Annäherungen

Buch Annäherungen

Drogen und Rausch

Stuttgart, 1970
Diese Ausgabe: Klett-Cotta,


Worum es geht

Geist und Rausch

Ernst Jünger ex­per­i­men­tierte ein Leben lang mit Drogen. Dabei ging es ihm allerdings nicht um gesellschaftliche Rebellion, sondern um in­di­vidu­elle geistige Abenteuer. Als 75-Jähriger hielt er seine Erfahrungen in einem Buch fest. Jünger sucht im Rausch Annäherungen an etwas Unnennbares, was aus der alltäglichen Wahrnehmung von abstrakten Dingen wie der Zeit hinausführt in andere Welten – einen Vorgeschmack auf den endgültigen Übertritt in die an­der­sar­tige Welt, den Tod. In den drei Hauptteilen des Buches gliedert er die Drogen ihrer Wirkungsart und ihrer kulturellen Herkunft nach in die Gruppen Europa, Orient und Mexiko. Auffällig ist, dass die Intensität der Rauschschilderung nicht mit der Beurteilung der Drogen ko­r­re­spondiert. So fällt die Beschrei­bung des Alko­hol­rauschs mit 15 Jahren viel ausführlicher und ein­dringlicher aus als etwa die des hochgelobten Meskalins. Aber Jüngers Hauptakzent liegt ohnehin weniger auf den (nicht allzu sen­sa­tionellen) Rauschberichten. Wichtiger sind ihm die es­say­is­tis­chen Passagen mit Ab­schwei­fun­gen in Ethnologie, Mythologie und Literatur, wo ihm pointierte Aphorismen gelingen. Glanzstücke sind auch die Porträts einzelner in­ter­es­san­ter Weggefährten. Damit ist das Buch ein­dringlicher als so manches jargonhafte 68er-Dro­gen­trip­beken­nt­nis – nicht nur, weil Themen wie Doping oder die Le­gal­isierung von Cannabis ungebrochen aktuell sind.

Take-aways

  • In seinem um­strit­te­nen Alterswerk Annäherungen berichtet Ernst Jünger von seinen Dro­gen­ex­per­i­menten.
  • Inhalt: Es gibt europäische, ori­en­tal­is­che und mexikanis­che Drogen; ihnen entsprechen ver­schiedene Stufen der Gren­z­er­fahrung. Im Rausch macht der Dro­genkon­sument eine andere Zeit­er­fahrung, er betritt neue Welten und sucht eine Annährung an den Tod.
  • Au­to­bi­ografis­che Schilderun­gen werden im Buch von es­say­is­tis­chen Passagen eingerahmt, die in die Bereiche Literatur, Mythologie und Ethnologie abschweifen.
  • Jünger ex­per­i­men­tierte sein Leben lang mit Drogen – nicht um gegen die Gesellschaft zu rebellieren, sondern um in­di­vidu­elle geistige Abenteuer zu erleben.
  • Jünger plädiert für die Abkehr von einem rein pos­i­tivis­tis­chen Weltbild. Ein Mittel dazu kann der Rausch sein.
  • Das Interesse an Aus­nah­mezuständen und Todesnähe durchzieht Jüngers gesamtes Werk seit seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg.
  • Kon­ser­v­a­tive Stammleser Jüngers waren von diesem Buch empört, dafür brachte es ihm neue Anhänger.
  • Während Jünger in Deutschland wegen seines am­biva­len­ten Verhältnisses zu den Na­tion­al­sozial­is­ten skeptisch beurteilt wird, schätzt man ihn in Frankreich als Ästheten.
  • Ähnlich wie Jünger haben auch viele andere Dichter mit Drogen ex­per­i­men­tiert, z. B. Friedrich Schiller, Charles Baudelaire, Edgar Allan Poe und Aldous Huxley.
  • Zitat: „Jeder Genuss lebt durch den Geist. Und jedes Abenteuer durch die Nähe des Todes, den es umkreist.“
 

