Das grösste Kapital
Viele Unternehmen stellen sich mit dem markigen Satz "Unsere Mitarbeiter sind unser grösstes Kapital" dar - doch in ihren Bilanzen tauchen Weiterbildungskosten auf der Verlustliste auf. Und beim tatsächlichen Wert einer Organisation wird meist bequem auf den Buchwert zurückgegriffen. Doch das Wissenskapital, die eigentlich wettbewerbsrelevante "Hardware" Ihres Unternehmens, ist unsichtbar und damit schwer messbar.
„Für die Millionen kleiner, privater Geldanleger, die nur mit einem Prospekt oder Jahresbericht und den Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen bewaffnet sind, ist das gegenwärtige System einfach unfair. Wie kann sich ein kleiner Anleger jemals die nuancierten, dynamischen Informationen beschaffen, die er oder sie braucht?“
Unter Wissen sind nicht staubige Keller voller Aktenordner zu verstehen, sondern die Vernetzung von Daten und Informationen zu einem Kontext, der Handlungen begleitet oder erst bewirkt. Besonders deutlich wird das bei Unternehmen der New Economy - ihr Kapital steckt in den Köpfen ihrer Mitarbeiter. Und vor den Blicken der Analysten hat sich dieses Kapital bisher in der Kluft zwischen Markt- und Buchwert eines Unternehmens verborgen - obwohl es zunehmend an Bedeutung gewinnt. Bilanzen enthalten keine Hinweise auf Gedächtnis, Traditionen und Philosophie einer Firma und alarmieren dementsprechend auch nicht, wenn Wissen in Form von fähigen Mitarbeitern massenweise das Weite sucht, wenn Fehlentscheidungen getroffen werden, wenn Kompetenzen verloren gehen.
Wurzelwerk
Das intellektuelle Kapital ist in der Tat das Fundament jeder Wirtschaft, ihr Wurzelwerk. Stellt man sich ein Unternehmen als einen Baum vor, dann werden in Organigrammen, Jahres- und Quartalsberichten sowie Firmenprospekten der Stamm, die Äste und Blätter dargestellt. Der intelligente Anleger untersucht diesen Baum auf der Suche nach reifen Früchten, die er ernten kann. Aber der wichtigste Teil des Baums ist unsichtbar, unter der Erde als Wurzelwerk. Blätter und Früchte zeigen uns, wie der momentane Zustand des Baumes ist - doch die Wurzeln zeigen uns, wie es dem Baum in nächster Zukunft gehen wird. Fäulnis und Schädlinge greifen hier frühzeitig an. Deshalb ist das Studium der Wurzeln so essenziell. In den "Wurzeln" eines Unternehmens stecken verschiedene Faktoren:
- Humankapital - sämtliches Wissen, Fähigkeiten, Schaffenskraft der einzelnen Mitarbeiter einer Firma, ihre Unternehmenskultur, Traditionen und Philosophie. Die Firma kann es nicht "besitzen" oder "verkaufen".
- Strukturkapital - die Hardware, Software, Datenbanken, sämtliche Patente, Verträge, Warenzeichen und Marken; alles, was im Büro bleibt, wenn das Personal nach Hause geht.
- Kundenkapital - Werte, die dem Unternehmen von aussen entgegengebracht werden.
„Diese agilen ‚virtuellen’ oder ‚imaginären’ Firmen, wie sie genannt werden, pflegen in ihrer geistigen Mitte eine ganz andere Vorstellung davon, was ein Vermögenswert ist. In einer Welt, in der Forschung und Herstellung und Vertrieb von einem Partner in einer strategischen Allianz oder sogar von einem Kunden ausgeführt werden können, bieten die traditionellen Bilanzposten wie Werk, Ausrüstung/Maschinenpark und Grundbesitz nur noch wenig Einsicht in die gegenwärtige Wettbewerbsfähigkeit oder zukünftigen Gewinnaussichten einer Firma.“
Die drei bilden zusammen das Wissenskapital. Es beinhaltet auch so latente Werte wie Kundentreue oder Mitarbeiterqualifikation, die über Jahre hinweg eine Unternehmensbilanz nicht zu beeinflussen vermögen - für die Zukunft aber ganz entscheidend sind. Wissenskapital offen zu legen heisst, die Vergangenheit, die sich in Bilanzen und messbarem Vermögen darstellt, durch die Zukunft und das Finanzielle durch das Nicht-Finanzielle auszugleichen.
