligenz: Selbstbeherrschung, Eifer, Beharrlichkeit und die Fähigkeit zur Selbstmotivation. Wer seinen Kindern diese Eigenschaften vermittelt, erhöht ihre Chancen im Leben. Ideal ist die Kombination von Selbstbeherrschung und Mitgefühl. Es ist erstrebenswert, die eigenen Impulse kontrollieren zu können, sich gleichzeitig aber die Fähigkeit zu erhalten, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen. Das ist emotionale Intelligenz.
Emotionen aus der Urzeit
Der Begriff Emotion, der sich vom lateinischen „emovere“ ableitet, beinhaltet eine Tendenz zum Handeln. Ob bei der Partnerwahl, im Trauerfall oder in Gefahr: In wichtigen Situationen handeln Menschen in erster Linie emotional. Dafür hat die Evolution gesorgt. Die Zivilisation ist in den letzten 10 000 Jahren aber schneller vorangeschritten als die Evolution. Die biologische Grundausstattung ist auf dem Stand des Pleistozäns stehen geblieben. Gesetze und ethische Normen dienen seither als Maßgaben, die Gefühle im Zaum zu halten.
„In unserem Zeitalter sind die Kräfte und Fähigkeiten des Herzens genauso lebenswichtig wie die des Kopfes.“
Neurobiologen haben mehrere Arten von Emotionen identifiziert. Im Zorn sorgt Adrenalin für körperliche Energie. Bei Furcht unterstützt der Körper durch Steigerung der Blutzufuhr in den Beinen die Fähigkeit zur Flucht. Im Glückszustand blockiert er negative Gefühle: Liebende versetzt er in einen gelassenen, entspannten Zustand. Auch für Überraschung, Abscheu und Trauer hat die Evolution den Menschen jeweils ein Handlungsmuster mitgegeben, das für alle bis in die Mimik gleich ist. Bei Ekel beispielsweise rümpft man die Nase.
„Jetzt ist die Wissenschaft endlich in der Lage, auf diese dringenden und verwirrenden Fragen der Psyche in ihren irrationalsten Aspekten begründete Antworten zu geben und das menschliche Herz mit leidlicher Genauigkeit kartografisch zu erfassen.“
Neben den Emotionen, die im harten Dasein von früher überlebenswichtig waren, lassen sich die Menschen von rationalen Überlegungen leiten. Herz und Kopf, Emotion und Ratio – normalerweise arbeiten diese beiden Seelen in einer Brust gut zusammen. Doch wenn die Emotionen die Oberhand gewinnen, darf sich der Mensch auf seine Ratio nicht mehr viel einbilden. Kein Wunder: Der denkende Teil des Gehirns – die äußere Schicht (Neokortex) – hat sich aus den Wurzeln des Hirnstamms entwickelt, den wir mit den primitivsten Arten gemeinsam haben. Die Struktur des Hirns verleiht den emotionalen, uralten Teilen – vor allem dem limbischen System und dem Mandelkern – eine Schlüsselstelle. Sie können die höheren Hirnfunktionen in bestimmten Situationen mattsetzen. Der Mandelkern ist der emotionale Wachposten, der Reaktionen auslösen kann, bevor der Neokortex die Situation verarbeitet.
Fünf Bausteine emotionaler Intelligenz
Das Konzept der emotionalen Intelligenz ist neu, aber mindestens ebenso wichtig für den Erfolg eines Menschen wie sein IQ. Der intelligente Umgang mit Emotionen wird durch fünf Merkmale gekennzeichnet:
- Eigene Emotionen wahrnehmen: Eine funktionierende Selbstwahrnehmung ist dafür die Grundlage.
- Emotionen kontrollieren: Nur so kann man sich selbst beherrschen.
- Emotionen zielgerichtet nutzen: Sie lassen sich etwa zur Selbstmotivation oder für Kreativitätsschübe verwenden.
- Emotionen anderer erkennen: Die Empathie ist Grundlage der so genannten Menschenkenntnis.
