Der Teufel steckt im Detail
Unregelmäßigkeiten in den Unternehmenszahlen aufzudecken gehört zu den vorrangigen Aufgaben eines Aufsichtsrats. Sollte man jedenfalls meinen. Zahlreiche Pannen kommen jedoch nie ans Tageslicht, weil sich Aufseher und Beaufsichtigte aus Imagegründen unter Ausschluss der Öffentlichkeit verständigen. In der Theorie ist das deutsche duale System, bestehend aus der Unternehmensführung einerseits und dem Aufsichtsrat andererseits, zwar sehr ausgeklügelt, und das vom Gesetz gesponnene Netz ist engmaschig genug. Der Teufel steckt aber im Detail, und das heißt: in der Praxis.
Mehr als reiner Selbstzweck
Die materiellen und gesellschaftlichen Kosten spektakulärer Insolvenzen der großen börsennotierten Unternehmen bilden die Schattenseite eines naturgemäß unvollkommenen Systems. Zu berücksichtigen sind auch die durch entgangene Gewinne entstandenen Opportunitätskosten, die zu vermeiden gewesen wären, hätten die Aufseher früher bzw. überhaupt reagiert. Das Hauptproblem des heutigen Unternehmertums ist die Prinzipal-Agent-Beziehung – dies, obwohl man die Trennung von Unternehmenseigentum und Unternehmensführung einst noch als Conditio sine qua non feierte. Heute weiß man, dass zwischen jeder überwachenden Instanz (Prinzipal) und jeder ausführenden Instanz (Agent) Informationsungleichgewichte herrschen, gegen die beinahe jedes gesetzliche Korsett wirkungslos bleibt. Diese Erkenntnis war die Geburtsstunde der deutschen Diskussion um die Corporate Governance, die „gute Unternehmensführung“. Deren Hauptzweck ist es, dass das Mehr an Information, das von Rechts wegen nicht eingefordert werden kann, freiwillig zur Verfügung gestellt wird.
Veränderungsdruck
Heute ist Corporate Governance eines der meistdiskutierten Managementthemen. Und das verwundert nicht: Einzelaktionäre gewinnen zunehmend an Einfluss, auch in traditionsreichen Familienunternehmen; Schieflagen zahlreicher Gesellschaften werden mit mangelhafter Aufsicht in Verbindung gebracht; Unternehmenskrisen provozieren eine steigende Aufmerksamkeit der Medien; und schließlich versuchen sich deutsche Unternehmen in ihren Finanzierungsstrategien dem Usus an den internationalen Finanzmärkten anzupassen.
Historisch gewachsen
Der Corporate-Governance-Ansatz musste sich im Lauf der Jahre erst herausbilden. Schließlich war der Eigentümer eines Unternehmens in betriebswirtschaftlichen Urzeiten meistens auch Geschäftsführer – eine Konstellation, die heute längst keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen kann. Aus dem angelsächsischen Raum stammt die Maxime des Shareholder-Value, der die Steigerung des Marktwerts des Unternehmens als oberstes Ziel postuliert. Damit steht der Anteilseigner im Mittelpunkt des Interesses.
„Die gesamte Volkswirtschaft wird letztlich davon profitieren, wenn der stärkste Governance-Mechanismus – die Überwachung durch den Aufsichtsrat – zur vollen Entfaltung kommt.“
In Deutschland jedoch stieß dieses Reizthema schnell auf Widerstände. Unternehmen distanzierten sich zusehends vom Shareholder-Value-Ansatz, was vom deutschen Gesetzgeber unterstützt wurde. Die deutsche Antwort darauf ist der Stakeholder-Ansatz, der alle Anspruchsgruppen berücksichtigt, so etwa auch Arbeitnehmer und Zulieferer. Das Ziel ist nicht mehr allein die Maximierung des Markwerts, sondern auch die gerechte Verteilung der Werte auf die Anspruchsberechtigten. Beide Ansätze – Shareholder und Stakeholder – laufen zusammen im Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK).