„Aber irgendwie bewertet der Markt die unsichtbaren Vermögenswerte doch - wenn auch nur durch Ahnungen und Intuitionen. Und einige dieser qualitativen Vermögenswerte scheinen für unbestimmte Zeit im Äther zu verweilen, um erst Jahre, nachdem der Markt sie berüchsichtigt hat, in Bilanzposten umgewandelt zu werden.“
Die vorhandenen Kontrollinstrumente innerhalb der Wirtschaft beruhen vorwiegend auf der Bewertung von Zahlen. Da inhaltliche Aspekte dabei ignoriert werden, ergeben sich Nachteile:
- Immaterielles Vermögen wird gar nicht oder zu oberflächlich gemessen.
- Es wird sogar das Falsche gemessen - durch die Fokussierung auf finanzielle Aspekte werden nur die Wirkungen, nicht aber die Ursachen entdeckt. Sofern Fähigkeiten gemessen werden, handelt es sich um individuelles, nicht aber kollektives Wissen. Im Rahmen des Wissenscontrollings werden häufig Inputs wie z. B. der Ausbildungsaufwand protokolliert, nicht aber die Outputs, d. h. was diese Ausbildung überhaupt bringt.
- Der falsche Massstab wird angelegt - immaterielles Vermögen wiegt weniger als materielles, und qualitative Grössen, wie etwa die Kundenzufriedenheit, werden zugunsten quantitativer Massstäbe vernachlässigt. Oft werden Abteilungen im Unternehmen untereinander verglichen und nicht gegenüber Mitbewerbern.
- Oft erfolgen Messungen automatisch und ohne Bezug zur aktuellen Strategie.
Der Skandia-Navigator
1995 stellte das skandinavische Versicherungsunternehmen Skandia unter Projektleitung von Leif Edvinsson (einem der beiden Autoren dieses Buches) ein Instrument zur Messung von Wissenskapital vor. Vorausgegangen war in den 80er Jahren die Feststellung des Managements, dass die traditionellen Managementtheorien nicht mehr mit der Entwicklung von Dienstleistungsunternehmen korrelierten. Der Bedeutung von Wissen gerade in diesen Branchen fand nicht genügend Niederschlag in den Analysen. Herausgefordert, solche "unsichtbaren" Faktoren sichtbar zu machen, schuf Skandia Anfang der 90er Jahre einen Unternehmensbereich für intellektuelles Kapital (IK) = Wissenskapital.
Fünf Stockwerke
Der Skandia-Navigator ist ein Gebäude von fünf eigenständigen Stockwerken: Als Dach über allem thront der Finanzfokus inklusive Bilanz, darunter lagern die vier Aspekte intellektuellen Kapitals: Kunden- und Prozessfokus, der Fokus Erneuerung und Entwicklung und als Herzstück der Humanfokus.
„Gibt es viel ungenutztes, unangezapftes Potenzial innerhalb der Grenzen des Strukturkapitals? Würde diese Situation bei physischem Kapital auftreten, wäre z. B. ein Lkw nur 50 Prozent der Zeit ausgelastet, würde das Management sofort darauf aufmerksam werden. Aber da Strukturkapital in der traditionellen Buchführung vorwiegend unsichtbar ist, wird seine Verschwendung gewöhnlich ignoriert.“
Finanzfokus: Der Finanzfluss ist der konkreteste Hinweis auf den Unternehmenswert. In ihm manifestieren sich Gehälter, Prämien, Gewinne. Er bietet auch das beste Rückmeldesystem, um die Effizienz des jeweiligen Fokus zu messen. Um die Unmengen von Daten zu filtern, gilt es geeignete Messwerte zu finden, die dieses Dickicht lichten. Um verwertbar zu sein, müssen alle diese Grössen vier Eigenschaften besitzen: Sie müssen zugleich relevant, genau, dimensionslos (also umfassend) und leicht zu bemessen sein. Dazu gehören z. B. Gesamtvermögen, Gesamtvermögen im Verhältnis zur Anzahl der Mitarbeiter, Einnahmen in Bezug auf Gesamtvermögen, Gewinne in Bezug auf Gesamtvermögen, Marktwert im Verhältnis zur Anzahl der Mitarbeiter, Wertschöpfung je Mitarbeiter usw. Nettogewinne sagen an sich noch nicht viel aus, sie können von der Zukunft geborgt sein, etwa durch Divisionsverkäufe aufgebläht etc. Unterteilen Sie sie in solche, die mit Produkten erwirtschaftet wurden, die vor weniger als zwei Jahren auf den Markt kamen, und in solche, die mit älteren Produkten erwirtschaftet wurden; gewinnen Sie einen Eindruck, ob sich Ihr Unternehmen auf vergangenen Erfolgen ausruht oder auf die kommenden Jahre vorbereitet.
