Das östliche Mitteleuropa
Von den vielen Ländern, die bis zum Fall der Mauer einfach zum "Osten" gehörten, haben drei inzwischen den Status eines Anwärters für die mittelfristige Aufnahme in die Europäische Union. Zeitgemässer als die Bezeichnung "osteuropäische Länder" ist heutzutage die Bezeichnung "östliches Mitteleuropa" für diese drei Länder. Zum einen wird ihre geographische Lage damit erfasst, zum anderen auch ein gemeinsames kulturelles Erbe angesprochen: Katholizismus als Religion und lateinische Schriftzeichen (in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks sind der orthodoxe Glauben und das kyrillische Alphabet verbreitet). Wollen Sie Erfolg in diesen Ländern haben, müssen Sie deren jeweilige Landeskultur und Geschäftspraktiken kennen und beherrschen.
Die Deutschen aus östlicher Sicht
Aufgrund bestimmter Merkmale und Charaktereigenschaften, die bei manchen Volksgruppen verstärkt oder häufiger auftreten, ist es mit einer gewissen Vorsicht möglich, verallgemeinernd von den Polen, den Tschechen und den Ungarn und von den Deutschen auf der anderen Seite zu sprechen. In Deutschland wird nichts dem Zufall überlassen, in allen gesellschaftlichen Bereichen, im Privaten wie im Öffentlichen herrscht ein Sinn für klare Strukturen. Spontane Entscheidungen rufen Unbehagen hervor und ein grosses Sicherheitsbedürfnis ist weit verbreitet. Alles wird perfektionistisch durchorganisiert, in einer Unmenge von Verträgen reglementiert und die Angst vor Regelverstössen ist gross. Gleichzeitig ist ein starker Trend zur Individualisierung sowie ein enormer Leistungsdruck zu verzeichnen. Das Leben ist hart und anstrengend. Der zunehmende Konsum von Beruhigungs- und Aufputschmitteln spiegelt diese Tendenzen deutlich wider. Es fehlt an einer gewissen Gelassenheit und Grosszügigkeit seinen persönlichen Schwächen und denen der Mitmenschen gegenüber.
Polen, Tschechen, Ungarn
Um erfolgreiche Beziehungen mit Polen, Tschechien und Ungarn zu pflegen, müssen Sie sich stets folgenden Hintergrund vor Augen halten: Der grösste Unterschied zur deutschen Denkweise ist die Ausrichtung allen Handelns an der Gemeinschaft. Der Einzelne tritt zurück und ist nicht so wichtig. Die Menschen im östlichen Mitteleuropa haben zudem eine grundlegend andere Sozialisation erfahren. Jahrelang prägte die uneingeschränkte Macht totalitärer Regierungen die Gesellschaft. Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme entstand ein ideologisches Vakuum. Identitätskrise und Kulturschock waren die Folge. Die Kluft zwischen Ost und West, die zum ersten Mal deutlich sichtbar wurde, verursachte eine Welle der Unsicherheit, so mancher schämte sich insgeheim für sein Land. Heute wird überall versucht, Rückstände schnellstens aufzuholen und sich dem westlichen Standard anzugleichen. Dabei bleibt oft unberücksichtigt, dass für einen dauerhaften Erfolg neben dem Einsatz von Know-how auch die Verinnerlichung von demokratischen Grundsätzen vonnöten ist.
„Miteinander ins Geschäft zu kommen, miteinander erfolgreich zu verhandeln und Handel zu betreiben, erfordert Achtung vor der Kultur des anderen.“
Aufgrund der sozialistischen Vergangenheit ist im östlichen Mitteleuropa Verschiedenes von grosser Bedeutung: die Beachtung von Hierarchien, das Senioritätsprinzip, also der Respekt und der Vortritt für die erfahreneren, älteren Menschen anstelle des im Westen üblichen Leistungsprinzips. Einzig der Familie wird vor der Staatsgewalt ein relativ geschützter Raum und grosser Wert beigemessen. Der Zeitbegriff ist im östlichen Mitteleuropa etwas weiter gefasst als in Deutschland. Oberstes Motto: "Immer mit der Ruhe." Gerade bei Behördengängen sollten Sie auf langwierige Prozesse vorbereitet sein.
Der Umgang mit anderen
Zur Begrüssung schüttelt man sich die Hand. Jedoch nicht so häufig wie in Deutschland. Interpretieren Sie das Ausbleiben einer hingehaltenen Hand also nicht gleich als Geste der Missachtung. Die Anrede des Gegenübers ist vom Aufbau her mit der deutschen zu vergleichen, nur in Ungarn gibt es eine Besonderheit: Frauen werden mit ihrem Vornamen angeredet und gesiezt.