Zusammenfassung

Rausch, Zeit und Tod

Drogen sind ein geistiges Abenteuer, das von der Nähe zum Tod geprägt ist. Wie bei anderen Abenteuern ist auch im Dro­gen­rausch das Leben besonders intensiv, der Puls beschle­u­nigt, der Tod plötzlich sehr nahe. Auf den Rausch folgt un­weiger­lich die Ernüchterung. Im Rausch liegt eine Sehnsucht, die nie ganz erfüllt und deshalb zur Sucht werden kann. Die Intervalle zwischen den Räuschen sind wichtig, deshalb ist Dro­genkon­sum seit jeher an bestimmte Feste geknüpft.

„Jeder Genuss lebt durch den Geist. Und jedes Abenteuer durch die Nähe des Todes, den es umkreist.“ (S. 21)

Drogen wirken un­ter­schiedlich, sie können anregen, betäuben oder Bilder erzeugen. Entschei­dend ist weniger der Stoff, sondern vielmehr die Rausch­ab­sicht. Ist sie vorhanden, kann vieles zur Droge werden. Es gibt hochsen­si­tive Menschen, bei denen schon Weniges zu einem starken Rausch führt – das kann so weit gehen, dass gar kein Stoff nötig ist, sondern der Rausch allein durch Bere­itschaft und Ver­hal­tensweisen ausgelöst wird, etwa durch Fasten oder Tanz. So erstaunt es nicht, dass etwa der Islam Abstinenz fordert; die tanzenden Derwische geraten ganz ohne Drogen in den angestrebten Zustand. Die Prohibition im Spätprotes­tantismus, etwa in den USA oder in Skan­di­navien, liegt hingegen nicht im Überfluss, sondern im Mangel begründet.

„Im Rausch (...) wird Zeit vor­weggenom­men, anders verwaltet, ausgeliehen. Sie wird zurückgefordert; der Flut folgt Ebbe, den Farben Blässe, die Welt wird grau, wird langweilig.“ (S. 27)

Der geistige Mensch sucht in der Droge letztlich nicht Glück, Schmer­zlosigkeit oder eine gesteigerte Wahrnehmung, sondern wie Goethes Faust etwas „Ein­tre­tendes“, Hinzuk­om­mendes. Das alltägliche Zeit­empfinden wird im Rausch aus den Angeln gehoben, die Zeit wird in der Betäubung gedehnt und in der Anregung komprimiert. Vollständig bezwungen wird sie schließlich im Tod. Der Rausch kann eine Annäherung an den Tod sein, er kann auf ihn vorbereiten und den Mut zur Grenzüberschre­itung festigen.

„Dem Feinfühligen genügt eine Andeutung.“ (S. 34)

Drogen lassen sich nach kulturellen Herrschafts­ge­bi­eten ordnen. Im Abendland sind stim­ulierende oder beruhigende Mittel beliebt. Man will die Normalität erhöhen, nicht verlassen. Im Orient sind die Fantastika zu Hause, sie setzen ein Interesse an Bildern voraus. Die mexikanis­chen Drogen, Meskalin und ähnliche Mittel, dringen besonders tief ins Unbewusste.

Europa: Alkohol

Wein scheint von seiner einstigen Kraft aus der mythischen Zeit des Dionysos viel verloren zu haben. Aber er hat Europa stark geprägt, und noch immer verwandelt er auf Festen die Menschen. Seinen ersten Rausch erlebt Ernst Jünger mit den Wandervögeln um 1910, bei der Besich­ti­gung einer Bier­brauerei. Die Gruppe trinkt mit dem Brauere­ichef, und die Atmosphäre wird har­monis­cher, einträchtiger. Den 15-jährigen Jünger beschäftigen sogar math­e­ma­tis­che Probleme, was ihm sonst nie passiert. Auf dem Rückweg finden die Wanderer kein Nachtlager, und an den Alko­hol­rausch schließt sich ein Erschöpfungsrausch an. Zu Jüngers Zeit als Primaner hat das Grup­pen­trinken Methode, es ist fast eine Pflicht und wird auch von den Lehrern gern gesehen. Im Gegensatz zum Bier passt der Wein nicht in die nördlichen Länder mit ihren wüsten Zechereien. Den meist katholis­chen Weinländern sind Horden von Dauer­be­trunk­e­nen fremd. Auch in den Dörfern, die den pe­ri­odis­chen Festen stärker verhaftet sind, sieht man solche Szenen selten. Süchtige sind eine Erscheinung der Stadt. Im Norden ist die Entfernung zwischen dürftigem Alltag und Rausch größer als in der natürlichen Heiterkeit des Südens. Der Rausch in den Nordländern ist zerstörerischer und bringt traurigere Bilder.