„Falls es tatsächlich für zwei Drittel oder mehr des realen Wertes von Unternehmen steht, dann sehen wir uns nicht nur einer Ungleichheit in der Anlagegemeinschaft gegenüber, sondern einer Krise, die sich durch die ganze Wirtschaft zieht. Denn betrachtet man die rasende Schnelligkeit des technologischen Wandels, so fliegen wir blind in einen Orkan und verlassen uns dabei auf Instrumente, die die falschen Dinge messen.“
Kundenfokus: Unternehmen müssen einen wachsenden Teil ihrer Ressourcen aufwenden, um Kunden zufrieden zu stellen, so lange wie möglich zu binden, vielleicht sogar zur "aktiven Vollreferenz" zu bewegen. Dabei ist festzuhalten, wie das typische Kundenprofil aussieht, wie viel der gegenwärtige Kundenstamm umzusetzen bereit ist, wie lange Stammkunden dem Unternehmen im Schnitt treu sind, wie diese Indikatoren im Vergleich zum Branchendurchschnitt stehen, wie der Markt aussieht, wie Kunden informiert werden. Welche Rolle spielen der Kunde und seine Vorstellungen beim Produktdesign, bei Herstellung, Lieferung und Service? Welche Kundenbindungsprogramme gibt es? Wichtig ist auch die Feststellung, wie viele Kunden Ihr Unternehmen verloren hat. Gemessen werden auch die telefonische und elektronische Erreichbarkeit, das Verhältnis der Kontakte von Aussendienstmitarbeitern zur Zahl abgeschlossener Verträge, Supportkosten pro Kunde usw.
„In einem Zeitalter, in dem immer weniger Kunden mit gutem Potenzial verfügbar sind, ist der Verlust auch nur eines einzigen Kunden eine schwere Niederlage für jedes Unternehmen. Er bedeutet den Verlust von Jahren in diesen Kunden investierter Zeit und Geld, und vielleicht noch mehr Jahre Umsatzverluste.“
Prozessfokus: Dieses Teilgebiet beschäftigt sich mit Technologie als Werkzeug zur Unterstützung der Wertschöpfung. Neue Technologie anzuwenden, birgt zahlreiche Risiken für ein Unternehmen - sie erweist sich als schlecht oder sie setzt sich nicht durch, sodass eine Firma den Anschluss verliert. Unzureichende Technologie bestraft v. a. die risikobereiten, innovativen Unternehmen. Oder die Technologie wird falsch angewendet oder ist völlig überflüssig - in jedem Verwaltungsgebäude stehen solche Fehlgeburten herum und verstauben. Am schlimmsten ist es, neue Technologie auf alte Verfahren und Sichtweisen lediglich aufsetzen zu wollen. Es dürfen also für IK nur Prozesstechniken bewertet werden, die zum Wert des Unternehmens beitragen. Aufgenommen werden sollten u. a. die Zahl der Computer im Verhältnis zu der der Mitarbeiter, die IT-Kosten, die Zahl der Telearbeitsplätze im Verhältnis zu den konventionellen, die IT-Kenntnisse der Mitarbeiter, Kosten für IT-Inventar, dessen Hersteller nicht mehr am Markt ist, die IT-Leistung in Bezug auf die Zahl der Mitarbeiter usw.
