Die linke und die rechte Gehirnhälfte
Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen, dass die beiden Hemisphären im Gehirn keineswegs symmetrisch sind. Das wurde vor allem durch Gehirnscans ermittelt, die messen können, bei welchen Reizen eher die linke bzw. die rechte Sphäre aktiviert wird. Das Ergebnis in Kurzform: Die linke Hirnhälfte arbeitet eher sequenziell und analytisch. Hier haben Fähigkeiten wie Sprechen, Lesen und Schreiben ihren Ursprung, also alles, was der Reihe nach abläuft. Der rationale Verstand hat hier sein Zentrum.
„Im vorigen Jahrhundert haben Maschinen bewiesen, dass sie den Rücken des Menschen ersetzen können. In diesem beweisen neue Technologien, dass sie das Linkshirn des Homo sapiens zu substituieren vermögen.“
Anders die rechte Hirnhälfte: Sie funktioniert eher simultan und intuitiv. Sie kann komplexe Bilder wie beispielsweise Gesichtsmimik blitzschnell erkennen und deuten. Gerade anhand der Mimik wurde nachgewiesen, dass es intuitive Grundfähigkeiten gibt, die alle Menschen gemein haben. Das Rechtshirn erkennt das Ganze und kann Bedeutungszusammenhänge interpretieren. Der Satz „José hat ein Herz, das ist so groß wie Montana“ wäre für das Linkshirn eine rein quantitative und wörtlich genommen eine unsinnige Aussage. Das Rechtshirn ist in der Lage, die übertragene Bedeutung zu erkennen. Es kann disparate Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen.
„Die linke Seite arbeitet überwiegend linear, logisch und analytisch, die rechte vornehmlich nichtlinear, intuitiv und holistisch.“
Natürlich sind beide Gehirnhälften notwendig und müssen sich ergänzen. Menschen, die durch Krankheit oder Unfall einseitige Gehirnschäden haben, sind in ihren Fähigkeiten eingeschränkt. Linkshirnlastige Autisten sind beispielsweise oft zu erstaunlichen Rechenleistungen fähig, ihnen fehlt aber die empathische Hinwendung zu anderen Menschen. Aphasiker hingegen, bei denen die linke Hemisphäre verletzt ist, entwickeln überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen und erkennen z. B. mit erhöhter Treffsicherheit, wenn jemand lügt.
Das Konzeptionszeitalter
Die jüngere Geschichte, geprägt von einem enormen Aufschwung der Naturwissenschaften und der Industrie, war linkshirndominiert. Den mithilfe rationaler Analyse gemachten Entdeckungen und Entwicklungen in Medizin und Wissenschaft verdankt die Menschheit einen unglaublichen Fortschritt. Auf die Massen von Fabrikarbeitern folgten die Wissensarbeiter; das war das so genannte Informationszeitalter. Nun aber schlägt die Stunde der Kreativen, der Gestalter.
„Das schiere Überleben hängt heute davon ab, dass Sie etwas können, was asiatische Wissensarbeiter nicht billiger und leistungsstarke Computer nicht schneller erledigen können.“
In einer Zeit des materiellen Überflusses, der industriellen Automatisierung und der billigen Arbeitskräfte in Indien und China werden rein analytische Aufgaben zunehmend ausgelagert. Programmierer in Asien schreiben Software zu einem Bruchteil des Lohns in den Industrieländern. Indische Spezialisten analysieren Röntgenscans viel preiswerter als amerikanische und schicken die Ergebnisse postwendend per Internet zurück. Im Internet sucht man auch nach Basisinformationen, nach Daten und Diagnosen oder Lösungen zu alltäglichen medizinischen Problemen. Der Gang zum Arzt erübrigt sich oft. Ähnliches gilt in vielen anderen Bereichen. Die hoch entwickelten Industrieländer müssen sich daher in Zukunft auf Aktivitäten und Aufgaben konzentrieren, die ihren Schwerpunkt in der Rechtshirnhälfte haben. Sie müssen das Konzeptionszeitalter einläuten.
High-Concept und High-Touch
Wenn Sie die Fragen „Kann die Aufgabe im Ausland billiger erledigt werden?“ und „Kann es ein Computer schneller?“ bejahen müssen, sollten Sie sich in Zukunft eine Tätigkeit oder ein unternehmerisches Umfeld suchen, das nicht so leicht wegrationalisiert werden kann. Was gefragt sein wird, sind so genannte High-Concept- und High-Touch-Fähigkeiten:
- High-Concept-Fähigkeiten kommen in Kunst, Kommunikation, Werbung, Grafikdesign oder Entertainment zur Anwendung – alles Bereiche, deren wirtschaftliche Bedeutung zunehmen wird. Es geht darum, Muster zu erkennen, Zusammenhangloses zu kombinieren, Neues zu schaffen.