„Der Unterschied zwischen Sachlichem und Persönlichem ist im östlichen Mitteleuropa kaum vorhanden. Deshalb reagieren die Menschen oft gefühlsbetonter und spontaner.“
Werden Sie zu jemandem nach Hause eingeladen, müssen Sie unter allen Umständen ein Geschenk mitbringen. Frische Schnittblumen in ungerader Zahl, ein Mitbringsel aus Deutschland o. Ä. Beim Betreten einer Wohnung ist es üblich, sich die Schuhe auszuziehen. Tun Sie es, auch wenn Ihre Gastgeber darauf bestehen, dass Sie sich keine Umstände machen sollen! Wird Ihnen etwas zu trinken angeboten, können Sie es ruhig erstmal höflich ausschlagen. Eine sofortige Zustimmung kann als gierig missverstanden werden. Ihr Gastgeber wird es sich sowieso nicht nehmen lassen, Sie fürstlich zu bewirten und Ihnen trotz Ihres Widerspruchs fortwährend nachzuschenken. Bei Geschäftsessen wird Wert auf elegante, gute Kleidung gelegt. Während des Essens wird zunächst nur über Belangloses gesprochen. Hat sich die Atmosphäre gelockert, kommt der geschäftliche Teil zur Sprache.
„Wenn es Europa gut gehen soll, dann muss es allen Europäern gut gehen.“
Die Auswahl der korrekten Sprache ist sehr wichtig. Gleich, ob Sie direkt auf Deutsch kommunizieren oder mit Hilfe eines Dolmetschers - bemühen Sie sich stets um eine eindeutige, sachliche und einfache Sprache. Vermeiden Sie Anglizismen, Dialektausdrücke und lange Schachtelsätze. Sie sollten unbedingt versuchen, die Namen Ihrer einheimischen Gesprächspartner korrekt zu schreiben und auszusprechen. Das zeugt von Respekt für den anderen. Die Menschen im östlichen Mitteleuropa spielen gerne mit der Sprache: Doppeldeutigkeiten, Humor, Ironie und Sarkasmus gehören dazu. Die Deutschen werden hierbei oft als humorlos und steif empfunden. Kritik wird niemals direkt ausgesprochen. Dies käme einer persönlichen Beleidigung gleich. Auch wird versucht, direkten Konflikten aus dem Wege zu gehen. Die Konsensbereitschaft zum Wohle der Allgemeinheit ist sehr hoch.
Die Entsendung der deutschen Fachkraft
Es gibt prinzipiell zwei Arten von Geschäftsaufenthalten im östlichen Mitteleuropa: die Gruppe der Arbeitskräfte, die langfristig (über mehrere Monate oder Jahre) im Land bleiben soll und die Gruppe der Mitarbeiter, die nur für eine kurze Zeit einreisen. Eine Firma sollte sich ganz genau überlegen, welcher Mitarbeiter für den Auslandseinsatz der geeignete ist. Hierbei sind neben Fachkompetenz besonders kommunikative, sozial und interkulturell kommunikationsstarke Persönlichkeiten gefragt. Zusätzlich sollten auf jeden Fall vor der Abreise spezielle interkulturelle Seminare besucht werden, in denen erfahrene Dozenten eine gründliche Vorbereitung auf die Gepflogenheiten des Landes bieten. Das Erlernen einer Sprache aus dem östlichen Mitteleuropa ist sicherlich eine gute Investition. Vor allem wenn Sie beabsichtigen, länger im Land zu verweilen. Ansonsten können Sie schon grosse Begeisterung bei Ihren Gesprächspartnern auslösen, wenn Sie auch nur einzelne Sätze können. Man wird Sie stets für Ihre Begabung loben und sich über Ihre Bemühungen freuen.
„Fehler kann man sich nicht mehr leisten, schliesslich bezahlen wir alle dafür, wie der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme überdeutlich gezeigt hat.“
Auch für Fach- und Führungskräfte, die nur kurzfristige Aufenthalte absolvieren, ist eine gründliche Vorbereitung dringend ratsam: Aus Zeitmangel bleibt ihnen das Learning-by-Doing-Prinzip, d. h. die Möglichkeit, brauchbare persönliche Erfahrungen zu machen, verwehrt - sie sind ja teilweise nur für ein paar Stunden im Land. Sinnvoll ist es, wenn Sie an Ihrem neuen Posten von Ihrem Vorgänger eingearbeitet werden. So ersparen Sie sich letztlich auch eine Menge unangenehmer Erfahrungen.
