Unsere kreative Zukunft

Buch Unsere kreative Zukunft

Warum und wie wir unser Rechtshirnpotenzial entwickeln müssen

Riemann,


Rezension

Daniel H. Pink ruft das „Konzep­tion­szeital­ter“ aus: Die Zukunft gehört nicht dem an­a­lytis­chen Denken der Fak­ten­men­schen, Natur­wis­senschaftler, Fi­nan­z­an­a­lysten und Pro­gram­mierer. Vielmehr werden es künftig die gestal­ter­ischen Fähigkeiten der rechten Gehirnhälfte sein, die zum Erfolg führen. Die zweifellos notwendigen, aber nicht hin­re­ichen­den Funktionen der linken Gehirnhälfte werden in der rechten sozusagen gemanagt. Ökonomisch betrachtet, lassen sich die Tätigkeiten der Linksdenker sogar weitgehend auslagern: nach Indien und China und ins Internet. Der Autor führt zahlreiche Beispiele für den Recht­shirn­trend an, die allerdings vorwiegend aus ju­ris­tis­chen und medi­zinis­chen Berufen stammen; das wirkt auf die Dauer etwas ermüdend. Entschei­dend ist, dass Pink eine eigentliche Ge­brauch­san­weisung für das Training der Rechtshirnhälfte und ausführliche Tipps liefert. Ein flotter Einstieg ins Thema für angehende Recht­shirn­jog­ger, meint BooksInShort.

Take-aways

  • Die linke und die rechte Hirnhälfte nehmen un­ter­schiedliche Aufgaben wahr: Die linke arbeitet eher an­a­lytisch-se­quen­ziell, die rechte syn­thetisch-in­tu­itiv.
  • Viele linkshirn­lastige Arbeiten können heute in Indien oder China günstig eingekauft werden.
  • In den hoch en­twick­el­ten Industrieländern wird auf das In­for­ma­tion­szeital­ter das Konzep­tion­szeital­ter folgen.
  • Nach den Fab­rikar­beit­ern und den Wis­sensar­beit­ern treten die recht­shirn­do­minierten Kreativen in den Vordergrund.
  • Pro­duk­t­gestal­tung und Wohlfühlambiente werden entschei­dende Wet­tbe­werb­s­fak­toren.
  • Berufe, in denen konzep­tionelles Denken und Einfühlungsvermögen gefragt sind, haben Zukunft.
  • In Kom­mu­nika­tion, Werbung, Un­ternehmensführung, Medizin und anderen Bereichen wird zunehmend auf erzählerische Strategien gesetzt.
  • Fördern Sie Ihr „sym­phonis­ches“ Denken, indem Sie z. B. Zeitschriften lesen, die Sie noch nie angeschaut haben, oder im Internet von Link zu Link hüpfen.
  • Sich in andere hineinzu­ver­set­zen, wird zur entschei­den­den Führungsfähigkeit.
  • Lachen ist gesund und fördert die Produktivität.
 

Zusammenfassung

Die linke und die rechte Gehirnhälfte

Erken­nt­nisse der Hirn­forschung zeigen, dass die beiden Hemisphären im Gehirn keineswegs symmetrisch sind. Das wurde vor allem durch Gehirnscans ermittelt, die messen können, bei welchen Reizen eher die linke bzw. die rechte Sphäre aktiviert wird. Das Ergebnis in Kurzform: Die linke Hirnhälfte arbeitet eher sequenziell und analytisch. Hier haben Fähigkeiten wie Sprechen, Lesen und Schreiben ihren Ursprung, also alles, was der Reihe nach abläuft. Der rationale Verstand hat hier sein Zentrum.

„Im vorigen Jahrhundert haben Maschinen bewiesen, dass sie den Rücken des Menschen ersetzen können. In diesem beweisen neue Tech­nolo­gien, dass sie das Linkshirn des Homo sapiens zu sub­sti­tu­ieren vermögen.“

Anders die rechte Hirnhälfte: Sie funk­tion­iert eher simultan und intuitiv. Sie kann komplexe Bilder wie beispiel­sweise Gesichtsmimik blitzschnell erkennen und deuten. Gerade anhand der Mimik wurde nachgewiesen, dass es intuitive Grundfähigkeiten gibt, die alle Menschen gemein haben. Das Rechtshirn erkennt das Ganze und kann Be­deu­tungszusam­menhänge in­ter­pretieren. Der Satz „José hat ein Herz, das ist so groß wie Montana“ wäre für das Linkshirn eine rein quan­ti­ta­tive und wörtlich genommen eine unsinnige Aussage. Das Rechtshirn ist in der Lage, die übertragene Bedeutung zu erkennen. Es kann disparate Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen.

