Unternehmensbewertung und der Sinn von Fallstudien
Um zu beurteilen, ob sich das Betreiben von Unternehmen oder auch einzelnen Projekten finanziell auszahlt, bieten die Wirtschaftswissenschaften etliche theoretische Grundlagen und Standardmethoden. Im konkreten Fall allerdings lassen sich diese Bewertungskonzepte nur selten eins zu eins umsetzen. Unternehmen und Projekte sowie das Umfeld, in dem sie existieren, sind viel komplexer, als irgendeine Theorie sie zeichnen könnte. Trotz allgemeiner Leitlinien ist jede Firmenbewertung letztlich ein individueller Prozess, der oft ganz neue Wege der Wertermittlung erfordert.
„Die Beschäftigung mit realen Fällen zwingt den Bewerter wegen deren hoher Komplexität zu konzeptionellen Weiterentwicklungen und damit zum Verlassen des Standardweges zur Unternehmensbewertung.“
Für den Aufbau einer umfassenden Bewertungserfahrung ist die Arbeit mit Fallstudien unerlässlich. Die Auseinandersetzung mit den realen Fällen fördert die Entwicklung kreativer Methoden, stellt die theoretischen Konzepte auf den Prüfstand und erleichtert das Verständnis des gesamten Bewertungsprozesses.
Die Überlebensfrage der Friedrich Deckel AG
Von seiner Gründung 1903 bis in die 80er Jahre entwickelte sich der Münchener Spezialist für Kameraverschlüsse Friedrich Deckel zu einem renommierten Anbieter für Werkzeugmaschinen vor allem in den Bereichen Bohren und Fräsen. 1989 musste das Unternehmen erstmals einen Verlust bekannt geben. Diese negative Entwicklung war keine momentane Krise, sondern Ausdruck einer generellen strategischen Schieflage der Firma, die eine Sanierung erforderlich machte. Maßnahmen wie die Konzentration aufs Kerngeschäft oder Vertriebskooperationen mit dem Konkurrenten Gildemeister konnten den Abschwung des Unternehmens nicht aufhalten. Die Anteilseigner schlugen die Verschmelzung mit dem Wettbewerber Maho AG vor.
„Weil die Deckel AG, sollten sich die Erwartungen realisieren, ab Mitte 1994 keine positiven Bestände an Eigenkapital mehr ausweisen könnte, muss die Frage gestellt werden, ob der Insolvenztatbestand der Überschuldung erfüllt sein könnte.“
Die Realisierung dieser Idee und damit die Chance auf neue Kredite setzten allerdings voraus, dass beide Unternehmen langfristig über ausreichend Eigenkapital verfügten und nicht von der Insolvenz bedroht waren. Beide Unternehmen mussten getrennt bewertet werden. Die Analyse der Finanzierungspläne der Friedrich Deckel AG kam zu dem Ergebnis, dass die gewünschte Neuverschuldung weder bezahlbar noch durch Eigenkapital gesichert war. Um das Insolvenzrisiko ausreichend zu senken, wäre eine Eigenkapitalquote von mindestens 20 % nötig gewesen.
Das Wagnis des größten Passagierflugzeugs der Welt
Ende April 2005 präsentierte der europäische Flugzeugbauer Airbus der Weltöffentlichkeit das Ergebnis seines ehrgeizigsten Projekts: den A380. Ob das größte Passagierflugzeug der Welt allerdings wegen dieser Superlative auch wirklich ein Erfolg ist, steht auf einem anderen Blatt. Hat sich die Investition für die Eigentümer ausgezahlt? Und wo befindet sich das Projekt aus wirtschaftlicher Sicht zwei Jahre nach dem Jungfernflug?
„Die Antwort auf die Frage, ob die Entscheidung für das A380-Projekt im Jahr 2000 im Interesse der Eigentümer war, liefert der Nettokapitalwert.“
Die ursprünglich von deutschen und französischen Unternehmen gegründete Firma Airbus wurde Anfang 2001 in einen eigenständigen Konzern umgewandelt. Eigentümer ist zu 80 % die European Aeronautic Defence and Space Company (EADS). An der EADS sind wiederum die Daimler AG, die französische Holdinggesellschaft SOGEADE, das spanische Unternehmen SEPI und zahlreiche kleinere institutionelle und private Anleger beteiligt. Um sich bei den internationalen Kunden besser gegen den amerikanischen Hauptkonkurrenten Boeing behaupten zu können, beschloss die Airbus-Führung im Jahr 2000 den Bau des A380. Das doppelstöckige Flugzeug kann je nach Ausstattung bis zu 656 Passagiere befördern, fast 200 mehr als Boeing mit dem Jumbojet 747. Die ersten Flugzeuge sollten im Jahr 2006 ausgeliefert werden. Ab 2008 sieht der Produktionsplan bis zu 45 Stück im Jahr vor. Bis Ende 2001 wurden 85 Flugzeuge bestellt.
