Allmachtsfantasien der Personalentwicklung
In den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten, so scheint es, hat die Bedeutung der Personalentwicklung innerhalb der Unternehmen permanent zugenommen. Personalabteilungen betrachten sich nicht mehr nur als Personalverwalter, sondern vor allem als Dienstleister und Personalberater. Der gestalterische Anteil ihrer Aufgaben, so die Selbsteinschätzung, überwiegt die administrativen Funktionen bei Weitem. Aber hält dieser hochgesteckte Anspruch auch der unternehmerischen Wirklichkeit stand? Konfrontiert man die Beurteilung der HR-Leute mit Umfragen über die Bedeutung der Personalentwicklung im Unternehmen, so lässt sich eine große Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und der Einschätzung etwa aus Sicht der Geschäftsführung erkennen. Dies führt zu der Schlussfolgerung: Die Personalentwicklung neigt offensichtlich zur Selbstüberschätzung, und es ist an der Zeit, dass sie auf den Boden der Tatsachen zurückfindet.
Floskeln und Trends
Es scheint, als gäbe es eine unerschöpfliche Vielzahl neuer bedeutsamer Errungenschaften im Bereich der Personalentwicklung. In Wirklichkeit aber sind viele dieser Neuentwicklungen lediglich neue Wortschöpfungen, hauptsächlich Anglizismen wie Wörter, die auf „-ing“ enden. Dabei fällt beispielsweise die inflationäre Vermehrung des Begriffs „Coaching“ auf. Ließen sich 1998 dazu noch 8000 Google-Einträge finden, so waren es 2004 acht Millionen und 2008 bereits über 80 Millionen. Bei den unzähligen Anbietern von Coachings, die es heute gibt, stellt sich die Frage, wie viele Trainer eigentlich von ihrem Beruf leben können. Die Wirklichkeit zeigt: kaum einer.
„Die Personalentwicklung muss sich des mannigfachen verbalen, theoretischen und praktischen Gestrüpps entledigen, um zu einem archimedischen Punkt zu gelangen, an dem sie die Hebel zur Wirksamkeit ansetzen kann.“
Von einer ähnlich großen Inhaltsleere zeugen die Theorien und Modelle, die sich um den Begriff der „sozialen Kompetenz“ ranken. So findet man neben der Sozial- noch die Fach- und Methodenkompetenz sowie deren Schnittmenge, die Handlungskompetenz. Damit nicht genug: Hinzu kommen Medienkompetenz, Veränderungskompetenz etc. Grafisch lässt sich die Vielfalt der Kompetenzen heute schon nicht mehr sinnvoll darstellen.
„Häufig bezieht sich die Innovation im Bereich der Personalentwicklung mehr auf Begriffsschöpfung und weniger auf Inhalte.“
Auch den so genannten Trends fehlt bei näherer Betrachtung oft die Substanz. Nach wie vor hält der Projekt-Trend an. Man vergleiche nur den Unterschied in der Zahl der Zuschriften, die man erhält, wenn man statt der Stelle eines „Projektierungsingenieurs“ die eines „Projektingenieurs“ ausschreibt: Offensichtlich wollen selbst Ingenieure heute unbedingt ins Projektmanagement; für Projektierung scheint sich dagegen kaum jemand zu interessieren, obwohl damit genau das Gleiche gemeint ist.
Wann ist ein Training gut?
Eine der gängigsten Methoden, als Trainer für seine Seminare gute Noten einzuheimsen, ist das Ausnutzen des Konformitätsdrucks. Selbst Teilnehmer, die ein Seminar letztlich als wenig überzeugend beurteilen, beugen sich in der Regel diesem Druck, da sie nicht negativ auffallen möchten. Als Trainer befindet man sich hier in einem Dilemma: Wenn man vor allem auf ein positives Feedback der Teilnehmer Wert legt, so ist es oft besser, sie bei den Trainingsmaßnahmen nicht allzu sehr herauszufordern. Will man jedoch tatsächlich Anstöße zur Weiterentwicklung geben, setzt man sich verstärkt der Gefahr einer negativen Bewertung aus. Ein positives Feedback zu erzielen, ist in der Regel nicht schwer, schließlich wird man durch den Effekt der Wirksamkeitsüberzeugung unterstützt. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Seminarteilnehmer tatsächlich bessere Ergebnisse erzielt, wenn er das Gefühl hat, eine Situation beeinflussen zu können. Zurück im Berufsalltag stellt sich dann aber allzu oft heraus, dass der Glaube, bestimmte Dinge im Griff zu haben, noch lange nicht dazu führt, dass man sie wirklich beherrscht. Auch was die Knalleffekte betrifft, die viele Trainer in ihrem Repertoire haben, wird man rasch wieder von der Wirklichkeit eingeholt.
