Der symbolische Tausch und der Tod

Buch Der symbolische Tausch und der Tod

Paris, 1976
Diese Ausgabe: Matthes & Seitz Berlin,


Worum es geht

Schöne neue virtuelle Welt

Wir leben im Zeitalter der Simulation, sagt Jean Baudrillard. Zeichen und Werte sind beliebig, Arbeit dient nicht mehr der Produktion, der Tod wird aus dem Leben verdrängt. Und während sich Schein und Wirk­lichkeit früher noch au­seinan­der­hal­ten ließen, ist das Reale heute in der medial erzeugten Hyperrealität aufgegangen. Baudrillard war ein radikaler Denker: Die Lei­den­schaft, mit der er unsere In­for­ma­tions- und Medienwelt kritisiert, und seine Vorliebe für Ironie und Paradoxes mögen den Leser manchmal verun­sich­ern. Stets schwankt er zwischen Nostalgie und Nihilismus, Sci­ence-Fic­tion und sachlicher Analyse. Kritiker warfen ihm vor, „eleganten Unsinn“ zu verzapfen. Tatsächlich hat man hin und wieder Mühe, den sprung­haften Gedanken des lei­den­schaftlichen Kul­turkri­tik­ers zu folgen. Und doch muss man dem provokanten Buch, das 1976 erschien, eine visionäre Kraft bescheini­gen. Die globalen Ströme des Fi­nanzkap­i­tals, die Macht der elek­tro­n­is­chen Medien, die All­ge­gen­wart des Internets, die Entstehung virtueller Welten – all das hat Baudrillard hellsichtig vor­weggenom­men.

Take-aways

  • Der symbolische Tausch und der Tod zählt zu den bekan­ntesten Werken des französischen Soziologen und Philosophen Jean Baudrillard.
  • Inhalt: Wir leben im Zeitalter der Simulation, in dem Zeichen und Beze­ich­netes in keinem inneren Zusam­men­hang mehr zueinan­der­ste­hen. Die elek­tro­n­is­chen Medien erzeugen eine Hyperrealität, die den Bezug zur Wirk­lichkeit längst verloren hat – ähnlich wie sich in der Ökonomie das Geld von der Produktion abgelöst hat. Damit geht einher, dass die moderne Gesellschaft den Tod aus dem Leben verdrängt hat. Ihr stehen die un­ver­dor­be­nen primitiven Kulturen mit ihren umfassenden Tauschsys­te­men gegenüber.
  • Der symbolische Tausch und der Tod ist eine Sammlung lose miteinander verbundener Essays.
  • The­ma­tisiert wird der Umgang unserer Gesellschaft mit Arbeit und Geld, Freizeit und Tod.
  • Obwohl es um alltägliche Phänomene geht, ist die umfassende Kul­turkri­tik sehr abstrakt.
  • Baudrillard wird den Post­struk­tu­ral­is­ten zugeordnet, die die Meinung vertraten, dass Zeichen die Wirk­lichkeit festsetzen.
  • Das 1976 erschienene Buch nahm die Gegenwart des digitalen Medien- und In­for­ma­tion­szeital­ters vorweg.
  • Vor allem in angelsächsischen Ländern wurde es mit großer Begeis­terung aufgenommen.
  • Kritische Stimmen warfen Baudrillard fehlende Sach­lichkeit und Ir­ra­tionalität vor.
  • Zitat: „Das Reale ist tot, es lebe das re­al­is­tis­che Zeichen!“
 

Zusammenfassung

Das Ende der klassischen Ära des Zeichens

Im klassischen Denken besteht zwischen Zeichen und Realem eine enge, unlösbare Verbindung: Einem bestimmten Geldwert entspricht z. B. der Ge­brauch­swert einer Ware, einem bestimmten Ausdruck (Signifikant) entspricht das, was er bezeichnet (Signifikat). Diese Regel war zu Zeiten von Marx und de Saussure noch gültig. Doch damit ist es vorbei. Der Ge­brauch­swert der Ware hat sich vom Tauschwert gelöst, das Zeichen von seiner Bedeutung. Ob in der Welt der Arbeit, der Produktion oder der Sprache: Alles ist beliebig, wir leben in einem Zustand totaler Freiheit, in einem Zeitalter frei flot­tieren­der Zeichen und Währungen, die keine festen Bedeutungen haben. Alle Werte und An­tag­o­nis­men, auf denen unsere Zivil­i­sa­tion einst beruht hat, sind ausgelöscht: In der Mode sind Schönes und Hässliches aus­tauschbar geworden, in der Politik rechts und links, in den Medien Wahres und Falsches.

Das Zeitalter der Re­pro­duk­tion

In Zeiten des Mangels war Arbeit noch produktiv, doch heute hat das Produzieren keinen Sinn mehr. Arbeit dient jetzt dazu, Menschen im sozialen Netz zu verorten. Sie ist zu einem reinen Zeichen verkommen, wie Hautfarbe oder Geschlecht. Arbeit wird heute als Dienst verstanden und beinhaltet schlicht erzwungene Anwesenheit am Ar­beit­splatz. In der Freizeit bleibt das Prinzip das gleiche: Menschen werden zu fest­ste­hen­den Zeiten an fest­ste­hen­den Orten festgesetzt, ob in der Schule, in der Fabrik oder vor dem Fernseher. Arbeit – auch in Form von Ar­beit­slosigkeit – ist Teil der al­lum­fassenden gesellschaftlichen Kontrolle, der unser Leben von der Wiege bis zur Bahre ausgesetzt ist.

„Heute kippt das ganze System in die Unbes­timmtheit, jegliche Realität wird von der Hyperrealität des Codes und der Simulation aufgesogen.“ (S. 9)

Der Proletarier, einst ausgebeutet und diskri­m­iniert, ist durch den Pro­duk­tion­sagen­ten ersetzt worden, der aus­tauschbar und von der Arbeit entfremdet ist. Das Kapital produziert nicht mehr, sondern re­pro­duziert nur Arbeit als imaginären Wert – etwa in In­dus­trieparks und Großprojekten wie Raum­fahrt­pro­gram­men. Man arbeitet, um Arbeit zu produzieren. Man verkauft seine Ar­beit­skraft und damit sein Leben. Durch den Lohn wird dies auf symbolische Weise kompensiert. Im System erfüllt der Lohn den Zweck, Geld in Umlauf zu bringen und die Spirale von Produktion und Konsum aufrechtzuer­hal­ten. Er spiegelt keineswegs die tatsächliche Ar­beit­sleis­tung wider. Im Gegenteil: Je weniger jemand leistet, desto mehr Lohn darf er fordern. Die Gew­erkschaften haben kein politisches Ziel, die Arbeiter kämpfen nicht mehr gegen das Kapital. Denn die Produktion um der Produktion willen und die nutzlosen Großprojekte, die allein der Schaffung von Arbeitsplätzen dienen, liegen ja in ihrem eigenen Interesse. Wir leben in der Endphase der Ökonomie: Arbeit, Freizeit, Konsum – alles dient nur noch der Re­pro­duk­tion.

Imitation, Produktion, Simulation

Bis ins Mittelalter waren Zeichen noch nicht willkürlich. Jeder Stand, jede Kaste hatte seine eigenen Dis­tink­tion­sze­ichen, deren Nutzung durch andere strikt verboten war. Im Zuge der Renaissance und der Auflösung der feudalen Ordnung standen solche Zeichen auf einmal zur freien Verfügung. In der Mode, in der Architektur und im Theater wurden ehemals exklusive Zeichen imitiert und miteinander kombiniert. Masken, Stuck­verzierun­gen und dergleichen erzeugten eine Illusion. Das Spiel mit dem Schein hatte jedoch noch Bezug zum Realen, Natürlichen; die Täuschung war als solche erkennbar. Das änderte sich im in­dus­triellen Zeitalter: Nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Mode und in den Medien ging man zur seriellen Produktion von Zeichen über. Dass nun jeder Gegenstand re­pro­duziert werden konnte, kam einer Revolution gleich. Auf einmal konnte man zwei vollkommen identische Bücher haben. Mit der seriellen Re­pro­duzier­barkeit änderte sich auch der Charakter der Zeichen: Waren sie in der Renaissance und im Barock noch höchst komplex, wurden sie nun schwerfällig und stumpf.

„Die Ar­beit­skraft gründet sich auf den Tod. Ein Mensch muss sterben, um Ar­beit­skraft zu werden.“ (S. 83)

Im gegenwärtigen digitalen Zeitalter ist die in­dus­trielle Se­rien­pro­duk­tion durch Simulation ersetzt worden. Alle Zeichen entstehen aus binären Codes, sie haben ihre Aura, ihre Bedeutung und ihre Referenz verloren. Gott, Fortschritt, Geschichte, Revolution – all das existiert nicht mehr. Menschen sind auf genetische Codes reduziert, die Wis­senschaft presst die Realität in eine Logik aus Einsen und Nullen, in ein System von Frage und Antwort, und ordnet die Dinge so an, dass sie sich in ihr du­al­is­tis­ches Schema fügen. Der gesamte Alltag ist von digitalen Modellen durch­drun­gen. Ob Ge­brauchs­ge­genstände oder Modetrends, Fernsehnachrichten oder Wahlum­fra­gen – alles folgt einem simplen Frage-Antwort-Schema.

„Die Realität geht im Hy­per­re­al­is­mus unter, in der exakten Ver­dop­pelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen re­pro­duk­tiven Mediums – Werbung, Foto etc. – und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich.“ (S. 134)

Referenden oder Umfragen stellen keine wirklichen Befragungen dar, sondern bestimmen durch ihre Ein­seit­igkeit und die Reduktion auf das Muster von Richtig und Falsch die Antwort schon im Voraus. Umfragen sind eine fan­tastis­che Fiktion, ein imaginärer Spiegel der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung wird stets zweigeteilt und damit verdoppelt, denn damit ein System nicht einstürzt, sind zwei Mächte notwendig. Oft un­ter­schei­den diese sich aber nur in Kleinigkeiten. Ähnliches gilt für Wahlen: In den fort­geschrit­te­nen Demokratien haben wir nur scheinbar die Wahl zwischen zwei großen Parteien, denn die Diskurse sind aus­tauschbar, Opposition ist eine reine Simulation. Unser ganzes System lebt von Schein­ver­dopplung und künstlichen An­tag­o­nis­men. Ob es sich um Waschmit­tel­marken, politische Parteien oder die Weltmächte handelt: die binäre Matrix, das Prinzip der Verdopplung, der regulierten Opposition bildet den Kern unserer modernen Gesellschaft.

Die Welt der Hyperrealität

Materielle Güter, mediale Botschaften und Bilder drängen uns eine bestimmte Wahrnehmung der Welt auf. Das einst so komplexe Verhältnis zwischen Zeichen und Beze­ich­netem, zwischen Wahrem und Falschem, Imaginärem und Realem ist zerstört. Während früher Spiegel, Bilder und beispiel­sweise künstliche Vorhänge aus Stuck als Imitation einer realen Vorlage erkennbar waren, sind heute im Alltag wie in der Kunst Fiktion und Realität zu einem unlösbaren Ganzen ver­schmolzen. Die gesamte Wirk­lichkeit, mag sie noch so banal sein, wird überhöht und ästhetisiert. Das Hyperreale – vor allem in Form von Werbung, Fotos und Filmen – imitiert die Realität nicht; ebenso wenig verzerrt es sie, wie es die Sur­re­al­is­ten taten. Es erzeugt vielmehr eine neue, selbstständige Realität ohne Bezug zum Realen, eine exakte Verdopplung der Welt, wobei Original und Kopie, In­sze­nierung und Wirk­lichkeit, Signifikant und Signifikat nicht mehr voneinander zu un­ter­schei­den sind. Die Realität wird durch die Hyperrealität verdrängt.

„Auch die Mode ist niemals aktuell: Sie rekurriert auf tote, abgestor­bene Formen und deren Auf­be­wahrung als Zeichen in einem zeitlosen Raum.“ (S. 161)

Die Werbung an den Mauern unserer Städte etwa simuliert Wärme und Ansprache, ist tatsächlich aber nur kalte, in­halt­sleere Animation. Sie besteht aus funk­tionalen Zeichen ohne jeden sym­bol­is­chen oder ide­ol­o­gis­chen Gehalt. Sie kann gar nicht sinnvoll entschlüsselt werden, sondern ist sozusagen Selbstzweck. Die im urbanen Raum allgegenwärtigen Graffiti dagegen un­ter­wan­dern das System sinnloser Codes: Sie sind selbst Zeichen, die der normale Stadt­be­wohner nicht entschlüsseln kann, und sorgen so für Irritation.

„Die Moderne ist keine Umwertung aller Werte, sondern eine Aus­tauschbarkeit aller Werte, also ihre Kom­bi­na­torik und ihre Ambiguität.“ (S. 162)

Auch die Zeichen der Mode haben keine innere Bedeutung oder Botschaft mehr, sie sind beliebig kom­binier­bar, ohne his­torischen oder realen Bezug und können grenzenlos wiederver­w­ertet werden. Ob im Bereich der Kleidung, der Kunst oder der Wis­senschaft – in jeder Mode werden abgestor­bene Formen zyklisch zu neuem Leben erweckt, bevor sie wieder absterben. Die Kleidermode ist nur ein Beispiel von vielen für die Unmöglichkeit, diesem System zu entkommen. Man kann dem Diktat der Mode nicht entgehen. Selbst wer sich ihr verweigert, gehorcht der Logik ihres Codes.

Die Ökonomisierung von Leben und Tod

Die moderne Gesellschaft diskri­m­iniert den Tod. Das Sterben und die Toten werden radikal aus­geschlossen. Während Friedhöfe früher noch im Zentrum eines Dorfes waren, sind sie heute in der Peripherie. Die modernen Städte bieten den Toten weder physisch noch geistig Platz. Wenn allerdings etwas auf diese Weise aus­geschlossen wird, heißt das, dass die Gesellschaft die Funktion selbst übernommen hat: Wenn die Fabriken abgeschafft werden, dann nur, weil die Arbeit allgegenwärtig ist. Gefängnisse braucht es nicht mehr, wenn die Gesellschaft selbst eine Kon­trol­lanstalt ist. Dass die Friedhöfe ver­schwinden, zeigt, dass die modernen Metropolen Städte des Todes sind. Die Verdrängung und Ver­wis­senschaftlichung des Todes ist ein wesentliches Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert. Anders als in primitiven Gesellschaften mit ihren Festen und Riten findet bei uns kein sym­bol­is­cher Austausch zwischen Leben und Tod statt. Leben bedeutet Überleben, der lebende, gesunde Körper wird zum absoluten Wert, zum bi­ol­o­gis­chen Kapital erklärt. Zwischen Leben und Tod hat die bürgerliche Gesellschaft eine künstliche Trennlinie gezogen, die primitive Gesellschaften nicht kennen. Alte und Tote haben in diesem von ökonomischen Prinzipien geleiteten Weltbild keinen Platz, sie werden mar­gin­al­isiert und ghet­toisiert.

„Das Reale ist tot, es lebe das re­al­is­tis­che Zeichen!“ (S. 172)

Die archaischen Festriten primitiver Kulturen, in denen der Tod symbolisch gegen das Leben aus­ge­tauscht und beide so miteinander versöhnt werden, stehen modernen Gesellschaften nicht mehr zur Verfügung. Wo die Primitiven den Tod feiern, behandeln wir ihn mit Melancholie. Der reale Tod einer Person wie auch der eigene imaginierte Tod wird zum absurden physischen Schicksal und kann nur durch die in­di­vidu­elle Trauer­ar­beit bewältigt werden. Der biologische Tod ist in unserer Kultur endgültig und ir­re­versibel. In anderen Kulturen sind Tod und Leben Teil einer sym­bol­is­chen Ordnung und nicht voneinander zu trennen. Die Grenzen dazwischen sind fließend.

„Der Preis, den wir für die ‚Realität‘ des Lebens bezahlen, um es als positiven Wert zu leben, ist das kon­tinuier­liche Phantasma des Todes.“ (S. 239)

In unserer modernen Vorstellung ist der Körper eine biologische Maschine, die funk­tion­iert oder nicht funk­tion­iert, die entweder lebendig oder ab einem objektiv fest­stell­baren, wis­senschaftlich definierten Punkt tot ist. Der natürliche Alterstod ist in unseren Augen sinnlos und höchst banal. Der schick­sal­hafte Tod jüngerer Menschen durch einen Autounfall hingegen erscheint ähnlich wie der archaische Opfertod als ein symbolisch aufge­ladener Akt – und wird dadurch erst interessant. Einen noch höheren sym­bol­is­chen Wert besitzt der Tod durch Geiselnahme, wobei die Hinrichtung einem Ritual ähnelt.

Das staatliche System von Repression und Kontrolle

In tra­di­tionellen Gesellschaften waren Kriminelle, Kranke und Wahnsinnige noch fester Bestandteil der Ordnung. Ihre rituelle Hinrichtung oder Verspottung – mochte sie auch noch so grausam sein – hatte symbolische Funktion und festigte die Solidarität der Gemein­schaft. Die moderne Gesellschaft dagegen grenzt alle vom Normalen ab­we­ichen­den Menschen aus und verbannt sie in Gefängnisse und Anstalten. Im Zuge des angeblichen Fortschritts der Zivil­i­sa­tion werden sie therapiert und wieder in die Gesellschaft integriert. Re­sozial­i­sa­tion ist auf den ersten Blick zwar humaner, liberaler und toleranter als die Todesstrafe, aber auch sie beruht auf dem Prinzip der Ausrottung von Unnormalem und Krankem.

„Wir handeln mit unseren Toten in den Formen der Melancholie, die Primitiven leben mit den ihren unter den Vorzeichen des Rituellen und des Festes.“ (S. 243)

So wie uns die Moral vorschreibt, dass wir nicht töten sollen, so dürfen wir auch nicht vor der Zeit sterben. Lebenser­hal­tende Maßnahmen, Or­gantrans­plan­ta­tion und Sicher­heitsvorschriften im Straßenverkehr dienen der erzwungenen Verlängerung des Lebens und entziehen uns dem bi­ol­o­gis­chen Zufall des Todes. Der Tod unterliegt einem gesellschaftlichen Verdikt und dem staatlichen Monopol. Sterben darf man erst dann, wenn Medizin und Gesetz es zulassen. Der Selbstmord wurde verdammt und verboten. Damit wurde den Menschen die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper entzogen. Er allein aber bietet dem Individuum die Möglichkeit, aus der gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Kontrolle auszubrechen.

Das Tabu des Todes

Wie die Sexualität wird der Tod in unserer Gesellschaft ster­il­isiert, desin­fiziert und mit Design übertüncht. Hinter den Bemühungen der Bestat­tung­sun­ternehmen, Tote lebendig und frisch wirken zu lassen, steckt die Weigerung, dem Tod seine Bedeutung zukommen zu lassen. Statt Tote verwesen zu lassen und damit den Unterschied zu den Lebenden zu betonen, wird die Differenz kaschiert. Dem Tod wird in unserer Gesellschaft ein eigenständiger Platz verweigert. Während die Menschen des Mit­te­lal­ters in den Katakomben ihre Ver­stor­be­nen besuchten, ihnen ins Gesicht sahen und die Grausamkeit des Sterbens ertragen konnten, wird der Tod heute unter einer dicken Schminkschicht verborgen und sublimiert. Man stirbt nicht mehr im Kreis der Familie, sondern im Krankenhaus. Es gehört zum guten Ton, dem Sterbenden nicht zu sagen, dass er stirbt. Früher war Sex in der Öffentlichkeit verboten und der Tod öffentlich. In unserer sexuell befreiten Zeit ist es genau umgekehrt: Sex provoziert nicht mehr, der Tod dagegen erscheint obszön und pornografisch.

Zum Text

Aufbau und Stil

Jean Bau­drillards Der symbolische Tausch und der Tod gliedert sich in sechs Kapitel, die wiederum in kürzere Abschnitte unterteilt sind. Sie lassen sich auch als voneinander unabhängige Essays lesen. Das letzte Kapitel fällt aus dem Rahmen: Es widmet sich einem lin­guis­tis­chen Spezial­prob­lem. Das Werk ist sehr dicht geschrieben und von einem hohen Ab­strak­tion­s­grad. Obgleich es sich thematisch stets um alltägliche Phänomene dreht, werden an­schauliche Beispiele eher sparsam eingesetzt. Die Lektüre wird dadurch erschwert, dass Baudrillard oftmals Dinge behauptet, ohne sie zu begründen. Das Apodik­tis­che macht den Reiz, aber auch die Provokation des Texts aus. Selb­st­be­wusst trägt er seine extremen Thesen in einem Tonfall vor, der keinen Widerspruch duldet. Dabei liebt er die Übertreibung und das Paradoxe, ist mal zynisch, mal ironisch, was zur Verun­sicherung des Lesers beiträgt. Sätze wie „Ein Mensch muss sterben, um Ar­beit­skraft zu werden“ oder „Die Arbeit ist überall, weil es keine Arbeit mehr gibt“ sind typisch, und man fragt sich ständig: Meint der Autor ernst, was er behauptet, oder will er nur provozieren? Ist das jetzt Wis­senschaft oder Sci­ence-Fic­tion? Beiläufig nimmt er Bezug auf fremde Theorien, etwa von Freud oder Marx, und setzt voraus, dass der Leser sie kennt.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Baudrillard liefert eine pes­simistis­che Zeit­di­ag­nose: Die Auflösung tra­di­tioneller Formen von Realität und Kunst ist unumkehrbar; Rebellion oder Revolution haben nach dem Ende der Moderne ihren Sinn verloren. Die einzige Hoffnung liegt darin, dass die Tendenzen des Systems sich weiter steigern und es schließlich implodiert.
  • Baudrillard legt den Grundstein für die These vom Ende der Geschichte. Ihr zufolge ist der Höhepunkt unserer Zivil­i­sa­tion überschrit­ten, von nun an wird nichts mehr passieren. Politische Ereignisse finden nur noch auf dem Bildschirm statt, als Simulation der allmächtigen Medien.
  • Zwar betrauert Baudrillard den Untergang des Realen, der Ökonomie und der Politik, zugleich aber zeichnet er die Welt der Zukunft ohne moralische Wertung. Dieses Schwanken zwischen Nihilismus und Nostalgie ist bezeichnend für die Grund­stim­mung des Werks.
  • Die Idee vom sym­bol­is­chen Tausch geht auf Georges Bataille zurück. Der französische Schrift­steller behauptete, nicht kap­i­tal­is­tis­che Prinzipien von Produktion und Nutzenabwägung, sondern Exzess und Ve­r­aus­gabung, Opfer und Ver­schwen­dung seien wesentlich für die menschliche Natur.
  • Beeinflusst vom Ethnologen Marcel Mauss und seiner Theorie der Gabe geht Baudrillard davon aus, dass in vormodernen Gesellschaften das Prinzip des Tausches, des frei­willi­gen Gebens und Nehmens herrschte, im Gegensatz zur modernen Welt mit ihren Gesetzen von Produktion und Akku­mu­la­tion.
  • In der Tradition französischer Denker wie Rousseau, Durkheim und Lévi-Strauss idealisiert Baudrillard so genannte primitive Kulturen und ihr von moderner Rationalität unberührtes Denken.
  • Mit seinem (damals noch übertriebe­nen) Bild einer vollkommen tech­nisierten, virtuellen Scheinwelt nahm Baudrillard auf geradezu genialische Weise die Realität des digitalen Medien- und In­for­ma­tion­szeital­ters samt dem omnipräsenten Internet vorweg.

His­torischer Hintergrund

Post­struk­tu­ral­is­mus und Me­di­enkri­tik

In den 1960er Jahren wandten sich französische Wis­senschaftler un­ter­schiedlicher Disziplinen gegen die bis dahin be­herrschende Methode des Struk­tu­ral­is­mus, der u. a. von Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss geprägt wurde. Gemeinsam war den später unter dem Schlagwort des Post­struk­tu­ral­is­mus zusam­menge­fassten Denkansätzen die Semi­o­tisierung der Welt: Bei allen Un­ter­schieden im Detail teilten Wis­senschaftler wie Jean-François Lyotard, Michel Foucault und Jacques Derrida die Vorstellung, die Wirk­lichkeit reduziere sich auf Zeichen und Ze­ichen­sys­teme. Ursprünglich in der Sprach­wis­senschaft zu Hause, entwickelte sich der post­struk­tu­ral­is­tis­che Ansatz schon bald zu einer umfassenden Kul­tur­the­o­rie, wonach die ganze Welt ein zu entschlüsselnder Text sei. Eine Wirk­lichkeit außerhalb von Zeichen und Sprache existierte nach dieser Auffassung nicht. Die Lit­er­atur­the­o­rie propagierte den „Tod des Autors“, die Psychologie den „Tod des Subjekts“. Der Mensch sei ein reines Ze­ichen­pro­dukt und in seiner Sprache gefangen. Auch die Existenz von Geschichte, Wahrheit und Vernunft wurde vehement bestritten.

Großen Einfluss auf die Post­struk­tu­ral­is­ten hatte die Theorie des kanadischen Lit­er­atur­wis­senschaftlers Marshall McLuhan, der in den 1960er Jahren die Me­di­en­wis­senschaft rev­o­lu­tion­ierte. Im Unterschied zu seinen europäischen Kollegen, die in den Massen­me­dien amerikanis­cher Prägung eine Bedrohung für den abendländischen Geist erkannten, stand McLuhan den technischen En­twick­lun­gen gelassen gegenüber. Gemäß McLuhan, der bald zu einer Art Wis­senschaft­spop­star avancierte, boten die neuen Medien die Möglichkeit zur Emanzi­pa­tion von der Schriftkul­tur, zu einer neuen Art der Wahrnehmung und des sozialen Miteinan­ders. Die elek­tro­n­is­chen Medien erweiterten den Körperradius des Menschen und seinen Sin­nesap­pa­rat, worin neue Ressourcen für eine kulturelle Weit­er­en­twick­lung lägen. Ebenso provokant für europäische ide­al­is­tis­che Geis­teswis­senschaftler, die streng zwischen Nachricht­en­in­halt und Übermit­tlung­stech­nik un­ter­schieden, war McLuhans These, dass die Form der medialen Vermittlung bereits über den Inhalt der Botschaft entscheide: „The medium ist the message“, lautete sein Slogan.

Entstehung

Jean Baudrillard hatte sich bereits in den späten 60er Jahren mit McLuhans Me­di­en­the­o­rie beschäftigt. In einer Rezension von dessen Buch Un­der­stand­ing Media kritisierte er die seiner Auffassung nach allzu op­ti­mistis­che Sicht auf elek­tro­n­is­che Medien heftig. Das Fernsehen fordere nicht zu aktiver Par­tizipa­tion auf, sondern erzeuge allenfalls affektive Be­trof­fen­heit. Außerdem ver­fes­tigten die Medien gemäß Baudrillard gesellschaftliche Normen, statt sie zur Diskussion zu stellen. So habe das Fernsehen mit der Berichter­stat­tung der Stu­den­ten­proteste und Streiks 1968 den Aufstand zwar noch in die entle­gen­sten Regionen Frankreichs gebracht, zugleich aber etablierte soziale Normen gefestigt und in geordnete Bahnen gelenkt. Dennoch zeigte Baudrillard sich von McLuhans Theorie beeindruckt. Der Satz „The medium is the message“ bringe die Entfremdung in unserer durchtech­nisierten Gesellschaft auf den Punkt.

Ein weiteres Thema, das den Soziologen in den späten 60er und 70er Jahren beschäftigte, war die Ze­ichen­haftigkeit von Objekten. Aufbauend auf den Theorien der Soziologen Pierre Bourdieu und Henri Lefebvre untersuchte Baudrillard in seiner Dis­ser­ta­tion Das System der Dinge (1968) die symbolische Funktion alltäglicher Ge­brauchs­ge­genstände. In weiteren, in rascher Folge veröffentlichten Schriften hob er in Abgrenzung zum einstmals hochgeschätzten Karl Marx nicht die Produktion, sondern den Konsum als Hauptzug des Kap­i­tal­is­mus hervor. In Der symbolische Tausch und der Tod führte Baudrillard schließlich seine früheren Ansätze zusammen und vereinte die Thesen bezüglich Marxismus und lin­guis­tis­cher Sym­bol­the­o­rie mit Kritik an der westlichen Kon­sumge­sellschaft und me­di­en­the­o­retis­chen Be­tra­ch­tun­gen.

Wirkungs­geschichte

Wie schon seine Dis­ser­ta­tion­ss­chrift avancierte auch Der symbolische Tausch und der Tod in Frankreich bald zum Klassiker der Soziologie. Die „Postmoderne“, der Baudrillard als Theoretiker zugerechnet wurde, geriet zum Schlagwort der 80er Jahre, zu einer Art Za­uber­formel, die den Nerv der Zeit traf. Bau­drillards Hauptwerk verbreitete sich in den 80er und 90er Jahren über Frankreich hinaus besonders im angelsächsischen Raum, wo es begeistert aufgenommen wurde. Die Publizistin Susan Sontag prophezeite, im Lauf der Zeit werde das Buch immer wichtiger werden. Zugleich fehlte es nicht an kritischen Stimmen, die Baudrillard mangelnde Wis­senschaftlichkeit und – so der amerikanis­che Physiker Alan Sokal – wirk­lichkeits­frem­den Ir­ra­tional­is­mus vorwarfen.

Über den Autor

Jean Baudrillard wird am 27. Juli 1929 in Reims geboren. Sein Großvater ist Bauer, sein Vater einfacher Beamter. Nach dem Abitur in seiner Heimatstadt nimmt Baudrillard 1947 das Studium der Germanistik an der Pariser Sorbonne auf. Von 1958 bis 1966 un­ter­richtet er Deutsch an einer Mit­telschule. Nebenbei übersetzt er Marx und Brecht ins Französische, studiert Philosophie und Soziologie. 1968 schreibt er bei Henri Lefebvre seine Dis­ser­ta­tion Das System der Dinge (Le Système des objets) und arbeitet zunächst als dessen Assistent. Nach seiner Ha­bil­i­ta­tion 1972 ist er selbst als Professor für Soziologie an der Universität Paris-Nan­terre tätig, einem Zentrum der Stu­den­ten­be­we­gung von 1968. Als scharfer Gegner des Algerien- und des In­dochi­nakriegs nähert Baudrillard sich in den 60er-Jahren der französischen Linken an. In den 80er- und 90er-Jahren zählt Baudrillard – inzwischen wis­senschaftlicher Direktor an der Universität Paris-Dauphine – zu den bekan­ntesten Denkern der Postmoderne. In dieser Zeit wendet er sich als erklärter Feind des französischen Egal­i­taris­mus von der Linken ab und liebäugelt zeitweilig mit der Rechten. In Interviews zieht er polemisch über Amerikas Ideologie der Freiheit und die westliche Kon­sumge­sellschaft her. Aufsehen erregt er mit der Aussage, der Irakkrieg habe nicht stattge­fun­den, sondern sei ein reines Me­di­en­spek­takel gewesen. Die Ter­ro­ran­schläge vom 11. September 2001 begrüßt Baudrillard als „metapho­rischen Selbstmord“, als Wiederkehr des Realen in unsere Welt des Scheins. Im is­lamistis­chen Fun­da­men­tal­is­mus erkennt er die Rache für den westlichen Konsum- und Waren­fetis­chis­mus, der sich bis in den letzten Winkel der Welt auszubre­iten drohe. Mit solchen extremen Äußerungen macht sich Baudrillard unter Kollegen unbeliebt, die ihm mangelnde Wis­senschaftlichkeit vorwerfen. Zugleich finden seine Ideen Eingang in die Populärkultur: Im amerikanis­chen Sci­ence-Fic­tion-Film The Matrix (1999) etwa spielt sein Buch Simulacres et simulation (1981) eine bedeutende Rolle. Baudrillard stirbt am 6. März 2007 in Paris.