Das Unternehmen vor Ort
Bei der Einstellung von einheimischen Kräften sollten Sie sich mehr Zeit nehmen, als Sie es gewöhnt sind. Die Menschen neigen nämlich oft zu übertriebener Bescheidenheit. Geben Sie ihnen die Möglichkeit, ihre Persönlichkeit und Fähigkeiten im Bewerbungsgespräch in das rechte Licht zu rücken. Beachten Sie, dass die Unternehmen oft starke, pyramidenförmige Hierarchien haben. Eine Unternehmenskultur setzt sich von oben nach unten durch, daher sind Sie gefragt, Neues in das Unternehmen einzubringen. Denken Sie daran: Unternehmensstruktur und Betriebsklima sind Ihre "Visitenkarte". Man wird Sie unterstützen, hinter Ihnen stehen oder massiv kontraproduktiv handeln. Wichtig ist auch der Identifikationsgrad Ihrer Mitarbeiter mit Ihrem Unternehmen. Sie müssen das Prinzip "Geht es der Firma schlecht, geht es mir auch schlecht" und umgekehrt verstanden und verinnerlicht haben. Als neuer Vorgesetzter werden Sie zunächst als Mensch bewertet, erst dann als Fachmann. Sie müssen unbedingt gute persönliche Beziehungen zu Ihren Mitarbeitern aufbauen. Seien Sie nett! Eine Sonderstellung nimmt in Ländern des östlichen Mitteleuropa die Sekretärin ein. Sie hat eine machtvolle Position inne, ein grosser Teil Ihres Erfolgs bei Kontakt und Kommunikation hängt von ihr ab.
Geschäfte und Verhandlungen
Ein typische Fehler von Seiten der deutschen Fachkraft kann eine gewisse Überheblichkeit sein, mit der Länder des ehemaligen Ostblocks betrachtet werden. Sie werden immer noch als homogene Einheit gesehen, als billig abschöpfbarer Markt. Von dieser als Ausbeutungsstrategie interpretierbaren Fehleinschätzung muss abgerückt werden. Langfristig wird sich stattdessen eine Win-Win-Strategie, bei der beide Seiten profitieren, auszahlen.
„Es wird oft der Fehler begangen, rein westliches Know-how zu übertragen, ohne zu prüfen, ob es in dieser Form im östlichen Mitteleuropa unter den gegebenen Rahmenbedingungen anwendbar ist.“
Vor Verhandlungen sollten Sie sich gründlich vorbereiten. Sammeln Sie Informationen zu Land, Leuten, Regionen und den Interessen Ihres Partners, Ihren eigenen Interessen, usw. Sie müssen sich ein möglichst genaues Bild von der Situation Ihres Gegenübers machen, um Ihr Geschäftsvorhaben entsprechend ausgestalten und anpassen zu können. Wählen Sie den Ort der Verhandlungen gründlich aus und schaffen Sie von vorneherein ein entspanntes Arbeitsklima. Benutzen Sie positive Formulierungen und eine klare Sprache. Vermeiden Sie es, direkte Aussagen mit "Ich will ..." zu beginnen. Ihre Geschäftspräsentation sollte nicht zu einer Unterhaltungsshow werden. Beim Einsatz von Präsentationstechniken ist in solchen Ländern weniger oftmals mehr.
„Der Ansatz für das Handeln der Menschen aus dem östlichen Mitteleuropa beruht auf einem Wir-Denken.“
Denken Sie positiv und legen Sie sich eine gewisse Unerschütterlichkeit zu! Positives Denken hilft Ihnen, Probleme besser zu bewältigen, und Ihre Grundstimmung überträgt sich unbewusst auch auf Ihr Umfeld. Typisch für die Länder des östlichen Mitteleuropa ist die Vermischung von Persönlichem und Sachlichem. Hierbei werden oft persönliche Gründe vorgeschoben, um sich auf subtile Art aus einer Misslage zu befreien. Lernen Sie dies zu verstehen und versuchen Sie, den unausgesprochenen Beweggründen Ihres Gesprächspartners nachzugehen.
„Die Natur der Menschen im östlichen Mitteleuropa, ihre in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen und der nach wie vor vorhandene soziale Zusammenhalt ermöglichen den Menschen, mit den Dingen des Lebens entspannter umzugehen.“
Alles in allem müssen Sie sich jedoch im Klaren darüber sein, dass es keine "Patentrezepte" für geschäftliche Beziehungen im östlichen Mitteleuropa gibt. Auch hier gilt das Sprichwort "Übung macht den Meister". Lernen Sie v. a. zunächst, sich für die Kultur Ihres Partners zu sensibilisieren. Vergessen Sie nicht: Sie müssen diese Menschen und ihre Gesellschaften nicht lieben, wohl aber respektieren. Ganz wichtig ist es, Kompromisse einzugehen, damit auf beiden Seiten Gewinne möglich werden. Wollen Sie Erfolg haben, müssen Sie das Sprichwort "Hilfst du mir, so helf’ ich dir" beherzigen. Bleiben Sie stets gelassen, bewahren Sie bei Verhandlungen immer die Ruhe. Wahren Sie Distanz zu sich, den anderen und Ihrem Geschäftsvorhaben. Und merken Sie sich: Die wichtigsten Gepäckstücke für Ihre Geschäftsreise ins östliche Mitteleuropa sind Humor, Geduld, Pfadfindergeist und v. a. Zeit.