„Im Bereich der Personalentwicklung wird sehr viel und sehr wirkungsvoll mit Suggestionen gearbeitet.“
Festzuhalten bleibt, dass allein die subjektive Einschätzung der Teilnehmer wenig über die Qualität eines Seminars aussagt. Konsequenterweise sollten Sie bereits vor einer geplanten Coaching- oder Trainingsveranstaltung überprüfen, ob deren Maßnahmen einen wissenschaftlich nachweisbaren Effekt haben. Mithilfe dieser Vorab-Evaluation kann man sich vor Trainingsmaßnahmen schützen, mit denen sich zwar alle Teilnehmer zufrieden zeigen, deren Wirksamkeit aber nach dem Ende des Seminars rasch verpufft.
Irrläufer und Knalleffekte
Zu den immer wiederkehrenden Methoden, um Mitarbeiter von der Überlegenheit der Psyche gegenüber der Realität zu überzeugen, gehört das Feuerlaufen. Dabei gilt es seit Langem als gesichert, dass Feuerlaufen (wenn man die richtigen Voraussetzungen und die richtige Lauftechnik dafür wählt) keinerlei Schmerzen erzeugt. Der Schmerzbewältigungsmechanismus, der hier angeblich greifen soll, tritt also gar nicht in Aktion. Gleiches gilt für das Pendeln, wobei ein Pendel durch bloße Willenskraft bewegt werden soll. Dieser Vorgang ist als so genannter Carpenter-Effekt schon lange bekannt. Das geheimnisumwitterte Pendeln ist nur die Folge davon, dass Nerven bereits dann Impulse an die Muskeln weitergeben, wenn wir uns die Bewegung nur vorstellen. Eine andere oft benutzte Methode ist das Outdoortraining. Dabei werden einfache Übungen oft mit geradezu mythischen Dimensionen aufgeladen. Tatsache ist, dass ein Outdoortraining durchaus eine positive Wirksamkeit auf die Teamarbeit haben kann. Diese besteht vor allem darin, dass Interaktion Attraktion erzeugt: Der gemeinsam erworbene Erfahrungsschatz aus solchen Unternehmungen führt dazu, dass sich das Betriebsklima verbessert.
Der Barnum-Effekt
Zu den erstaunlichsten psychologischen Erkenntnissen zählt die Entdeckung des Barnum-Effekts. Er besagt, dass Tests, in denen das Persönlichkeitsprofil von Menschen ermittelt wird, in der Regel das immergleiche Zustimmungsmuster aufweisen, und zwar völlig unabhängig davon, wie der jeweilige Test bzw. das Persönlichkeitsprofil des jeweiligen Testteilnehmers beschaffen ist. Ganz gleich, wie substanziell oder konkret das Profil auch ausfallen mag: Bei jedem Test fühlen sich 70 % der Teilnehmer „erstaunlich gut getroffen“, 20 % „ungefähr“ und 10 % „eher weniger“. Der Schluss, den man daraus ziehen muss: Der Nutzen eines Persönlichkeitstests kann nicht nach den Aussagen oder der Zustimmung einzelner Teilnehmer beurteilt werden. Häufig nutzen solche Tests vor allem einem: dem, der sie verkauft. In der Praxis können Sie nur solchen Personalentwicklungsmaßnahmen vertrauen, die auf fundierten wissenschaftlichen Kennwerten wie Objektivität, Reliabilität und Validität beruhen.
Feld-Wald-und-Wiesen-Trainer
Es ist heute sehr einfach, sich als Trainer oder Personalberater zu profilieren. Im Prinzip reicht es aus, eine Reihe von universellen Übungen anzubieten, in denen die Kreativität und das praktische Denken der Seminarteilnehmer geprüft werden, z. B. die beliebte Turmbauübung oder die NASA-Übung. Des Weiteren ist es von Vorteil, sich einige ebenso universell verwendbare Beraterbegriffe zunutze zu machen, beispielsweise „prozessorientiert“, „Eisbergmodell“, „Lernfelder“ oder „Nachhaltigkeit“. Allzu kritischen Teilnehmern kann man mit dem Argument begegnen, sie seien nicht kommunikativ genug oder sie wären immer noch in ihren alten Denkschablonen verhaftet.