DCGK
Corporate Governance ist in Deutschland gesetzlich definiert. Das 1998 in Kraft getretene Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) sollte die sichtbaren Mängel bei der Umsetzung von Sorgfaltspflichten regeln. Vorausgegangen waren aufsehenerregende Unternehmensdebakel etwa der Metallgesellschaft. Eine weitere Krise – dieses Mal die Schieflage der Holzmann AG – rief im Jahr 2000 die Regierungskommission Corporate Governance auf den Plan. Die von der Kommission erarbeiteten Vorschläge sahen im Wesentlichen vor, den Aufsichtsrat stärker in die Pflicht zu nehmen, ihn aber auch besser zu informieren. Der Deutsche Corporate Governance Kodex wurde vom Bundeskabinett gebilligt.
Das unsichtbare Damoklesschwert
Der Kodex enthält sowohl gesetzliche Regelungen als auch Verhaltensempfehlungen und Anregungen. Bei Empfehlungen verwendet er das Wort „soll“, bei Anregungen „sollte“ oder „kann“. Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Gesellschaften müssen jährlich eine Entsprechungserklärung abgeben, in der erläutert wird, ob man dem DCGK gefolgt ist. Innerhalb der Erklärung legt das Unternehmen dar, wo der Kodex eingehalten und warum an anderen Stellen möglicherweise von ihm abgewichen wurde. Begründungen für Abweichungen werden vom Gesetz jedoch nicht verlangt. Allerdings hat sich die Praxis durchgesetzt, aus Investor-Relations-Gründen sehr wohl zu Abweichungen ausführlich Stellung zu nehmen. Ein Abschlussprüfer kontrolliert dann nur noch die formale Richtigkeit der Entsprechenserklärung. Was geschieht nun aber bei Abweichungen? Als „weiches Gesetz“ vertraut der DCGK auf die unsichtbare Macht des Marktes, d. h. darauf, dass Investoren diejenigen Unternehmen via Börse mit Kursabschlägen bestrafen, die sich nicht oder nicht hinreichend an den Kodex halten.
Nicht auf Lücke setzen
Der DCGK zeitigte durchaus gewisse Erfolge – oder zumindest Veränderungen. Die in den vergangenen Jahren zu beobachtende stärkere Einbindung des Aufsichtsrats in die operativen Entscheidungsprozesse der Unternehmen wird auf den Einfluss des Kodex zurückgeführt. Dies spiegelt die Abkehr von der herkömmlichen reinen Erfolgskontrolle wider. Die Informationsversorgung des Aufsichtsrats bleibt indes das große Manko. Die Frage ist: Muss er sich die Informationen holen, oder darf er erwarten, dass der Vorstand sie ihm von sich aus liefert? Die Herausforderung für beide Seiten lautet, den objektiv erforderlichen Informationsbedarf zu konkretisieren. So möchten weder Vorstand noch Aufsichtsrat am Ende mit einer Informationsbeschaffung befasst sein, bei denen die Daten weder vorhanden noch überhaupt nachgefragt und womöglich gar nicht erforderlich sind.
„Der Aufsichtsrat als Sparringspartner des Vorstands ist auch für die volkswirtschaftliche Wohlfahrt mitverantwortlich.“
Mehrere Hindernisse können die Arbeit erschweren:
- Informationsblockade: Der Vorstand liefert die notwendigen Informationen nur unvollständig, zu spät oder nicht qualitativ ausreichend.
- Unkenntnis des Informationsanspruchs: Der Aufsichtsrat kann selbst nicht genau definieren, welche Informationen er erhalten möchte.
- Subjektives Zufriedenheitsgefühl: Vorstand und Aufsichtsrat scheinen zufriedengestellt, obwohl die Informationsversorgung nicht ausreichend ist.
- Mangelnde Relevanz und Qualität von Informationen: Lieferant und Empfänger von Informationen schätzen deren Bedeutung falsch ein.
Die vier Säulen der Überwachungstätigkeit
Der Aufsichtsrat kontrolliert die Geschäftsführung nach vier Maßstäben:
- Wirtschaftlichkeit,
- Rechtmäßigkeit,
- Ordnungsmäßigkeit,
- Zweckmäßigkeit.
„Sowohl seitens des Eigenkapitalmarkts als auch des Fremdkapitalmarkts sind keine ausreichenden Impulse bezüglich der Corporate Governance zu erwarten.“
Mit Beachtung der Wirtschaftlichkeit wird die Kosten-Erlös-Situation ins Auge gefasst; Rechtmäßigkeit ist die essenzielle Grundlage der Existenz eines Unternehmens; ordnungsgemäß handelt der Vorstand, wenn er bei seinen Entscheidungen die Verfahrens- und die kaufmännischen Sorgfaltspflichten beachtet; und zweckmäßig sind Handlungen, wenn sie als plausibel gelten und einer inneren Folgerichtigkeit Genüge tun.