„Der weitere Markterfolg des A380 hängt vor allem davon ab, in welchem Umfang die Großflughäfen zukünftig im internationalen Luftverkehr die Funktion als Drehscheibe übernehmen werden.“
Die Umsetzung des Projekts erfolgte allerdings nicht planmäßig. So begann die Produktion mit drei Monaten Verspätung. Risse bei Testflügen verzögerten die offizielle Zulassung. Und wegen weiterer Fertigungsschwierigkeiten legte Airbus nicht nur seine Frachtvariante erst einmal auf Eis, sondern musste auch die Auslieferung der Passagierflugzeuge verschieben. Als Folge stiegen die Entwicklungskosten und der Bedarf an Fremdkapital, das teilweise von europäischen Regierungen bereitgestellt wird.
„Üblicherweise kommen im Rahmen von Börsengängen Multiplikator- und DCF-Verfahren zum Einsatz.“
Eine umfassende Bewertung des Nettokapitalwertes und der geplanten Fremdfinanzierung sowie des angekündigten Absatzes von 1084 Maschinen bis zum Jahr 2030 zeigt, dass das Airbusprojekt für die Eigentümer nur dank der öffentlichen Subventionen rentiert. Wäre das Unternehmen auf eine reine Eigenfinanzierung angewiesen, hätte der Bau des A380 schon vor Jahren eingestellt werden müssen. Die Bewertung ergibt außerdem, dass eine dauerhafte Fortführung des Projekts für die Aktionäre inzwischen immer vorteilhafter ist als ein Abbruch, da früher geleistete Investitionen bei der Wertermittlung keine Rolle mehr spielen.
Erfolgreicher Sprung an die Börse
Der Frankfurter Flughafen streitet schon seit Längerem mit dem Londoner Heathrow Airport um die europäische Spitzenposition. Er zählte bereits im Jahr 2000 weltweit zu den zehn größten Umschlagplätzen für Fluggäste und Luftfracht. Die Betreiberfirma Fraport AG rechnete schon damals mit einem weiteren Ausbau des Geschäfts. Ihre wichtigsten Herausforderungen sah sie in der Steigerung der Effizienz einzelner Geschäftsbereiche, in der Ausweitung der Flughafenkapazitäten und in der zunehmenden Internationalisierung. Die Umsetzung dieser Projekte erforderte zusätzliches Kapital in großer Menge, und so entschieden sich die Aktionäre für den Gang an die Börse. Der Emissionskurs der rund 64 Millionen Aktien wurde auf 68,40 DM festgesetzt.
„Eine grobe Schätzung des internen Zinsfußes, dessen methodische Schwächen zu Recht beklagt werden, ist keine befriedigende Antwort.“
Inwieweit dieser Eröffnungskurs angemessen war, lässt sich anhand einer vereinfachten Bewertung ermitteln. Diese kann auf der Basis des aktuellsten Jahresabschlusses mit so genannten Multiplikatoren oder mithilfe des Discounted-Cashflow-Verfahrens (DCF) erfolgen. Im ersten Fall hängt der Emissionskurs von den gewählten Multiplikatoren wie EV/EBITA oder EV/EBIT ab. Der jeweilige Aktienwert liegt dann im Intervall von 58,99 bis 92,34 DM. Die DCF-Bewertung, die die Umsatzerlöse als Ausgangspunkt nimmt, ermittelt ein deutlich geringeres Intervall, das nahe am offiziellen Emissionskurs von 68,40 DM liegt. Ein wesentlicher Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse ist die Abhängigkeit des Aktienkurses von der Wachstumsrate.
Teure Kanalquerung
Eines der spektakulärsten europäischen Projekte des vergangenen Jahrhunderts war die Bahnverbindung zwischen dem französischen Festland und der britischen Insel. Im Jahr 1986 vereinbarten England und Frankreich den Bau eines Eisenbahntunnels unter dem Ärmelkanal. Auf Drängen der Briten sah der Vertrag als entscheidenden Punkt eine private Finanzierung des Projekts in Höhe von 4,8 Milliarden britischen Pfund vor. Damit war von Anfang an ein Börsengang der verantwortlichen Eurotunnel Group geplant, vorgesehen für Herbst 1987. Die Bauarbeiten des Tunnels sollten im darauffolgenden Dezember beginnen und die Anlage im Mai 1993 eröffnet werden. Das wichtigste Kriterium für die Kapitalgeber war die Umsatzprognose. Diese versprach eine sehr positive Entwicklung, da alle Berater von einem steigenden Marktvolumen des Personen- und Frachtverkehrs über den Ärmelkanal ausgingen. Sollte sich der Kurs günstig entwickeln – ausgehend von einem Emissionspreis von 3,50 ₤ – und sollten die Dividenden wie erwartet hoch sein, würden die Investoren trotz hohen Einkommensteuern deutlichen Gewinn machen.