- High-Touch-Fähigkeiten braucht es für Arbeiten, bei denen Einfühlungsvermögen gefragt ist, also etwa in Pflegeberufen, bei juristischen Aufgaben vor Gericht oder bei Führungsaufgaben in Unternehmen. Im Konzeptionszeitalter werden wir neu denken müssen und unsere Rechtshirnfähigkeiten besser entwickeln. In den folgenden sechs Bereichen liegt viel Potenzial brach:
1. Gestalten
Jedes von Menschen hergestellte Artefakt ist designt, von der Kaffeetasse übers Auto bis zur Typografie eines Buches. Dem Design geht ein analytischer Prozess voraus: Was soll ein Tisch tragen, welche Funktion soll er erfüllen? Auf was muss ich achten, wenn ich meinen Tagesablauf plane („designe“)? Alle Konsumgüter werden heutzutage im Überfluss angeboten. Alle erfüllen prinzipiell die gleichen funktionalen Anforderungen.
„Designen ist etwas, was jeder jeden Tag tut.“
Von ausschlaggebender Bedeutung im Wettbewerb ist daher die Produktgestaltung. Vom Autohersteller bis zum Kaffeeröster verkaufen alle Warenanbieter ein bestimmtes Lebens- und Qualitätsgefühl. Das gilt zunehmend auch für Dienstleister – bis hin in die angenehm gestaltete Arztpraxis, die dem Patienten ein Wohlgefühl vermitteln soll. Schulen Sie Ihre ästhetische Sensibilität durch die Lektüre von Design-Magazinen, den Besuch von Museen oder einfach dadurch, dass Sie bewusst wahrnehmen, warum Sie sich an bestimmten Orten besonders wohlfühlen. Fotografieren Sie Objekte, die Ihnen besonders gut gefallen, oder skizzieren Sie Verbesserungsvorschläge für missratene Gegenstände.
2. Erzählen
Informationen, die in einen erzählerischen Kontext eingebunden sind, kann man sich leichter merken, und sie sind viel wirkungsvoller kommunizierbar als eine reine Aufzählung von Fakten. Durch die Erzählung wird ein Kontext hergestellt, der reich an Emotionen ist. Der Erzählzusammenhang macht die Information konkret und erlebbar. Die Werbung verpackt ihre Botschaften längst in Geschichten. Selbst Großkonzerne unterstützen inzwischen narrative Techniken zur Weitergabe von Informationen, weil sich das als effizient erwiesen hat. In den USA wird an vielen Hochschulen „narrative Medizin“ gelehrt als wichtige Ergänzung zu rein diagnostischen Vorgehensweisen.
„Design ist eine High-Concept-Fähigkeit, die sich schwer outsourcen und automatisieren lässt – und die im Geschäftsleben zunehmend einen Wettbewerbsvorteil verschafft.“
Versuchen Sie selbst, kleine Geschichten zu schreiben, und lassen Sie Freunde oder Verwandte wichtige Episoden aus deren Leben erzählen. Ergänzen Sie – auch als Gesellschaftsspiel – die Anfangszeilen von Geschichten oder lassen Sie sich von Bildern zu Geschichten anregen. Vor allem aber: Lesen Sie viel.
3. Symphonisch denken
Das Zeichnen von Skizzen und das Dirigieren eines Orchesters sind anschauliche Beispiele dafür, wie man aus einzelnen Teilen ein größeres Ganzes zusammensetzt, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Beim Anfertigen einer Zeichnung werden nicht einfach visuelle Wahrnehmungen eins zu eins umgesetzt, sondern auch erinnerte Wahrnehmungen und Symbole mitverarbeitet. Durch solche Synthesen entsteht immer etwas Neues, es werden Grenzen überschritten. Grenzüberschreitung ist ein wesentlicher Bestandteil kreativer Prozesse und spielt bei vielen Erfindungen eine Rolle. Erfinder übertragen oft eine Erfahrung aus einem Bereich in einen anderen: Die Beobachtung von Kletten an einem Hundefell führte zum Klettverschluss. Symphonisches Denken kommt überall dort vor, wo eine Vorstellung oder eine Vision entsteht oder Einzelteile zu etwas Neuem kombiniert werden. Das ist bei unternehmerischem Denken der Fall, beim Verstehen und Verknüpfen von Beziehungen oder z. B. bei der integrativen Medizin, die das gesamte Lebensbild eines Menschen in Diagnose und Therapie mit einbezieht.