„Auch dort, wo der Kodex geltendes Recht beschreibt, gibt er dem Ziel leichter Verständlichkeit den Vorrang vor juristischer Präzision.“
Kann sich der Aufsichtsrat auf eine umfassende Informierung durch den Vorstand verlassen? Natürlich nicht. Die Erklärung dafür ist einfach: Das zu überwachende geschäftsführende Organ ist angehalten, Berichte zur eigenen Überwachung zu liefern – womit ein eindeutiger Interessenkonflikt vorliegt. Hinzu kommt die ohnehin nicht zu vermeidende Wissensasymmetrie zwischen der Geschäftsführung und dem Überwachungsgremium, das von dieser beaufsichtigt werden soll.
Vertrauen ist gut, Controlling ist besser
Controlling hilft dabei, die notwendigen Informationen zu generieren; es ist die Basis der Informationsversorgung. Seine Aufgaben sind das führungsorientierte Rechnungswesen, die Koordination der Budgetierung, Planung und Reporting, Risikomanagement und -controlling sowie die wertorientierte Unternehmensführung. Das Controlling stellt sicher, dass die Ziele des Managements gesetzt, so effizient wie möglich erreicht und durch die Bereitstellung der erforderlichen Informationsbasis begleitet werden. So analysiert das Controlling den Informations- und Datenverarbeitungsbedarf und entwickelt konkrete Konzepte sowie problembezogene Auswertungen.
„Die mit der Überwachung durch den Aufsichtsrat verbundenen Erwartungen zur Verbesserung der Corporate Governance können in der praktischen Umsetzung derzeit noch nicht als erfüllt angesehen werden.“
Die exakte praktische Umsetzung ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Der Kern der Sache besteht darin, dass dem Management steuerungsrelevante Informationen bereitgestellt werden, auf deren Grundlage dieses zielgerichtete Entscheidungen treffen kann. Dazu müssen Planung und Kontrolle Hand in Hand gehen, z. B. durch einen Soll-Ist-Vergleich, durch einen Vergleich von Mittelverfügbarkeit und Mittelverwendung oder durch einen Vergleich von Maßnahmen und Wirkungen.
Systemversagen beheben
Der DCGK hat zwar einige Pluspunkte, doch bei der praktischen Umsetzung der Überwachungstätigkeit hapert es noch oft. Eine Verbesserung wäre ein in sich geschlossenes Berichtssystem, dessen Hauptziele das Schließen der Informationsdefizite einerseits und die Verstärkung der Steuerungsmöglichkeiten durch den Aufsichtsrat andererseits sind. Als Überbau dient die strategische Planung, eine Art Übereinkunft zwischen Vorstand und Aufsichtsrat. Sie bildet den Rahmen für die operative Unternehmensplanung, die wiederum ihre operativen Ziele in eine Chancen-Risiken-Matrix einspeist, in die auch die strategischen Ziele eingetragen werden.
„Wenn wir einen kleinen Beitrag zur kritischen Selbstreflexion einiger Aufsichtsräte leisten können, hat sich der Einsatz gelohnt.“
Die so entstehende Balanced-Chance-and-Risk-Card als Kommunikations- und Steuerungselement enthält Messgrößen zur Zielerreichung sowie strategische Maßnahmen und Initiativen. Sie dient als Grundlage für die Berücksichtigung der Chancen- und Risikoabwägungen, wie sie andauernd in der operativen Unternehmensführung vorgenommen werden müssen. Ihre zentrale Zielgröße ist der Unternehmenswert. Somit kann die BCR-Card als kommentierter Bericht, der mit ausreichendem Vorlauf vor regelmäßigen Sitzungen des Aufsichtsrats erstellt wird, die Informationsdefizite zu beheben helfen – natürlich zusätzlich zum Geschäftsbericht, zur Bilanz und zur Gewinn- und Verlustrechnung.
Dr. Marc Diederichs ist Leiter des Risikomanagements der Beiersdorf AG. Martin Kißler ist Unternehmensberater der Controlling Innovations Center GmbH.