Russland erobert die Welt
Russen sind mittlerweile überall anzutreffen, wo die Welt luxuriös ist. Über sieben Millionen fahren jedes Jahr in die EU. Ganze Hotels und Casinos nehmen sie in Beschlag, die Flugzeuge von und nach Moskau sind ausgebucht. Die Russen geben mehr Geld aus als die anderen, und sie protzen damit. Es kümmert sie herzlich wenig, dass ihnen schlechte Manieren nachgesagt werden. In Moskau kurven so viele Edelkarossen rum wie sonst nirgendwo; die russische Hauptstadt ist heute die teuerste der Welt. Die größten Yachten werden für Russen gebaut, die meisten Privatjets von ihnen geordert, Fußballclubs wie Chelsea London oder Schalke 04 werden kurzerhand gekauft, und in den Schlössern an der Loire fließt neuerdings Wodka.
„In wenigen Jahren ist die Zahl der Reichen in Moskau exorbitant nach oben gestiegen. In Moskau leben heute 50 Dollarmilliardäre und über 100 000 Dollarmillionäre.“
Der neue, laute russische Wohlstand, der den Westen bisweilen irritiert, ist beim einfachen Volk angekommen. Daher ist die gegenwärtige Führung populär. Vorwürfe des Westens, die auf das Demokratiedefizit zielen, stoßen bis weit in die russischen Eliten auf Unverständnis. „Demokratie“ bedeutet für sie nach der Erfahrung der 90er Jahre in erster Linie Korruption, Kriminalität und Armut.
Der neue Reichtum
Woher kommt dieser Reichtum auf einmal? Fachleute schätzen den Wert der russischen Rohstoffe und des Industriepotenzials auf rund 40 Trillionen US-Dollar. Zu sowjetischer Zeit wurde dieses riesige Vermögen von einer kleinen Funktionärskaste verwaltet, die mit den Milliarden aus den Rohstoffen eine Planwirtschaft künstlich am Leben erhalten und eine gewaltige Armee aufrüsten musste. Heute gehören diese Schätze einer neuen kapitalistischen Oberschicht, die hemmungslos davon profitiert. Jetzt erst zeigt sich, wie unermesslich reich Russland eigentlich schon immer gewesen ist.
Jelzin und die Oligarchen
Als die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken (UdSSR) zusammenbrach, musste die Wirtschaft neu organisiert werden. Präsident Boris Jelzin standen mehrere Wege offen: Entweder ein staatskapitalistischer Umbau à la China oder die völlige Öffnung der Grenzen und der Ausverkauf der russischen Wirtschaft an den Westen – oder eine dritte Variante: der Aufbau einer eigenen, nationalen Unternehmerschaft. Jelzin entschied sich für Letzteres. Aus einem Mafia-ähnlichen Auswahlprozess gingen die reichen und mächtigen Oligarchen hervor.
„Demokratie ist zu einem Schimpfwort geworden.“
Sie mischten sich bald schon in die Politik ein, und Jelzin musste sich mit ihnen verbünden, um 1996 wieder gewählt zu werden. Die Oligarchen unterstützen seine Präsidentschaft und bekamen zur Belohnung den Zugang zu den strategisch wichtigen Rohstoffbeständen und Industrieanlagen. Die Folge: Sie plünderten das Land systematisch aus und bunkerten ihr Geld im Westen. Dem Staat fehlte das nötige Kapital für Investitionen in Infra- und Sozialstruktur. 1998 kam es dann zu der bekannten Russlandkrise: Die Wirtschaft kollabierte, die westliche Geschäftswelt verließ fluchtartig das Land – und Jelzin musste eine Kurskorrektur vornehmen.
Putin und die Silowiki
Das war die Stunde der „Silowiki“, der Mitarbeiter des russischen Geheimdiensts FSB, die fast alle aus dem früheren sowjetischen KGB stammten. Ihr führender Kopf ist bis heute Wladimir Putin, den Jelzin 1999 zunächst zum Premierminister und dann zu seinem Nachfolger bestimmte. Mit Putin betrat ein Mann die russische Politbühne, der die Zügel des Landes, das im Chaos zu versinken drohte, fest in die Hand nahm und es in eine neue Richtung lenkte.
„Das in Petrodollars schwimmende Russland ist kaum an einer Wertegemeinschaft mit Europa interessiert.“
Mit den Silowiki versammelte Putin eine Garde von Leuten hinter sich, die – meist als Agenten – Erfahrungen im Ausland gesammelt hatten, die skrupellos waren und die eine Art staatspolitischer Moral einte: „Silowiki sind Leute, die nicht stehlen!“ Zudem kannten sich die wichtigsten Akteure aus Sankt Petersburg, wo Putin in der nachsowjetischen Ära Oberbürgermeister gewesen war. Viele, die später in Moskau Minister wurden, hatten zuvor wichtige Posten in Putins Sankt Petersburger Verwaltung bekleidet. Der neue starke Mann knöpfte sich die Oligarchen vor und machte ihnen unmissverständlich klar, dass sie sich aus der Politik herauszuhalten hatten.
Das Exempel Chodorkowski
Spätestens mit dem Fall des Öl-Barons Michail Chodorkowski, einst der reichste Mann Russlands, knickten die Oligarchen ein. Offiziell wurde der Inhaber des Energiekonzerns Jukos wegen Steuervergehen angeklagt; er wurde zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Gnadengesuche und die Intervention des Westens halfen nichts. Chodorkowskis eigentliches Vergehen bestand jedoch darin, dass er versucht hatte, eine Opposition aufzubauen. Außerdem wollte er seine Ölfirma mit Royal Dutch Shell zusammenlegen und sich damit unter den rechtstaatlichen Schutzschirm des westlichen Auslandes stellen. Fast das gesamte sibirische Öl wäre damit der Aufsicht des Kremls entzogen worden. Das wollte Putin nicht zulassen.
Das System Putin
Indem er die Oligarchen zähmte, holte sich der Staat den Einfluss auf die wichtigsten Industrien wieder zurück. Einheimischen Unternehmern drohten die Steueraufsicht und die Sturmtruppen des Innenministeriums, ausländischen Firmen wurden unerfüllbare Umweltauflagen diktiert – so kamen die wichtigsten Konzerne wieder in die Hand des Staates. Im Gegensatz zur Ära Jelzin sind die „Freunde Putins“, die überall an den Schalthebeln der Industrie sitzen, nicht die Eigentümer dieser Betriebe. Wenn sie nicht „funktionieren“ oder zu sehr in die eigene Tasche wirtschaften, können sie jederzeit abberufen werden. Der Ausplünderung der russischen Volkswirtschaft durch Privatunternehmer hat Putin damit ein Ende gesetzt.
Die drei Motoren des Wiederaufbaus der russischen Wirtschaft
Die neue staatliche Lenkungshoheit nutzte Putin, um sich auf drei Felder zu konzentrieren: den Energiesektor, die Rüstungsindustrie und das Transportwesen.
- Der Energiekomplex: Die Ölindustrie war in den 1990ern fast komplett privatisiert worden, die Gasindustrie aber noch nicht. Hier setzte der Präsident den Hebel an. Der staatliche Konzern Gazprom wurde zum Zentrum der neuen Energiepolitik; er wurde zu einem transnationalen Multi ausgebaut, der auch die Ölindustrie wieder aufnehmen soll. Oligarchen wie der Öl-Magnat Roman Abramowitsch fügten sich der neuen Politik und verkauften ihre Konzerne zurück an den Staat, widerspenstige wie Chodorkowski landeten im Gefängnis. Ab 2006 bekamen auch die ausländischen Energiekonzerne wie BP oder Shell die neuen Spielregeln zu spüren. Stück für Stück eroberte der russische Staat die Hoheit über den Energiesektor zurück. Die enormen Gewinne aus diesem Bereich entlasteten die russische Staatskasse, wurden in Fonds gebündelt und anderweitig – auch im Ausland – investiert.
- Die Rüstungsindustrie: Als Putin an die Macht kam, bot nicht nur die russische Armee ein jämmerliches Bild, auch die dazugehörige Rüstungsindustrie lag am Boden. Doch die Wiederbelebung des militärisch-industriellen Komplexes wird nicht in erster Linie als Engagement für die Armee betrieben, sondern als Investment in Hochtechnologie. 70 % aller Forschungseinrichtungen finden sich in diesem Sektor. Das erinnert an Sowjetzeiten, als ausschließlich dort entwickelt, gebaut und exportiert wurde. Die Privatisierungen der Jelzin-Ära wurden rückgängig gemacht. 2007 hatte der Staat gut zwei Drittel der Waffenschmieden in seiner Hand, die Produktion kam wieder in Schwung, die Exporte nahmen zu: Heute liegt Russland erneut auf Platz zwei der Rüstungsexporteure – nach den USA.
- Der Transportkomplex: Russland ist das größte Land der Erde und sieht sich in Zukunft als Transitland, das Europa und Asien verbindet. Die Transsibirische Eisenbahn verläuft heute nicht nur von Moskau nach Wladiwostok, sondern sozusagen auch von Berlin zum Pazifik, und das in nur zwölf Tagen. Russland investiert denn auch gigantische Summen in den Ausbau der Eisenbahnen, der Straßen, der Flug- und Seehäfen.
„Putins Argument für die große Anzahl von Geheimdienstlern im Staatsapparat lautete: Diese Männer stehlen nicht.“
Noch kommt das Geld für die gigantischen Projekte vor allem von den Energieexporten. Doch langfristig soll die russische Wirtschaft umgebaut werden. Öl und Gas sollen dann nicht mehr nur verkauft, sondern im Land selbst weiterverarbeitet werden. Putins Ziel ist es, aus dem Energie-Imperium, das Russland bereits geworden ist, ein vollwertiges Industrieland zu machen.
Abgekühltes Verhältnis zum Westen
Zunächst bewegte sich Putin auf den Westen zu, er wollte Kooperation und Zusammenarbeit. Doch spätestens seit den Balkankriegen und den Nato-Erweiterung bis an Russlands Grenzen ist das Verhältnis gespannt. In seiner Rede zur 43. Münchner Sicherheitskonferenz 2007 nahm Putin kein Blatt mehr vor den Mund. Er kritisierte zum ersten Mal lautstark die Interventionspolitik der USA, wehrte sich gegen die Raketenpläne in Polen, erklärte sein Land für bedroht und wollte all das nicht mehr hinnehmen. Beobachter redeten von einem „zweiten kalten Krieg“.
„Für liberal gesinnte Bevölkerungskreise in Russland war die Auswahl Medwedews eine freudige Überraschung.“
Die Rede zeigte, dass der Westen die Chance vertan hatte, Russland zu integrieren. Hier sprach kein Aggressor, sondern ein enttäuschter Europäer. Putin stört die Doppelmoral des Westens, die Russland an Maßstäben von Demokratie und Liberalismus misst, welche der Westen selbst oft genug nicht einhält. Als Energie-Supermacht wird Russland künftig sein volles Gewicht in die Waagschale werfen. Die Ukraine bekam das nach ihrer pro-westlichen Revolution im harten Winter 2006 zu spüren, als Gazprom für einige Stunden den Hahn zudrehte.
Operation Nachfolger
Putin stützt seine Macht auf die Getreuen des Geheimdienstes und auf eine Popularität im Volk, das die Verdienste um den Wiederaufbau Russlands zu würdigen weiß. Er regiert wie ein Alleinherrscher, aber er möchte für Russlands Zukunft Verhältnisse etablieren, die garantieren, dass ein Wechsel an der Spitze nicht jedes Mal zur Staatskrise eskaliert. Daher kommt eine dritte Präsidentschaft – und damit ein Bruch der Verfassung – nicht in Frage. Langfristig versucht Putin ein Zweiparteiensystem aufzubauen, doch vorerst galt es, seine Nachfolge zu regeln.
„Lange Zeit wird kein anderer russischer Politiker in der Geschichte seines Volkes einen solch bedeutenden Platz einnehmen wie Wladimir Putin.“
Drei Kandidaten schickte Putin ins Rennen. Sergei Iwanow, Geheimdienstler und ehemaliger Verteidigungsminister, bekam den Auftrag, die russische Industrie mittels der Milliarden aus den Energieeinnahmen auf Hochtechnologie umzurüsten. Der „Technoparkdirektor“ erledigte seine Aufgabe gut und galt daher als Kronprinz. Dann ernannte Putin Viktor Subkow zum Premierminister, den „Finanzinspektor“. Subkow hatte das neue russische Finanzsystem aufgebaut. Das Rennen machte ein dritter: Dimitri Medwedew. Er gilt als „Sozialheimbauer“; mit Geldern aus dem Energiefonds sanierte er im Auftrag Putins das marode Sozialsystem Russlands. Medwedew gilt als gemäßigt und ist wegen der sozialen Geschenke populär. Die Beobachter glauben jedoch, dass er nur ein „technischer Präsident“ sein wird – ein bloßer Platzhalter. Nach Medwedew, so entsprechende Prognosen, werde wieder Putin antreten. Gut möglich: Die Verfassung verbietet nicht eine dritte Präsidentschaft generell, sondern nur eine dritte in Folge.