Prozessberater und Systemiker
Viele Berater profilieren sich mittlerweile als so genannte Prozessberater. Im Gegensatz zur eher autoritären Expertenberatung, die auf die Verbreitung von Fachwissen und auf Ergebnisorientierung setzt, will der Prozessberater keine fertigen Lösungen anbieten, sondern hält sich mit seiner Meinung zurück und konzentriert sich darauf, das Wissen der anderen zu nutzen. Wenig kompetente Berater haben einen Gegensatz der beiden Beratungsformen konstruiert. Dabei hat der Vater der Organisationspsychologie, Edgar Schein, selbst betont, dass man beide Arten der Beratung beherrschen müsse, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Ähnliches gilt für die so genannte systemische Beratung, die gern in den Gegensatz zur linearen Betrachtungsweise gestellt wird. Auch hier wird ein Begriff lediglich dazu benutzt, einen künstlichen Dualismus zu schaffen, der sich aber in der Praxis weitgehend in nichts auflöst.
Rekrutierung von Führungskräften
Vereinfacht dargestellt, gibt es zwei Arten der Rekrutierung von Führungskräften, nämlich Infiltration und Kooptation. Bei der Infiltration werden die Bewerber nach festgelegten Kriterien ausgewählt. Diese orientieren sich in der Regel vor allem an Bildungs- und Wissensstandards. Die Auswahl wird nicht von Mitgliedern der Elite (z. B. der Geschäftsführung), sondern hauptsächlich von Mittelsmännern im Personalwesen vorgenommen. Die Bedeutung der Infiltration wird allerdings häufig überschätzt. Viel wichtiger ist die Kooptation, bei der die Elite die Selektion selbst vornimmt. Die kooptativen Aspekte spielen bei der Rekrutierung von neuen Eliten eine größere Rolle als Wissen und Bildung. Das heißt: Für Führungspositionen werden Mitarbeiter bevorzugt, die bereits eine hohe Anzahl von übereinstimmenden Merkmalen mit der Elite aufweisen, also z. B. Bewerber, die aus einer höheren sozialen Schicht stammen. Die Personalentwicklung wird nur deshalb mit ins Boot genommen, um die – im Grunde längst getroffene – Auswahl im Nachhinein zu rechtfertigen.
Potenzialeinschätzung
Ein zentraler Bestandteil der Rekrutierung von Führungskräften ist die so genannte Potenzialeinschätzung. Der selbst erhobene Anspruch, stets die besten Mitarbeiter zu rekrutieren, dient dabei jedoch oft nur dem Verschleiern der eigenen, begrenzten Möglichkeiten. Eine Potenzialeinschätzung lässt eher Rückschlüsse auf den Beurteilenden zu, als dass man mit ihr auch nur annähernd die Fähigkeiten des Bewerbers objektiv beurteilen kann. Wer als Personalentwickler ernsthaft behaupten will, Bewerber nach ihrer Leistungsfähigkeit auszuwählen, leidet offensichtlich unter Realitätsverlust.
Mythos Teamwork
Ein immer noch nicht ganz entzauberter Mythos ist der von der Effektivität der Gruppenarbeit. Er stammt aus den 70er Jahren, als Teamwork aus ideologischen Gründen dem Einzelkämpfertum vorgezogen wurde. Seitdem hat sich die Mär von der gemeinsamen Stärke durch eine Reihe von sozialpsychologischen Untersuchungen verflüchtigt bzw. in ihr Gegenteil verkehrt. Der so genannte Ringelmann-Effekt ist sogar bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Anhand von Beispielen aus den verschiedensten Bereichen konnte nachgewiesen werden, dass eine Gruppengesamtleistung immer geringer ausfällt als die Addition der Einzelleistungen.
Fazit
Weite Teile der Personalentwicklung funktionieren wie Nebelkerzen. Würde sie tatsächlich die Befugnisse haben, die ihr gelegentlich zugesprochen werden (etwa die Besetzung von Führungspositionen), dann wäre ihre Macht innerhalb der Unternehmen in der Tat immens. In der Realität ist sie jedoch meilenweit davon entfernt. Um diesen Anspruch dennoch aufrechtzuerhalten, bedient sie sich einer Vielzahl von Suggestionen und pseudowissenschaftlichen Modellen und Methoden, die allein darauf abzielen, die eigene Bedeutung abzusichern oder zu erhöhen. Damit gelingt es der Personalentwicklung, ihre Machtlosigkeit innerhalb der eigenen Organisation nach außen zu vernebeln und nach innen die Unfähigkeit zu verschleiern, tatsächlich Personal zu entwickeln.