„Die linke Seite arbeitet überwiegend linear, logisch und analytisch, die rechte vornehmlich nichtlinear, intuitiv und holistisch.“

Natürlich sind beide Gehirnhälften notwendig und müssen sich ergänzen. Menschen, die durch Krankheit oder Unfall einseitige Gehirnschäden haben, sind in ihren Fähigkeiten eingeschränkt. Linkshirn­lastige Autisten sind beispiel­sweise oft zu er­staunlichen Rechen­leis­tun­gen fähig, ihnen fehlt aber die empathische Hinwendung zu anderen Menschen. Aphasiker hingegen, bei denen die linke Hemisphäre verletzt ist, entwickeln überdurch­schnit­tliches Einfühlungsvermögen und erkennen z. B. mit erhöhter Tr­e­ff­sicher­heit, wenn jemand lügt.

Das Konzep­tion­szeital­ter

Die jüngere Geschichte, geprägt von einem enormen Aufschwung der Natur­wis­senschaften und der Industrie, war linkshirn­do­miniert. Den mithilfe rationaler Analyse gemachten Ent­deck­un­gen und En­twick­lun­gen in Medizin und Wis­senschaft verdankt die Menschheit einen unglaublichen Fortschritt. Auf die Massen von Fab­rikar­beit­ern folgten die Wis­sensar­beiter; das war das so genannte In­for­ma­tion­szeital­ter. Nun aber schlägt die Stunde der Kreativen, der Gestalter.

„Das schiere Überleben hängt heute davon ab, dass Sie etwas können, was asiatische Wis­sensar­beiter nicht billiger und leis­tungsstarke Computer nicht schneller erledigen können.“

In einer Zeit des materiellen Überflusses, der in­dus­triellen Au­toma­tisierung und der billigen Arbeitskräfte in Indien und China werden rein analytische Aufgaben zunehmend ausgelagert. Pro­gram­mierer in Asien schreiben Software zu einem Bruchteil des Lohns in den Industrieländern. Indische Spezial­is­ten analysieren Röntgenscans viel preiswerter als amerikanis­che und schicken die Ergebnisse postwendend per Internet zurück. Im Internet sucht man auch nach Ba­sis­in­for­ma­tio­nen, nach Daten und Diagnosen oder Lösungen zu alltäglichen medi­zinis­chen Problemen. Der Gang zum Arzt erübrigt sich oft. Ähnliches gilt in vielen anderen Bereichen. Die hoch en­twick­el­ten Industrieländer müssen sich daher in Zukunft auf Aktivitäten und Aufgaben konzen­tri­eren, die ihren Schwerpunkt in der Rechtshirnhälfte haben. Sie müssen das Konzep­tion­szeital­ter einläuten.

High-Con­cept und High-Touch

Wenn Sie die Fragen „Kann die Aufgabe im Ausland billiger erledigt werden?“ und „Kann es ein Computer schneller?“ bejahen müssen, sollten Sie sich in Zukunft eine Tätigkeit oder ein un­ternehmerisches Umfeld suchen, das nicht so leicht we­gra­tional­isiert werden kann. Was gefragt sein wird, sind so genannte High-Con­cept- und High-Touch-Fähigkeiten:

  • High-Con­cept-Fähigkeiten kommen in Kunst, Kom­mu­nika­tion, Werbung, Grafikde­sign oder En­ter­tain­ment zur Anwendung – alles Bereiche, deren wirtschaftliche Bedeutung zunehmen wird. Es geht darum, Muster zu erkennen, Zusam­men­hangloses zu kombinieren, Neues zu schaffen.
  • High-Touch-Fähigkeiten braucht es für Arbeiten, bei denen Einfühlungsvermögen gefragt ist, also etwa in Pflege­berufen, bei ju­ris­tis­chen Aufgaben vor Gericht oder bei Führungsauf­gaben in Unternehmen. Im Konzep­tion­szeital­ter werden wir neu denken müssen und unsere Rechtshirnfähigkeiten besser entwickeln. In den folgenden sechs Bereichen liegt viel Potenzial brach:

1. Gestalten

Jedes von Menschen hergestellte Artefakt ist designt, von der Kaffeetasse übers Auto bis zur Typografie eines Buches. Dem Design geht ein an­a­lytis­cher Prozess voraus: Was soll ein Tisch tragen, welche Funktion soll er erfüllen? Auf was muss ich achten, wenn ich meinen Tagesablauf plane („designe“)? Alle Konsumgüter werden heutzutage im Überfluss angeboten. Alle erfüllen prinzipiell die gleichen funk­tionalen An­forderun­gen.