Äther

Äther kennt der In­sek­ten­forscher Jünger vom Käfertöten – das Mittel scheint die Tiere im Tod zu entspannen. Er selbst erwartet sich vom Äther einen leichteren und geistigeren Rausch als vom Alkohol. Erstmals probiert er ihn 1918 als verwundeter Soldat in Hannover. Dazu spritzt er einige Tropfen auf ein Taschentuch und presst es sich vors Gesicht. Die sofortige Wirkung ist, dass er einschläft, allerdings nicht für lange Zeit. Auf die Betäubung folgt eine Phase „luzider Erheiterung“. Er geht zum Mittagessen aus. Auf seinem Weg begegnet er auf Schritt und Tritt anderen Militärs; er muss einem kom­plizierten Zeremoniell gemäß Grüße austeilen und ent­ge­gen­nehmen, die je nach Rang des Ent­ge­genk­om­menden variieren. Das fällt ihm aber sehr leicht, er sieht es als Spiel, dessen Regeln er souverän beherrscht. Aber dann wird er doch von einem Major zur Rede gestellt, warum er den Herrn Kom­mandieren­den General nicht gegrüßt habe, der gerade auf dem Fahrrad vorübergefahren sei. Ungewohnt geis­tes­ge­genwärtig erwidert er, er sei wohl zu sehr auf den Herrn Major konzen­tri­ert gewesen. Im weiteren Gespräch zeigt sich der Major wohlwollend. Er stellt zwar fest, dass Jünger sich nicht ganz normal verhält, führt das aber auf die Schwächung des Verwundeten zurück.

Chloroform

Chloroform ist ebenfalls eine narkotische Substanz, aber gefährlicher als Äther. Jünger probiert es an einem trüben, trostlosen Abend. Es wirkt als „schweres Geschütz, als Axthieb“; sein Bewusstsein wird mit einem Schlag ausgelöscht. Als der Wecker am Mon­tag­mor­gen klingelt, ist es ein wüstes Erwachen. Frühsport steht auf dem Programm, aber er ist geistig abwesend und kaum ansprechbar. Ob er eine Nacht auss­chweifender Exzesse hinter sich gehabt habe, fragt ihn sein Vorge­set­zter später. Jünger lässt ihn in diesem Glauben und verbirgt seine schwere Betäubung lieber hinter „normalen“ Lastern – damit weicht man weniger von der Norm ab.

Kokain

Kokain ist kein natürlicher Stoff, er wird aus dem Kokablatt isoliert, das bei den Inkas als Göttergeschenk gilt und gegen Müdigkeit, Hunger und Traurigkeit gekaut wird. Indios, die das Zehnfache der üblichen Dosis konsumieren, sehen früh wie Greise aus. Dies wie auch die Tatsache, dass ein Bissen vom Kokablatt (die „Kokada“) als Weg- und Zeitmaß dient, zeigen erneut die Verknüpfung von Rausch und Zeit. Kokain kam während des Ersten Weltkriegs in Mode. Jüngers Freund Bodo bezeichnet Kokain als Munter­ma­cher und rühmt die Klarheit und Übersicht, die es bewirke. Er prophezeit Jünger, das Schreiben werde ihm unter Kokain sicher sehr le­icht­fallen. Eines Abends schließt dieser sich damit ein und schnupft es. Die Nase wird kalt, seine Stimmung op­ti­mistisch, die Wahrnehmung richtet sich ganz nach innen. Er beginnt zu schreiben, doch bald wird seine Schrift unleserlich, und schließlich hört er damit auf, weil es unwichtig wird. Er fühlt seine kreativen Kräfte zwar deutlich und so mächtig wie noch nie, aber sie sind zu groß, um sich noch in Worten nieder­schla­gen zu können. Der Geist schwelgt in seiner enormen Fülle, keine geistige Bemühung könnte dem gerecht werden. Jünger fühlt sich zu einer Statue seiner selbst erstarrt.