„Man kann die Robustheit des Finanzplans z. B. durch Sensitivitätsanalysen testen, wie es Eurotunnel getan hat. Möglich sind auch Monte-Carlo-Simulationen.“
Anhand einer DCF-Bewertung lässt sich die Frage klären, ob sich die Zeichnung der 220 Millionen Eurotunnel-Wertpapiere zum damaligen Zeitpunkt für die Aktionäre tatsächlich lohnte. Dafür müssen die möglichen Überschüsse bei Eigen- und Fremdfinanzierung ermittelt werden. Das Ergebnis lautet eindeutig Ja, da der Wert des Eigenkapitals pro Aktie bereits Ende 1987 gemäß Berechnung 7,50 ₤ betrug. Die Bewertung zeigt allerdings auch, dass der Finanzplan des Eurotunnels eine Reihe von Risiken aufwies, die den Erfolg des gesamten Projekts sehr schnell infrage stellten.
„Wir können festhalten, dass – vor dem Hintergrund der getroffenen Annahmen – eine Zeichnung der Eurotunnelaktien anlässlich des Börsengangs Ende 1987 vorteilhaft scheint.“
Bereits in den ersten Monaten nach Beginn des Tunnelbaus traten die ersten Schwierigkeiten auf. Schnell wurde klar, dass die Risiken des Projekts deutlich höher waren als erwartet. Die Baukosten explodierten, die Eröffnung musste um mehr als ein Jahr verschoben werden, das tatsächliche Geschäft erfüllte nicht die Prognosen und die Eurotunnel Group stand vor der Insolvenz. Zusätzliche Fremdfinanzierungen konnten das Projekt zwar vor dem Scheitern retten, doch der Aktienkurs sank bis Anfang 2004 fast auf null. Damit nicht genug. In den Folgejahren drohte die nächste schwere Krise, und 2007 wurde ein Restrukturierungskonzept erforderlich. Die Sanierung sah die Gründung der neuen Holdinggesellschaft Groupe Eurotunnel SA vor, in deren Anteile alle Aktionäre ihre alten Wertpapiere umtauschen konnten. Ziel der Maßnahme war es, die Schulden deutlich zu reduzieren und den Weg für Kapitalerhöhungen und weiteres Fremdkapital frei zu machen. Die notwendige Bewertung musste klären, ob das Projekt überhaupt fortgeführt werden konnte, und falls ja, ob das Unternehmen in der Lage war, die neuen Forderungen der Geldgeber auch langfristig zu bedienen.
„Die Umsatzprognosen sind von entscheidender Bedeutung für die Kapitalgeber. Sollten sie deutlich unterschritten werden, fällt das Finanzierungskonzept in sich zusammen.“
Als Grundlage der Wertermittlung bietet sich der Adjusted-Present-Value-Ansatz (APV) an, eine Variante des DCF-Verfahrens. Ausgangspunkt ist dabei der Unternehmenswert bei Eigenfinanzierung. Dieser liegt zwar deutlich über einem möglichen Liquidationswert, womit eine Fortführung des Projekts für die Anteilseigner profitabel wäre. Aufgrund vertraglicher Bestimmungen müssten die Gläubiger jedoch auf einige ihrer Rechte verzichten. Dies wird noch deutlicher, wenn die Fremdfinanzierung vor und nach der Restrukturierung in die Bewertung mit einbezogen wird. In diesem Fall müssen die Anteilseigner die notwendige Restrukturierung unterstützen, wenn sie keinen Wertverlust ihrer Kapitalanlagen erleiden wollen.
Sanierung ohne Substanz
Ein weiterer aussagekräftiger Restrukturierungsfall ist die Bewertung der Philipp Holzmann AG. Rund 150 Jahre nach der Gründung stand der Baukonzern 1999 vor der Insolvenz. Nicht zuletzt durch den Einsatz der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder konnte aber noch rechtzeitig ein Sanierungsprozess gestartet werden. Die vereinbarten Maßnahmen umfassten z. B. die Gewährung eines Konsortialkredits, die Ausgabe von Wandelgenussrechten im Tausch gegen Forderungen der Banken oder die Mehrarbeit der Angestellten ohne zusätzlichen Lohn. Weiterhin wollte sich die Konzernführung auf die Kernkompetenzen konzentrieren, verlustreiche Beteiligungen bereinigen und die internen Abläufe optimieren.
„150 Jahre nach Gründung, nur Monate nach den Jubiläumsfeierlichkeiten, informierte der Baukonzern Philipp Holzmann die Öffentlichkeit am 15.11.1999 mit einer Ad-hoc-Meldung über das Vorliegen der Überschuldung.“
In der Unternehmensbewertung werden zunächst die Kennzahlen anhand der Diskriminanzanalyse beurteilt, dann die Residualgewinne berechnet und schließlich die Differenz aus Marktveränderung plus Dividenden sowie Kapitalerhöhungen plus Kapitalkosten ermittelt. Die Ergebnisse der Bewertung zeigen, dass die Fortführung des Unternehmens 1999 riskant war, da die Liquidität durch die Sanierungsmaßnahmen nur kurzfristig erhöht werden konnte.