„Designen ist etwas, was jeder jeden Tag tut.“

Von auss­chlaggeben­der Bedeutung im Wettbewerb ist daher die Pro­duk­t­gestal­tung. Vom Au­to­her­steller bis zum Kaffeeröster verkaufen alle Ware­nan­bi­eter ein bestimmtes Lebens- und Qualitätsgefühl. Das gilt zunehmend auch für Di­en­stleis­ter – bis hin in die angenehm gestaltete Arztpraxis, die dem Patienten ein Wohlgefühl vermitteln soll. Schulen Sie Ihre ästhetische Sensibilität durch die Lektüre von De­sign-Mag­a­zi­nen, den Besuch von Museen oder einfach dadurch, dass Sie bewusst wahrnehmen, warum Sie sich an bestimmten Orten besonders wohlfühlen. Fo­tografieren Sie Objekte, die Ihnen besonders gut gefallen, oder skizzieren Sie Verbesserungsvorschläge für missratene Gegenstände.

2. Erzählen

In­for­ma­tio­nen, die in einen erzählerischen Kontext eingebunden sind, kann man sich leichter merken, und sie sind viel wirkungsvoller kom­mu­nizier­bar als eine reine Aufzählung von Fakten. Durch die Erzählung wird ein Kontext hergestellt, der reich an Emotionen ist. Der Erzählzusam­men­hang macht die Information konkret und erlebbar. Die Werbung verpackt ihre Botschaften längst in Geschichten. Selbst Großkonzerne unterstützen inzwischen narrative Techniken zur Weitergabe von In­for­ma­tio­nen, weil sich das als effizient erwiesen hat. In den USA wird an vielen Hochschulen „narrative Medizin“ gelehrt als wichtige Ergänzung zu rein di­ag­nos­tis­chen Vorge­hensweisen.

„Design ist eine High-Con­cept-Fähigkeit, die sich schwer outsourcen und au­toma­tisieren lässt – und die im Geschäftsleben zunehmend einen Wet­tbe­werb­svorteil verschafft.“

Versuchen Sie selbst, kleine Geschichten zu schreiben, und lassen Sie Freunde oder Verwandte wichtige Episoden aus deren Leben erzählen. Ergänzen Sie – auch als Gesellschaftsspiel – die An­fangszeilen von Geschichten oder lassen Sie sich von Bildern zu Geschichten anregen. Vor allem aber: Lesen Sie viel.

3. Symphonisch denken

Das Zeichnen von Skizzen und das Dirigieren eines Orchesters sind an­schauliche Beispiele dafür, wie man aus einzelnen Teilen ein größeres Ganzes zusam­mensetzt, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Beim Anfertigen einer Zeichnung werden nicht einfach visuelle Wahrnehmungen eins zu eins umgesetzt, sondern auch erinnerte Wahrnehmungen und Symbole mitver­ar­beitet. Durch solche Synthesen entsteht immer etwas Neues, es werden Grenzen überschrit­ten. Grenzüberschre­itung ist ein wesentlicher Bestandteil kreativer Prozesse und spielt bei vielen Erfindungen eine Rolle. Erfinder übertragen oft eine Erfahrung aus einem Bereich in einen anderen: Die Beobachtung von Kletten an einem Hundefell führte zum Klettver­schluss. Sym­phonis­ches Denken kommt überall dort vor, wo eine Vorstellung oder eine Vision entsteht oder Einzelteile zu etwas Neuem kombiniert werden. Das ist bei un­ternehmerischem Denken der Fall, beim Verstehen und Verknüpfen von Beziehungen oder z. B. bei der in­te­gra­tiven Medizin, die das gesamte Lebensbild eines Menschen in Diagnose und Therapie mit einbezieht.

„Aufgaben, die sich auf Regeln reduzieren lassen – welche in ein paar Zeilen Soft­ware­code eingebettet sind oder von einem asiatischen Bil­li­gar­beiter geleistet werden können –, erfordern relativ wenig Empathie.“

Sym­phonis­ches Denken können Sie durch das Anhören klassischer Musik schulen, aber auch indem sie an einem Zeitungskiosk eine Handvoll Zeitschriften her­aus­picken und dur­char­beiten, die Ihnen noch nie aufgefallen sind. Brain­storm­ing oder im Internet surfen und damit Zusammenhänge verfolgen sind ebenfalls sym­phonis­che Übungen.