Der Orient: Opium

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg befindet sich Ernst Jünger in einem Zustand physischer und psychischer Schwäche – er kann das Ende des Bis­mar­ck­re­ichs nur schwer verwinden. Für einen trüben Winter lang gibt er sich deshalb dem Opium hin. Dieser tut ihm geistig gut; physisch jedoch weniger. Als er das erste Mal Opi­umtropfen nimmt, schläft er ein und hat kurz danach ein „Gefühl des Umsteigens“. Die Zeit läuft schneller und scheint sich doch kaum zu bewegen. Er hat Durst und geht ins Badezimmer, um ein Glas Wasser zu holen, und wie er vor dem Waschbecken steht, scheinbar den Grenzen der Zeit enthoben, fließen Ohr und Glas, Ich und Wasser ineinander. Er geht zurück in sein Zimmer, findet sich dort schlafend und weckt sich. In Wirk­lichkeit sind nur zwei oder drei Minuten vergangen. Mehrmals in dieser Nacht wechseln sich ver­meintlich unendlich lange Phasen der Abwesenheit und glückliche Wieder­begeg­nun­gen mit sich selbst ab.

Haschisch

Jüngers Haschis­chex­per­i­ment gerät zu seinem schlimmsten Dro­gen­er­leb­nis – er wird daraufhin für 30 Jahre keine Dro­gen­ver­suche mehr wagen. Jünger ist mit seiner Mutter im Zug unterwegs. In Halle streiken die Eisenbahner, und die beiden müssen sich für die Nacht zwei Zimmer nehmen. Er hat ein Döschen mit Cannabis-Ex­trakt dabei, das von einer Apotheke aus­ge­mustert worden ist. Mit dem Stiel der Zahnbürste fährt er in die grüne, zähe Paste und zieht, was daran hängen bleibt, mit den Zähnen herunter. Dann setzt er sich in einen Sessel und wendet sich seiner Lektüre zu, den Märchen aus Tausendun­deiner Nacht. Unter dem Einfluss der Droge blühen die Märchenbilder auf; so unmittelbar hat er Gelesenes noch nie aufgenommen. Doch plötzlich kippt die Stimmung: Er springt auf und erkennt sich im Spiegel als seinen eigenen Feind. Die Dose mit dem Rest der Paste wirft er aus dem Fenster. Barfuß und mit offenem Schlafanzug läuft er aus dem Zimmer, reißt Türen auf, verstört Gäste, wirft in der Lobby Koffer um und rempelt Leute an. Er hat die Kontrolle verloren und merkt, dass er seine Mutter wecken muss. Sie ist noch auf, und sofort wird ein Arzt gerufen. Dessen Frage, ob er etwas eingenommen habe, beantwortet Jünger, indem er die Aufmerk­samkeit auf den polnischen Karpfen lenkt, den er am Mittag gegessen hat. Man bringt ihm starken Kaffee, zufällig wirksam sowohl gegen Fis­chvergif­tung als auch als Gegengift zu Cannabis. Prompt lässt die Spannung nach, und er wird heiter, ja glücklich. Aber eine Annäherung ist ihm nicht gelungen.

Mexiko: LSD

30 Jahre später ex­per­i­men­tiert er auf der höchsten Stufe der Annäherungen, der mexikanis­chen, und nimmt LSD. Der Pilz namens Mutterkorn, aus dem Albert Hofmann den Stoff 1938 isolierte, kommt zwar aus Europa, ist aber verwandt mit ursprünglich mexikanis­chen Drogen. Im Gegensatz zum Haschis­cher­leb­nis ist die Dosis bei seinem ersten Versuch wohl zu schwach. Er unternimmt ihn zusammen mit Albert Hofmann selbst sowie mit dem Phar­makolo­gen Heribert Konzett. In einen Wasserkrug werden einige Tropfen einer farblosen Flüssigkeit gegeben, davon bekommt jeder ein Likörgläschen voll. Die Farben werden intensiver, und die Herren stellen fest, dass sie im Begriff sind, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Arbeit und ihre Familie zu vergessen. Der Rauch eines Räucherstäbchens erscheint Jünger als Metapher für den kosmischen Geist. Insgesamt führt dieser LSD-Rausch über „Vorhöfe“ nicht hinaus; ein zweiter Versuch mit höherer Dosis ist ein­drucksvoller.

Wahrsagepilze

Ein weiteres Dro­gen­ex­per­i­ment gilt einem mexikanis­chen „Wahrsagepilz“. Die Teilnehmer sind neben Ernst Jünger wiederum Albert Hofmann und Heribert Konzett sowie Rudolf Gelpke, ein Is­lamwis­senschaftler, der sich sowohl theoretisch wie praktisch bestens mit ori­en­tal­is­chen Drogen auskennt. Sie treffen sich in Jüngers Haus in Wilflingen; jeder kaut zwei oder drei eingewe­ichte Pilze. Als die Wirkung einsetzt, glühen die Blumen in der Vase auf, Jünger fühlt sich überall angefasst, als wäre er ein einziges Wahrnehmung­sor­gan. In einer Vision befindet er sich plötzlich in einem mau­re­tanis­chen Palast samt Bauchtänzerinnen und üppigen Huren – er sieht aber auch kotige Schlangen. Dann eine Pause: Er befindet sich wieder im Wohnzimmer, hat seine Mitstreiter vor sich und begreift, dass er gerade einen Schub hatte. Bald darauf kommt ein neuer. Die anderen haben ähnlich exotische Visionen. Gelpke erzählt, er habe vor einer Schädelpyramide gestanden und seinen eigenen abgeschla­ge­nen Kopf erkannt. Darauf der Phar­makologe: „Jetzt weiß ich auch, warum Sie ohne Kopf im Sessel saßen.“

Meskalin

Im Januar 1950 ist Jünger mit Walter Frederking, einem Hamburger Arzt und Psy­chother­a­peuten, sowie mit Ernst Klett in dessen Haus in Stuttgart zu einer Meskalinséance verabredet. Der Termin kommt Jünger ungelegen, er muss dafür früh aufstehen (was er hasst), außerdem ist er gerade in trüber Stimmung, hatte einen Streit mit seiner Frau, und mit dem Schreiben geht es nur schleppend voran. Die Herren nehmen die Droge erstmals um drei Uhr nachmittags ein, um vier Uhr folgt eine zweite Dosis; insgesamt sind sie 12 Stunden „unterwegs“. Jünger hat sich Stift und Papier bere­it­gelegt, kommt aber nicht zum Schreiben. Eine Stunde lang ist ihm etwas übel; dann hört er das Öffnen einer Dose wie einen lauten Knall. Die Herren folgen ihren eigenen inneren Bildern und Melodien. Um sechs Uhr abends werden die Bilder schwächer, sie nehmen eine dritte Dosis, aber der Höhepunkt ist überschrit­ten. Insgesamt ist der Meskalin­rausch eine sehr intensive Erfahrung. Er gleicht einem Aufenthalt in einem Zwis­chen­re­ich, ähnlich vielleicht dem, worin sich die Seele die erste Zeit unmittelbar nach dem Tod befindet. Man erahnt die enorme eigene Tiefe.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Annäherungen umfassen 315 nummerierte Abschnitte und einen kurzen Anhang. Neben einem Eingangs- und einem Übergang­steil werden die Drogen nach ihrer Wirkungsver­wandtschaft und ihrer kul­turell-ge­ografis­chen Herkunft in drei Hauptteilen vorgestellt: Europa, Orient und Mexiko. Damit gehen drei Stufen der „Annäherung“ einher – die mexikanis­che mit Meskalin und seinen Verwandten ist die höchste. Die Berichte von Selb­stver­suchen werden mit Erin­nerun­gen an Zeitumstände, Menschen und Städte verquickt; der Text schwankt zwischen anek­do­tis­cher Erzählung und re­flek­tieren­dem Essay. So münden Porträts von Weggefährten oder der Mutter in Gedanken zur Geschichte, Ethnologie, Mythologie, Philosophie oder Literatur. Immer wieder schweift Jünger ab und widmet sich Themen wie Geschlecht­skrankheiten, Wahnsinn oder Glücksspiel. Damit ordnet er nicht nur die vorgestell­ten Drogen kulturell ein, sondern liefert gle­ichzeitig eine Art geistiger Au­to­bi­ografie.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Jünger umkreist sein Thema in apho­ris­tis­chen „Annäherungen“. Diese Form entspricht dem Inhalt: In seinen wieder­holten Dro­gen­ex­per­i­menten geht es ihm darum, in neue Dimensionen vorzustoßen. Dieses suchende Vorgehen kennze­ich­net Jüngers gesamtes Leben und Werk.
  • Jünger leidet – wie viele Zeitgenossen – an der besin­nungslosen Hektik seiner Lebenswelt. Der Rausch entspringt der fun­da­men­talen Sehnsucht, die Zeit aufzuheben, den alltäglichen Trott zu durch­brechen.
  • Wiederholt bedauert Jünger die Ödnis einer rein tech­nisch-pos­i­tivis­tis­chen Weltan­schau­ung, wie sie im modernen Europa vorherrscht. Europa ist für ihn gle­ichbe­deu­tend mit Ernüchterung und Säku­lar­isierung. Am liebsten würde er die Trennung zwischen Ra­tio­nal­is­mus und Ir­ra­tional­is­mus aufheben. Drogen scheinen ihm dafür ein geeignetes Mittel zu sein.
  • Jüngers Kul­turkri­tik bleibt apolitisch. Die konkreten gesellschaftlichen Veränderungen um 1968 in­ter­essieren ihn kaum.
  • Mit der Kritik an der westlichen Welt geht eine Mys­ti­fizierung des Orients einher, dessen bildhafte Welt Jünger bewundert. Darüber hinaus klas­si­fiziert er Mexiko als das ar­che­typ­is­chste und exotischste aller Länder – ohne dass er seine Erfahrungen bereits als abgeschlossen betrachten würde.
  • Das Buch schildert Dro­gen­ex­per­i­mente als Aben­teuer­fahrten, die an die Grenzen des Bekannten führen. Immer wieder betont Jünger die Ver­wandtschaft von Schlaf, Traum, Rausch und Tod. Diese Zustände gleichen dem Balancieren auf einer Linie, die Welten voneinander trennt. Den Rausch betrachtet er schließlich auch als Einübung ins Sterben, als Annäherung an die endgültige Grenze des Lebens.
  • Das Interesse an den Aus­nah­mezuständen, welche die Todesnähe hervorruft, durchzieht Jüngers gesamtes Werk seit seinen Weltkriegser­fahrun­gen. Man könnte von einer lebenslan­gen meta­ph­ysis­chen Suche sprechen.

His­torischer Hintergrund

Dichter und Drogen

Nicht jeder Schrift­steller betreibt das Schreiben so nüchtern und diszi­plin­iert wie es z. B. Thomas Mann getan hat; für viele lag es nahe, sich ihren imaginären Par­al­lel­wel­ten im Dro­gen­rausch zu öffnen. Schon Friedrich Schiller wollte mit verfaulten Äpfeln „den Webstuhl da innen zum Sausen bringen“. Mit der Romantik verstärkte sich das Interesse an Rauschzuständen – denn hier begann die Entdeckung des Subjektiven als Maßstab für die Bewertung der Welt. Rauschmit­tel sollten ähnlich wie Träume einen Zugang zum Unbewussten verschaffen; so sind NovalisHymnen an die Nacht unter dem Einfluss von Opium entstanden. Robert Louis Stevenson schuf im Dro­gen­rausch Dr. Jekyll und Mr. Hyde. In Frankreich gründete Charles Baudelaire einen Haschis­chk­lub. Sein Bewunderer Arthur Rimbaud forderte die „Entregelung der Sinne“ – normale Wahrnehmungsmuster müssten zerschlagen werden, sonst könne man nichts Neues schaffen. Drogen erschienen ihm als ein Schlüssel dazu. Auch die Dichter des Un­heim­lichen, allen voran E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, stim­ulierten ihre Kreativität mit Alkohol und Opiaten.

Im 20. Jahrhundert rühmte Gottfried Benn in einem Gedicht den „Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehn­ten“, den Kokain befördere. Allerdings gibt es auch von Dro­gen­dichtern selbst kritische Aussagen: Baudelaire räumte in einem Gedichte über Haschisch ein, es offenbare einem „nichts als sich selbst“. Ein Problem war zudem schon immer, wie man mit den Mitteln der Sprache Rauscher­fahrun­gen ausdrückt. Aldous Huxley schrieb im Rausch den Satz „Im Universum ist alles in Ordnung“ – und musste nüchtern erkennen, dass sich das eher banal liest. Zahlreiche Autoren führte das Ex­per­i­men­tieren mit Drogen geradewegs in die Sucht. Georg Trakl, Joseph Roth, Jack Kerouac, Irmgard Keun: Sie und viele andere starben infolge ihres Dro­genkon­sums. Popliterat Benjamin von Stuck­rad-Barre bekannte 2004, sich mit Kokain an den Rand des Abgrunds gebracht zu haben, um Stoff für einen leben­sprallen Roman zu sammeln – bis er begriff: „Mein Ar­beitsin­stru­ment, das Gehirn, steht auf dem Spiel.“

Entstehung

Ernst Jünger hat sich zeitlebens nicht nur praktisch mit un­ter­schiedlichen Drogen au­seinan­derge­setzt, auch die the­o­retis­che Beschäftigung mit dem Thema zieht sich durch seine Texte. In seinem utopischen Roman Heliopolis (1949) schuf er die Figur des Antonio Peri, der jahrzehn­te­lang ein Logbuch über Dro­gen­ex­per­i­mente führt. Einen LSD-Trip mit dem Entdecker der Droge, Albert Hofmann, ve­r­ar­beit­ete Jünger in der Erzählung Besuch auf Godenholm (1952). 1967 schrieb er dann einen Essay über das Thema, der als kurze Denkschrift zum 60. Geburtstag des Re­li­gion­swis­senschaftlers und Begründers der Schaman­is­mus-Forschung, Mircea Eliade, angelegt war, der aber den Rahmen sprengte und viel um­fan­gre­icher ausfiel als geplant. Dieser Essay erschien 1968 und entspricht dem Ein­gangskapi­tel des 1970 er­schiene­nen, über 450 Seiten starken Textes Annäherungen mit dem Untertitel Drogen und Rausch. „Ein zweiter Teil“, schrieb Jünger, „sollte spezielle Erfahrungen behandeln; er hat sich nach vielen Seiten hin ausgedehnt. Ich könnte ihn schärfer ins System bringen und denke daran hin­sichtlich einiger wiederkehren­der Begriffe; für den Leser ist es günstiger, dem Text zu folgen, wie er Blatt um Blatt ansetzte.“ Die disparate Struktur entspricht also dem natürlichen Entste­hung­sprozess: Der Autor gab dem as­sozia­tiven Gedanken­fluss bewusst Vorrang gegenüber einer strengeren Systematik.