- Mit den Emotionen der anderen umgehen: Wenn Sie diese Kunst beherrschen, werden Sie zum „sozialen Star“.
Die Partnerschaft – ein weites Feld für Emotionen
Viele Beziehungsprobleme wurzeln bereits in der Kindheit: Jungen und Mädchen werden unterschiedlich auf den Umgang mit Emotionen vorbereitet. Jungen schätzen im Spiel Unabhängigkeit, Mädchen Verbundenheit – ein Muster für manche Ehekrise. Wenn Sie im Alltag Ihren Partner kritisieren, z. B. weil er sich verspätet hat, sollten Sie die Handlungsweise kritisieren, nicht einen Charakterzug. Denn allzu scharfe Worte führen zu Abwehrreaktionen statt zur Besserung. Nachäffen, Beleidigen oder Verachtung ausdrückende Körpersprache sind kein Zeichen emotionaler Intelligenz. Männer lassen sich schneller und schon durch leicht negative Erlebnisse zu Gefühlsausbrüchen verleiten. Das coole, unberührbare Auftreten, das viele an den Tag legen, könnte ihr Selbstschutz dagegen sein.
„Was die emotionale Intelligenz so wichtig macht, ist der Zusammenhang zwischen Gefühl, Charakter und moralischen Instinkten.“
Wenn Sie die Emotionen in sich aufwallen spüren, sollten Sie nicht mauern, sondern den Konflikt austragen. Doch denken Sie daran: Auch wenn Ihr Partner Ihnen mit einer Bemerkung auf die Nerven geht, will er Sie damit vermutlich nicht ärgern, sondern Ihre Beziehung verbessern. Männer tun gut daran, die Gefühle ihrer Partnerinnen anzuerkennen und ernst zu nehmen, indem sie ihnen nicht aus dem Weg gehen. Frauen sollten ihrerseits darauf achten, ihre Kritik nicht zu heftig zu formulieren: Männer sind durchaus verletzlich. Beide Partner müssen zuhören können. Das Gefühl, auf Gehör zu stoßen, baut bereits Spannungen ab. Nach emotionalen Entgleisungen ist es wichtig, sich zu beruhigen. Dieses Konfliktlösungsverhalten sollten Sie üben. Dann besteht die Chance, dass der emotionale Teil Ihres Gehirns routiniert auf produktive Strategien zugreift, wenn Sie in Konflikte geraten.
Der Arbeitsplatz – ein weiteres Minenfeld der Emotionen
Viele Manager sind der Meinung, am Arbeitsplatz komme es in erster Linie auf ihren Verstand an, nicht auf ihre emotionale Intelligenz. Das ist ein Irrtum. Wenn Sie Ihre Emotionen nicht im Griff haben, entgehen Ihnen wichtige Details und Ihre Produktivität leidet.
„Die Tatsache, dass das Gehirn selbst durch Brutalität – oder durch Liebe – geformt wird, lässt die Kindheit als ein spezielles Fenster der Gelegenheit für emotionale Lektionen erscheinen.“
Am Arbeitsplatz können Sie Ihre emotionale Intelligenz in drei Disziplinen beweisen: im Umgang mit Kritik, in Bezug auf die Vielfalt und bei der Teamarbeit. Ihre Mitarbeiter zu kritisieren – also ein Feedback zu geben –, gehört zu Ihren wichtigsten Aufgaben. Seien Sie dabei präzise, konstruktiv und sensibel. Am besten bringen Sie Ihre Kritik und Ihre Vorschläge im Gespräch unter vier Augen an. Sollten Sie in Ihrer Firma Intoleranz und Vorurteile gegen bestimmte Mitarbeiter oder ethnische Gruppen wahrnehmen, dürfen Sie nicht darüber hinwegsehen. Gehen Sie aktiv dagegen vor, indem Sie kameradschaftliche Zusammenarbeit fördern. Für funktionierende Teamarbeit ist weniger die fachliche Qualifikation als der soziale Umgang der Schlüssel zum Erfolg. Während Angst, Rivalität und Wut der Zusammenarbeit im Weg stehen, können in einem harmonischen Umfeld Teams zur Bestform auflaufen.