„Aufgaben, die sich auf Regeln reduzieren lassen – welche in ein paar Zeilen Softwarecode eingebettet sind oder von einem asiatischen Billigarbeiter geleistet werden können –, erfordern relativ wenig Empathie.“
Symphonisches Denken können Sie durch das Anhören klassischer Musik schulen, aber auch indem sie an einem Zeitungskiosk eine Handvoll Zeitschriften herauspicken und durcharbeiten, die Ihnen noch nie aufgefallen sind. Brainstorming oder im Internet surfen und damit Zusammenhänge verfolgen sind ebenfalls symphonische Übungen.
4. Mitfühlen
Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen Menschen hineinzuversetzen. Wir können Mimik deuten und eine Vielzahl von Formen nonverbaler Kommunikation verstehen – Fähigkeiten, die kein Supercomputer haben kann. Trost spenden zu können, ist ein typisches Beispiel für Empathie, ja unsere gesamte Ethik beruht auf Einfühlungsvermögen. Erfolgreiche Juristen, Ärzte und natürlich Schauspieler sind große Empathiker. Umstritten ist, ob diese Qualität, neuerdings auch „emotionale Intelligenz“ genannt, eher Frauensache ist oder doch nicht. Sich in andere hineinzuversetzen, wird mehr und mehr zu einer entscheidenden Führungsfähigkeit.
„Menschen sind selten erfolgreich mit etwas, was ihnen keinen Spaß macht.“
Machen Sie sich Notizen zu Dingen oder Äußerungen, die Ihnen an anderen auffallen. Studieren Sie Gesichtsausdrücke. Nehmen Sie Schauspielunterricht. Ermuntern Sie Ihre Mitarbeiter, aus Ihrem Berufsalltag zu erzählen. Ärzte fördern ihre Empathie erfolgreich, indem sie in Rollenspielen den Part des Patienten übernehmen.
5. Spielen
Der Begriff des Homo ludens, des spielenden Menschen, als Ergänzung zum Homo sapiens, dem vernunftbegabten Menschen, drückt aus, wie wichtig das Spielerische für den kreativen Prozess ist. Dazu gehören das eigentliche Spielen, aber auch Humor und einfaches Lachen. Inzwischen gibt es schon Lachklubs auf der ganzen Welt. Lachen ist gesund – das ist weit mehr als eine Redensart. Ansteckendes Lachen verbindet die Menschen und Humor rückt eine Situation in einen anderen Kontext. Arbeiten, die keinen Spaß machen, können nicht wirklich gedeihen.
„Lachen ist eine soziale Aktivität – und vieles deutet darauf hin, dass Menschen, die regelmäßige, befriedigende Kontakte mit anderen Menschen haben, gesünder und glücklicher sind.“
Sie brauchen nicht unbedingt gleich einem Lachklub beizutreten. Ein witziges Spiel ist es, sich Textzeilen zu Cartoons auszudenken. Spielen Sie Videospiele. Sie trainieren damit viele rechtshirnlastige, symphonische Fähigkeiten wie Trends erkennen, Verknüpfungen herstellen, das Gesamtbild sehen.
6. Ganzheitlich erleben
Alle diese Faktoren kulminieren im Sinnerlebnis. Die Automatisierung hat uns in den entwickelten Ländern von der Schwerstarbeit befreit, wir leiden keine echte materielle Not und leben in einer Überflussgesellschaft. Der Überfluss beantwortet aber nicht die Frage: „Wofür?“ Er fordert zur Weiterentwicklung der Rechtshirnpotenziale heraus. Spiritualität und Glückserleben sind ihrem Wesen nach ganzheitliche und intuitive Erfahrungen. Sie bewusst anzustreben ist ein wichtiges Element des Konzeptionszeitalters. Befriedigende Arbeit, Freude am Flow-Zustand bei jeder Art von Tätigkeit – Freizeit oder Beruf –, intakte emotionale und soziale Beziehungen und Netzwerke sind entscheidend.
„Vom Kampf ums Überleben befreit, genießen wir den Luxus, einen größeren Teil unseres Lebens der Frage nach dem Sinn widmen zu können.“
Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, ist etwas vom Sinnvollsten, Positivsten, was Sie tun können. Verwirklichen Sie Ihre guten Vorsätze und verbringen Sie mehr Zeit mit der Familie, mit Sport und Lesen. Nehmen Sie sich eine Auszeit, einen wirklichen Feiertag ohne Handy und Hetzerei. Betrachten Sie Ihr Leben, als ob Sie bereits 90 Jahre alt wären, und ändern Sie, was Ihnen nicht gefällt – jetzt!