Wirkungs­geschichte

Sein erstes „Drogenbuch“, Besuch auf Godenholm, fand allgemein wenig Beachtung, und wenn, dann stieß es auf Unverständnis. Schon damals schrieb Jünger allerdings, das Buch führe ihm immerhin Grenzgänger zu, „Typen, die kein Programm haben“, wie den in den Annäherungen erwähnten Vagabunden Guido – Jüngers Kontakt zu den Hippies der späten 60er Jahre.

Die Annäherungen dagegen stießen auf ein lebhaftes Echo und erregten die Gemüter. Das Buch provozierte heftige Reaktionen, begeisterte ebenso wie entrüstete. In Deutschland, wo Ernst Jünger vorwiegend nach politischen, weltan­schaulichen Kriterien rezipiert wurde (anders als im Ausland, etwa in Frankreich, wo er für seine ästhetischen Positionen bekannt und geschätzt ist), war seine Stamm­le­ser­schaft kon­ser­v­a­tiv-elitär. Man empörte sich über die frei­heitliche Feier des Rauschs und wandte sich z. T. von Jünger ab. Dafür wurden linke In­tellek­tuelle, die ihn wegen seines politischen Rufs bislang abgelehnt hatten, nun auf Jünger aufmerksam. Dieser war allerdings weit davon entfernt, sich ideologisch vor den Karren der 68er spannen zu lassen; sein Dro­genkonzept war auf in­di­vidu­elle geistige Abenteuer aus­gerichtet und weder mit gesellschaftlicher Rebellion noch mit politischem Re­formwillen verbunden.

Über den Autor

Ernst Jünger wird am 29. März 1895 in Heidelberg als Sohn eines pro­movierten Chemikers geboren. Einer seiner Brüder ist der ebenfalls bekannte Schrift­steller Friedrich Georg Jünger. Seine Kindheit verbringt Jünger vor allem in Hannover. Noch als Gymnasiast geht er zur Frem­den­le­gion nach Nordafrika, wird aber vom Vater zurückgeholt. Nach dem Notabitur 1914 meldet er sich als Kriegs­frei­williger und erhält im Ersten Weltkrieg höchste militärische Ausze­ich­nun­gen als Soldat. Seine Kriegser­leb­nisse verarbeitet er in mehreren Werken, darunter In Stahlge­wit­tern (1920), das ihn sogleich berühmt macht. Nach dem Krieg dient er bis 1923 in der Reichswehr und studiert danach Zoologie und Philosophie, bricht seine Studien aber ab, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Nach anfänglichen Sympathien hält er sich von den Na­tion­al­sozial­is­ten fern und lehnt sowohl einen ihm von der NSDAP angebotenen Sitz im Reichstag als auch die Aufnahme in die Dichter­akademie ab. 1939 erscheint seine Erzählung Auf den Mar­mork­lip­pen, in der das Regime eines brutalen „Oberförsters“ beschrieben wird. Im gleichen Jahr wird Jünger zur Wehrmacht eingezogen und leistet als Hauptmann Dienst in Frankreich, vor allem in Paris. 1944 wird Jünger, der einigen der Attentäter vom 20. Juli nahesteht, wegen kritischer Äußerungen aus der Wehrmacht entlassen. Weil er sich weigert, den Ent­naz­i­fizierungs­bo­gen der Siegermächte auszufüllen, wird er nach dem Krieg zunächst mit Pub­lika­tionsver­bot belegt. Anfang der 50er Jahre zieht Jünger nach Wilflingen in Baden-Württemberg, wo er bis zu seinem Lebensende wohnt. Jünger erhält u. a. den Goethepreis und das Bun­desver­di­en­stkreuz. Er wird in Frankreich sehr geschätzt, der französische Präsident Mitterand besucht ihn sogar in Wilflingen. Neben seiner Arbeit als Schrift­steller betätigt er sich auch als angesehener In­sek­ten­forscher. Sein tage­buchar­tiges Werk Siebzig verweht erscheint in fünf Teilen von 1980 bis 1997. Jünger stirbt kurz vor seinem 103. Geburtstag am 17. Februar 1998. Erst nach seinem Tod wird bekannt, dass er 1996 zum Katholizis­mus kon­vertierte.