Optimismus hält gesund
Auf Basis dieser Erkenntnisse setzt sich in der Medizin langsam die Ansicht durch, dass die Seele den Zustand des Körpers ebenso beeinflussen kann wie umgekehrt. Früher galt eine solche Einstellung als esoterisch. Menschen, die zu Zornausbrüchen neigen, leben mit einem deutlich höheren Herzinfarktrisiko, während Angst die Immunabwehr senkt. Studien haben gezeigt, dass sich Optimismus positiv auf die Gesundheit auswirkt. Das Gesundheitssystem sollte daher stärker als bisher – neben den rein medizinischen – auch die psychologischen Bedürfnisse der Patienten berücksichtigen.
Kindheitserfahrungen prägen die emotionale Intelligenz
Kinder, deren Eltern emotional intelligent sind, haben gute Aussichten, ebenfalls emotionale Intelligenz zu entwickeln. Achten Sie darauf, gegenüber Ihren Kindern einige der häufigsten Fehler zu vermeiden: Ignorieren Sie nie die Gefühle Ihres Kindes; respektieren Sie diese, aber seien Sie auch nicht übermäßig tolerant. Die Übervorsicht mancher Eltern verhindert beispielsweise, dass furchtsame Kinder tapferer werden.
„Die Erzieher, schon seit Langem beunruhigt über die nachlassenden Leistungen in Rechnen und Lesen, erkennen jetzt ein anderes und noch alarmierenderes Defizit: emotionale Unbildung.“
Überprüfen Sie Ihre Kommunikationsgewohnheiten auf emotionale Fitness: Schon Babys spüren, ob Sie mit Freude oder innerem Widerwillen betreut werden. Das prägt ihr emotionales Lernen. Wer aggressive Eltern hat, die willkürlich und streng strafen, wird häufig als Erwachsener ebenfalls ein solches Verhalten an den Tag legen. Prinzipiell lassen sich emotionale Muster zwar verändern. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit oder im Erwachsenenleben sind ohne professionelle Hilfe aber kaum zu bewältigen. Sowohl Medikamente als auch Verhaltenstherapien können Hirnfunktionen korrigieren. Patienten mit Waschzwang etwa wiesen nach einer medikamentösen Behandlung in der betroffenen Hirnregion weniger Anomalien auf – genauso aber auch diejenigen, die eine Verhaltenstherapie durchlaufen hatten.
Eine neue Aufgabe für die Schulen
Die Kosten mangelhafter emotionaler Bildung nehmen zu: Es gibt immer mehr verhaltensauffällige Kinder und depressive Jugendliche. Der positive Einfluss der Familie geht zurück, während gleichzeitig die Scheidungsrate steigt. Gegenmaßnahmen sollten schon früh ansetzen.
„Da immer mehr Kinder von der Familie keine sichere Lebensorientierung mehr erhalten, bleibt die Schule als der einzige Ort übrig, wo die Gemeinschaft Defizite der Kinder an emotionaler und sozialer Kompetenz korrigieren kann.“
Psychologische Sitzungen mit aggressiven Grundschülern sind eine erprobte Methode, Gewalt an Schulen zu verringern. Schulpsychologen können auch die zunehmenden Depressionen, die bei Teenagern häufig durch Beziehungsprobleme ausgelöst werden, gut behandeln. Essstörungen, Schulabbrüche und Suchtanfälligkeit sind weitere Phänomene, die in fehlerhafter emotionaler Kompetenz und ihrer mangelnden Behandlung begründet sind. Einige amerikanische Schulen unterrichten ihre Schüler bereits in emotionaler Intelligenz. Die Schüler sprechen ihre Probleme im Schulalltag an und reflektieren ihre Gefühle. In Rollenspielen finden sie unter Anleitung bessere Lösungen für ihre Probleme als die verbale oder körperliche Gewalt. Ein wichtiges Fazit dieser Erfahrungen: Lehrer sollten die emotionale Erziehung ihrer Schüler als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachten.