Die Bedeutung der menschlichen Faktoren
Jede Organisation ist ein Zusammenspiel zwischen den zu bewältigenden Aufgaben, den dafür benötigten technischen Voraussetzungen und den Menschen, die die Handlungen ausführen. Letzteren kommt die größte Bedeutung zu, denn die Menschen definieren nicht nur die Inhalte einer Organisation und entwickeln die benötigte Technik, sie sind es auch, die einerseits Risiken abschätzen können und andererseits mögliche Fehlentwicklungen erst hervorrufen. Um Fehler bei der Produktion in technisch anspruchsvollen Branchen wie der Auto-, der Flugzeug- oder der Pharmaindustrie zu vermeiden oder auf Folgen von Herstellungsmängeln schnell reagieren zu können, muss sich ein Unternehmen intensiv mit den menschlichen Faktoren, den Human Factors, auseinandersetzen. Darunter werden alle körperlichen, psychischen und sozialen Eigenschaften der Menschen zusammengefasst, die deren Verhalten in einem von Technik geprägten Arbeitsumfeld beeinflussen.
„Organisationen sind von ihrer Umwelt unterschiedene Systeme, in denen Menschen, Technik und Prozesse in vielfältigen Interaktionen zusammenwirken.“
Das Ziel der Auseinandersetzung mit den Human Factors ist die Suche nach größtmöglicher Sicherheit, besonders in den so genannten Risikobranchen. Zur Sicherheit gehören nicht nur die Einhaltung von Regeln und das Vermeiden von Krisen, sondern auch das schnelle Beheben von Störungen sowie der Gesundheitsschutz. Gefragt ist daher eine Firmenkultur, in der die Mitarbeiter offen mit menschlichem Fehlverhalten umgehen, Sensibilität für alle Abläufe entwickeln, flexibel organisiert sind und voreilige Schlüsse in Problemsituationen vermeiden. Zudem ist ein effektives Feedbacksystem vonnöten, mit dem mögliche Krisen frühzeitig aufgedeckt werden. Um eine auf die menschlichen Faktoren fokussierte Firmenkultur zu etablieren, können Unternehmen auf die Erkenntnisse zahlreicher wissenschaftlicher Fachrichtungen wie der Arbeitswissenschaften, der Ergonomie, der Ingenieurdisziplinen, der Medizin oder der Psychologie zurückgreifen.
Fehler sind unvermeidlich
Einen Arbeitsalltag ohne Krisen oder Pannen gibt es nicht. Wo Menschen handeln, passieren Fehler. Dennoch versuchen Unternehmen oft, Fehler und Irrtümer vollständig auszumerzen. Dazu setzen sie einerseits auf Regeln und Standards. Andererseits versuchen sie, die betrieblichen Abläufe zu automatisieren. Da es aber in beiden Fällen letztlich immer noch die Menschen sind, die handeln, lassen sich Fehlentwicklungen auch hier nicht vermeiden. Die Krisenprävention muss daher zunächst bei den Human Factors ansetzen.
„Ein Kernproblem von Arbeitssystemen ist der Umgang mit Unsicherheit.“
Um die menschlichen Risiken im individuellen Unternehmensfall konkret zu bestimmen, ist es entscheidend zu wissen, wann Fehler überhaupt auftreten. Die Wissenschaft versteht unter Fehlern ein Verhalten oder ein Ergebnis, das nicht den vereinbarten Erwartungen und dem verfügbaren Können und Wissen entspricht. Manche Irrtümer treten immer wieder auf, andere nur vereinzelt. Ihre Folgen können sofort sichtbar sein oder erst durch eine Kettenreaktion spürbar werden. Die Gründe für die Pannen liegen vor allem bei den handelnden Menschen selbst. Sie resultieren u. a. aus Übermüdung, Unaufmerksamkeit, Unsicherheit, fehlenden Kenntnissen, mangelnder Motivation oder einer ungenügenden Abstimmung zwischen Mensch und Technik.
„Bei der Unterscheidung ‚menschliche Faktoren‘ vs. ‚technische Faktoren‘ wird häufig vergessen, dass die Entwicklung der Maschine, des Computers oder des Systems immer auch ein Produkt von Menschen ist.“
Krisen können aber auch unabhängig von diesen Faktoren entstehen, etwa aufgrund störender Arbeitsbedingungen wie Lärm, mangelnder Kommunikation im Team, unklarer Zielvorgaben der Geschäftsführung oder einer zu komplexen Aufgabe. Ein Verstoß gegen die vereinbarten Regeln bedeutet nicht automatisch ein Fehlverhalten. Es kann sich dabei auch um eine notwendige Maßnahme handeln, mit der eine Krise vermieden wird. Statt gegen Fehler zu kämpfen oder sie vollständig vermeiden zu wollen, sollten die Unternehmen Schwierigkeiten als Chance nutzen, die interne Zusammenarbeit zu verbessern.
Die Human Factors im Überblick
Sicheres Handeln hängt vor allem davon ab, welche Wahrnehmung die verantwortlichen Menschen von ihrer Situation haben. Fehler treten umso häufiger auf, je eingeschränkter die Wahrnehmung ist. Bei der Gestaltung der Arbeitsplätze und der Festlegung der Aufgaben sollte darum immer berücksichtigt werden, wie sich die Rahmenbedingungen auf die menschlichen Sinne – Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken – sowie die Aufmerksamkeit auswirken. Zu einer Sicherheitskultur gehört auch eine regelmäßige Gesundheitsprüfung etwa des Gehörs und der Sehkraft.
„Inwieweit eine Organisation eine umfassende bzw. systemorientierte Strategie hinsichtlich der Gewährleistung von Sicherheit verfolgen sollte, hängt in erster Linie vom Gefährdungspotenzial ihrer Produktionsprozesse ab.“
Wahrnehmung ist immer ein Zusammenspiel zwischen der Sinnesempfindung und der verstandesmäßigen Auswertung davon. Das Denken ist ein entscheidender menschlicher Faktor. Einerseits ist es notwendig, um Situationen einschätzen zu können, Lösungen zu finden und zu handeln. Andererseits liegt gerade in der Fähigkeit des Schlussfolgerns ein großes Risiko für Fehlverhalten. Die Anforderungen an das Denken werden umso größer, je komplexer die Arbeitsaufgabe ist. Die Einführung eindeutiger Ziele und Verhaltensstandards kann eine Hilfe sein, um den Menschen Entscheidungen zu erleichtern.
„In komplexen und dynamischen Umfeldern bilden erfolgreiche Organisationen komplexe Strukturen aus; die Antwort auf die gestiegene Umweltkomplexität ist organisationale Komplexitätserhöhung statt Reduktion und Vereinfachung.“
Ein Aspekt, der häufig vernachlässigt wird, sind die Gefühle. Genauso wie das Wahrnehmen und das Denken beeinflussen auch die Emotionen jede Handlung. Um in einer schwierigen Situation die Kontrolle zu behalten, besteht die Tendenz, die Wahrnehmung einzuschränken und voreilige Schlüsse zu ziehen. Diese Entwicklung lässt sich verhindern oder zumindest abschwächen durch eine regelmäßige, die Arbeit begleitende Reflexion etwa mithilfe von Coachs oder Trainings, in denen der Umgang mit Stress geschult wird.
„Eine wesentliche Voraussetzung für sicheres Handeln ist, dass Planerinnen, Entscheider und Operateure verschiedene Aspekte einer Situation korrekt wahrnehmen, zutreffend interpretieren und daraus adäquate Handlungen generieren.“
Die drei genannten Faktoren sind nicht nur für Einzelpersonen relevant, sondern auch für Teams. In Gruppen müssen jedoch noch weitere Aspekte beachtet werden, wenn eine erfolgreiche Sicherheitskultur gewährleistet sein soll. Dazu zählen u. a. Themen wie Kommunikation, das Koordinieren von Aufgaben, der Wille zur Kooperation und die individuelle Motivation. Die Kommunikation, der Austausch von Informationen, ist von zentraler Bedeutung. Sie hängt nicht nur von der zur Verfügung stehenden Technik wie E-Mail oder Mobilfunk ab. Sie wird vor allem von der Sprache und der Art und Weise, wie Dinge gesagt werden, beeinflusst. Zu Letzterem zählen neben dem verbalen Ausdruck auch Gestik, Mimik und Körperhaltung. Kommunikation ist demnach vor allem eine Frage des vertrauensvollen Beziehungsaufbaus, der respektvollen Klärung von Erwartungen und der offenen Absprache über Verhaltensweisen. Bleibt dies aus, sind Krisen nicht nur unvermeidbar, sondern auch nicht mehr steuerbar.
Der Aufbau einer Sicherheitskultur
Organisationen sind Gebilde, deren Arbeit durch das Wechselspiel von Mensch und Technik und den Austausch zwischen den handelnden Personen geprägt ist. Ziel muss es sein, eine Vereinbarung unter allen Beteiligten zu erreichen, wie die täglichen Herausforderungen zu bewältigen, komplexe Situationen zu steuern und Probleme zu lösen sind. Aufgabe der Führung ist es dann, die entsprechenden Kommunikationsmaßnahmen zu etablieren. Neben der Ausstattung mit geeigneter Technik gehören dazu vor allem der Aufbau einer Konfliktkultur, die Einführung sprachlicher Standards, die Festlegung gemeinsamer Werte und eine kontinuierliche Dokumentation der Abläufe.
„Evolutionstheoretisch wird die Bedeutung von Emotionen darin gesehen, dass sie einen Organismus vorbereiten, um die Anforderungen seiner Umwelt adaptiv zu bewältigen.“
Die Anforderungen an das Management sind hoch. Führungskräfte müssen eine Vielzahl von Tätigkeiten ausführen: informieren, überwachen, delegieren, anerkennen, Probleme lösen, beraten, vernetzen oder Teams zusammenstellen. Für den Aufbau einer Sicherheitskultur sind aber auch zahlreiche Mitarbeiter anderer Bereiche wie der Maschinenwartung, der Arbeitsplatzgestaltung oder des Controllings gefordert. Der Erfolg einer Zusammenarbeit hängt schließlich davon ab, ob alle Mitglieder der Belegschaft in den Prozess einbezogen werden, ob Teamarbeit gefördert wird und ob das Management die täglichen Abläufe kontrolliert.
„Kommunikation ist insbesondere in Extremsituationen in Gefahr, nur in eine Richtung – ohne Rückmeldung vom Empfänger – und reduziert zu erfolgen.“
Die Führungsebene unterscheidet meist zwei Hauptrisiken, die dennoch gemeinsam fokussiert werden müssen. Zum einen sind die gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeit und mögliche Unfälle an den Arbeitsplätzen in Betracht zu ziehen. Zum anderen besteht die Gefahr einer gestörten Produktion. Eine der größten Herausforderungen für die Führung ist das Managen von Unsicherheit. Manager müssen Abstand von der Vorstellung nehmen, dass sich eine Sicherheitskultur zentral überwachen und vollständig planen lässt. Am wirksamsten ist ein solches System dann, wenn es allen für die Sicherheit zuständigen Mitarbeitern ein hohes Maß an dezentraler Verantwortung überträgt und auf Arbeitsteilung setzt.
Neue Formen der Zusammenarbeit
Darüber hinaus muss das Management die Zusammenarbeit kontinuierlich den gegebenen Rahmenbedingungen anpassen. Im Zuge der zunehmenden Vernetzung der Arbeitsplätze durch Computertechnologie verändern sich auch die Anforderungen an die Sicherheitskultur. Laut wissenschaftlicher Untersuchungen lassen sich vor diesem Hintergrund vor allem mit drei neuen Formen der Zusammenarbeit Erfolge realisieren:
- Verteilte Zusammenarbeit: In einer Organisation arbeiten die Menschen an mehreren Standorten an einer Aufgabe.
- Verteilte Arbeitsaufgaben: Eine Zentrale steuert die unterschiedlichen Aufgaben, die die Mitarbeiter an verschiedenen Standorten bewältigen.
- Organisationsübergreifende Zusammenarbeit: Mehrere Organisationen arbeiten an einem Thema, deren Inhalt und Aufgaben immer wieder neu vereinbart werden.
Komplexe Prozesse gestalten
Die Wirtschaft zeichnet sich heute in fast allen Branchen durch eine große Anzahl von Einflussfaktoren, vielfältige Informationen und eine oftmals weltweite Vernetzung aus. Um in diesem komplexen Arbeitsumfeld erfolgreich sein zu können, bietet sich vor allem die Standardisierung von Abläufen an. Regeln, vereinheitlichte Technik und definiertes Verhalten erleichtern die Zusammenarbeit. Eine zu starre Normierung allerdings, die individuelle Handlungsstile unberücksichtigt lässt, kann die Flexibilität einer Organisation einschränken und Fehler provozieren.
„Kommunikation heißt, das eigene Denken und Handeln in eine Beziehung zu anderen Personen zu bringen.“
Der Umgang mit Komplexität erfordert bestimmte Fähigkeiten der Mitarbeiter, z. B. ein hohes Fachwissen, Stressresistenz, Teamarbeit, Kommunikationskompetenz, realistische Selbsteinschätzung und Konfliktfähigkeit. Eine regelmäßige Schulung der Manager und Mitarbeiter ist daher unerlässlich. Bieten Sie nicht nur Vorträge und Computersimulationen an, sondern legen Sie besonderen Wert auf einen großen Praxisbezug etwa in Form von Planspielen oder Trainings an echten Maschinen. Zudem verlangt das Thema Sicherheit, die Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeiter zu fördern. Der Umgang mit Stress und Ängsten steht ganz oben auf der Liste der Anforderungen.