4. Mitfühlen

Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen Menschen hineinzu­ver­set­zen. Wir können Mimik deuten und eine Vielzahl von Formen nonverbaler Kom­mu­nika­tion verstehen – Fähigkeiten, die kein Su­per­com­puter haben kann. Trost spenden zu können, ist ein typisches Beispiel für Empathie, ja unsere gesamte Ethik beruht auf Einfühlungsvermögen. Er­fol­gre­iche Juristen, Ärzte und natürlich Schaus­pieler sind große Empathiker. Umstritten ist, ob diese Qualität, neuerdings auch „emotionale Intelligenz“ genannt, eher Frauensache ist oder doch nicht. Sich in andere hineinzu­ver­set­zen, wird mehr und mehr zu einer entschei­den­den Führungsfähigkeit.

„Menschen sind selten erfolgreich mit etwas, was ihnen keinen Spaß macht.“

Machen Sie sich Notizen zu Dingen oder Äußerungen, die Ihnen an anderen auffallen. Studieren Sie Gesicht­sausdrücke. Nehmen Sie Schaus­pielun­ter­richt. Ermuntern Sie Ihre Mitarbeiter, aus Ihrem Beruf­sall­tag zu erzählen. Ärzte fördern ihre Empathie erfolgreich, indem sie in Rol­len­spie­len den Part des Patienten übernehmen.

5. Spielen

Der Begriff des Homo ludens, des spielenden Menschen, als Ergänzung zum Homo sapiens, dem ver­nun­ft­be­gabten Menschen, drückt aus, wie wichtig das Spielerische für den kreativen Prozess ist. Dazu gehören das eigentliche Spielen, aber auch Humor und einfaches Lachen. Inzwischen gibt es schon Lachklubs auf der ganzen Welt. Lachen ist gesund – das ist weit mehr als eine Redensart. Ansteck­endes Lachen verbindet die Menschen und Humor rückt eine Situation in einen anderen Kontext. Arbeiten, die keinen Spaß machen, können nicht wirklich gedeihen.

„Lachen ist eine soziale Aktivität – und vieles deutet darauf hin, dass Menschen, die regelmäßige, be­friedi­gende Kontakte mit anderen Menschen haben, gesünder und glücklicher sind.“

Sie brauchen nicht unbedingt gleich einem Lachklub beizutreten. Ein witziges Spiel ist es, sich Textzeilen zu Cartoons auszudenken. Spielen Sie Videospiele. Sie trainieren damit viele recht­shirn­lastige, sym­phonis­che Fähigkeiten wie Trends erkennen, Verknüpfungen herstellen, das Gesamtbild sehen.

6. Ganzheitlich erleben

Alle diese Faktoren kulminieren im Sin­ner­leb­nis. Die Au­toma­tisierung hat uns in den en­twick­el­ten Ländern von der Schw­er­star­beit befreit, wir leiden keine echte materielle Not und leben in einer Überflussge­sellschaft. Der Überfluss beantwortet aber nicht die Frage: „Wofür?“ Er fordert zur Weit­er­en­twick­lung der Recht­shirn­poten­ziale heraus. Spiritualität und Glückserleben sind ihrem Wesen nach ganzheitliche und intuitive Erfahrungen. Sie bewusst anzustreben ist ein wichtiges Element des Konzep­tion­szeital­ters. Be­friedi­gende Arbeit, Freude am Flow-Zu­s­tand bei jeder Art von Tätigkeit – Freizeit oder Beruf –, intakte emotionale und soziale Beziehungen und Netzwerke sind entschei­dend.

„Vom Kampf ums Überleben befreit, genießen wir den Luxus, einen größeren Teil unseres Lebens der Frage nach dem Sinn widmen zu können.“

Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, ist etwas vom Sin­nvoll­sten, Positivsten, was Sie tun können. Ver­wirk­lichen Sie Ihre guten Vorsätze und verbringen Sie mehr Zeit mit der Familie, mit Sport und Lesen. Nehmen Sie sich eine Auszeit, einen wirklichen Feiertag ohne Handy und Hetzerei. Betrachten Sie Ihr Leben, als ob Sie bereits 90 Jahre alt wären, und ändern Sie, was Ihnen nicht gefällt – jetzt!

Über den Autor

Daniel H. Pink arbeitete als Referent der amerikanis­chen Regierung, u. a. als Re­den­schreiber für den amerikanis­chen Vizepräsidenten Al Gore. Er schreibt für die New York Times und die Harvard Business Review über Business, Technik und moderne Ar­beitswel­ten.