„Das beste Unternehmen kann plötzlich eine desaströse Phase durchmachen, die jeden anderen Unternehmenswert überwiegen wird, aber selbst auf der erweiterten Liste über Monate oder noch länger nicht einmal dargestellt wird. Werden wir diesen Faktor X jemals finden? Nun, wir wissen, wo wir ihn suchen müssen: Draussen im Niemandsland, wo der Humanfokus an die anderen vier Fokussierungen stösst.“
Fokus Erneuerung und Entwicklung: Hier werden die zukünftigen Ressourcen des Unternehmens geschätzt und damit die nächste Zukunft ertastet. Dabei richtet sich das Augenmerk auf Kunden, die Attraktivität des Unternehmens auf dem Markt, das Aufkommen von neuen Produkten und Dienstleistungen aus dem Unternehmen, strategische Partner, die Infrastruktur und die Mitarbeiter. Hier finden sich Aspekte wieder wie ein Index über Befugnisse der Mitarbeiter, die Kosten zur Qualifikationsentwicklung des Personals, Forschungs- und Entwicklungskosten im Verhältnis zu den Verwaltungskosten, Trainingskosten im Verhältnis zur Zahl der Mitarbeiter, durchschnittliche Kundentreue zum Unternehmen in Monaten, Investitionen in die Entwicklung neuer Märkte, Beitrag des Management-Informations-Systems zum Umsatz des Unternehmens, Beitrag des Kommunikationsnetzwerkes zum Umsatz des Unternehmens usw.
„Nimmt man all dies zusammen - das Problem der Messung gegenwärtiger Mitarbeiterqualifikation kombiniert mit radikal neuen Arbeitsstilen und Managementmodellen - werden die Hindernisse beim Messen von Humankapital fast überwältigend. Trotzdem glauben wir, dass es machbar ist.“
Humanfokus: Während alle bisherigen Abschnitte des Navigators voneinander abhängen, durchdringt der Faktor Personal sie alle und liegt ihnen quasi erst zugrunde. Ohne effiziente Personalpolitik werden auch die anderen vier Aspekte nicht erfolgreich sein können. Die Bemessung ist hier am schwierigsten, da menschliche Verhaltensweisen und Fähigkeiten nicht ohne weiteres mit Zahlen eingestuft werden können. Messsysteme müssen gut definiert sein, damit nichts Bedeutungsloses irrtümlich aufgegriffen wird. Sie müssen ferner gut entwickelt sein, damit nicht andere Sachbereiche gestreift werden, und offen sein, um den verschiedenen Paradigmen, die den Personalblickpunkt des Unternehmens charakterisieren, gerecht zu werden.
„In der Zukunft, wenn Unternehmen komplett vernetzt sind und alle ihre Aktivitäten in Echtzeit überwachen, kann es machbar, ja sogar wünschenswert sein, fast zweihundert Variablen zu verfolgen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man sich aber kaum vorstellen, warum ein Unternehmen einen solchen Aufwand an Zeit und Geld betreiben möchte.“
Problematisch ist zudem, dass es nicht mehr den einheitlichen Typ Mitarbeiter gibt wie einst: Pendler kommen dem klassischen Typ am nächsten, da sie noch jeden Tag in das Unternehmen fahren. Doch mit zunehmenden Alternativen wandelt sich auch ihr Arbeitsumfeld und ihre Motivation; sie sind Basisstation für Telearbeiter (die von zu Hause oder einer Aussenstelle agieren), für Strassenkämpfer (die sich als Aussendienstler gänzlich von einer ortsgebunden Tätigkeit verabschiedet haben) und für Unternehmenszigeuner (die freiberuflich auf Tele- oder Strassenbasis für viele Unternehmen arbeiten und deren Loyalität gering ist). Keine dieser Gruppen kann wie die andere behandelt werden. Einem dementsprechend hohen Anspruch setzen sich die Messkriterien aus: Gemessen werden u. a. die jährliche Fluktuation, die jährlichen Pro-Kopf-Kosten für Schulungs-, Kommunikations- und Supportprogramme für festangestellte Vollzeitkräfte, der Prozentsatz von Managern, die nicht aus dem Land des Unternehmenssitzes kommen, die Anzahl der Teilzeitkräfte usw.
Berechnen
Insgesamt ergeben sich 164 Kennzahlen. Eine Auswahl von ihnen kann nun zur Berechnung verschiedener Koeffizienten dienen und den Stand und die Benutzung des Wissenskapitals deutlicher aufzeigen.