Russland gibt Gas

Buch Russland gibt Gas

Die Rückkehr einer Weltmacht

Hanser,


Rezension

Russland ist die große Unbekannte in Europas Osten. Die Westeuropäer beschäftigen sich kaum mit der Frage, was der Wandel von der sow­jetis­chen Weltmacht zur geschla­ge­nen Nation des Kalten Krieges bis hin zur Renaissance des Imperiums unter Putin für die russische Bevölkerung bedeutet. Alexander Rahr ist profunder Kenner dieses Um­bauprozesses, den er über Jahre – zum Teil vor Ort – beobachtet hat, In Russland gibt Gas breitet er sein Material aus, ebenso packend wie erhellend. Etwas mehr Struktur hätte dem stilistisch brillanten Buch allerdings gut getan; es leidet unter einer wenig ein­sichti­gen Gliederung und vielen Wieder­hol­un­gen. Außerdem hat der Autor vermutlich auf Iwanow statt auf Medwedew als Putin-Nach­fol­ger für die Präsidentschaft gesetzt. Das scheint ihn gehörig zu wurmen, so unwirsch wird der Ton in der zweiten Hälfte des Buchs. Nichts­destotrotz: Wer sich für die wirtschaftlichen Im­p­lika­tio­nen der Machtver­schiebung in­ter­essiert, aber sich in den letzten Jahren nicht näher mit Russland beschäftigt hat, wird Rahrs Kommentare mit Gewinn lesen, meint BooksInShort.

Take-aways

  • Die Russen sind wieder wer – wirtschaftlich wie politisch.
  • Demokratie steht bei den meisten Russen für Korruption, Armut und Kriminalität.
  • Russlands Reichtum liegt in den Rohstoffen. Er wird auf 40 Trillionen Dollar geschätzt.
  • Unter Boris Jelzin en­twick­el­ten sich die neuen Unternehmer zu mächtigen Oligarchen, die das Land ausplünderten.
  • Nach der Wirtschaft­skrise 1998 übernahmen die „Silowiki“ (Geheim­di­en­stler) und ihr führender Kopf Putin die Macht.
  • Die Silowiki drängten die Oligarchen zurück und statuierten am Öl-Magnaten Chor­dorkowski ein Exempel: Er wanderte ins Straflager nach Sibirien.
  • Putin und seine Geheim­di­en­st­brud­er­schaft ver­staatlichten die strate­gis­chen In­dus­triezweige und besetzten die wichtigsten Posten mit ihren Leuten.
  • Die Sektoren Energie, Rüstung und Transport wurden unter Kontrolle genommen und ausgebaut.
  • Putins Werben um den Westen wurde nicht erhört; jetzt setzt er wieder auf die Politik der Stärke.
  • Der neue Präsident Medwedew ist womöglich nur eine Zwischenlösung auf dem Weg zu einem erneuten Präsident Putin.
 

Zusammenfassung

Russland erobert die Welt

Russen sind mit­tler­weile überall anzutreffen, wo die Welt luxuriös ist. Über sieben Millionen fahren jedes Jahr in die EU. Ganze Hotels und Casinos nehmen sie in Beschlag, die Flugzeuge von und nach Moskau sind ausgebucht. Die Russen geben mehr Geld aus als die anderen, und sie protzen damit. Es kümmert sie herzlich wenig, dass ihnen schlechte Manieren nachgesagt werden. In Moskau kurven so viele Edelka­rossen rum wie sonst nirgendwo; die russische Hauptstadt ist heute die teuerste der Welt. Die größten Yachten werden für Russen gebaut, die meisten Privatjets von ihnen geordert, Fußballclubs wie Chelsea London oder Schalke 04 werden kurzerhand gekauft, und in den Schlössern an der Loire fließt neuerdings Wodka.

„In wenigen Jahren ist die Zahl der Reichen in Moskau exorbitant nach oben gestiegen. In Moskau leben heute 50 Dol­larmil­liardäre und über 100 000 Dol­larmil­lionäre.“

Der neue, laute russische Wohlstand, der den Westen bisweilen irritiert, ist beim einfachen Volk angekommen. Daher ist die gegenwärtige Führung populär. Vorwürfe des Westens, die auf das Demokratiede­fizit zielen, stoßen bis weit in die russischen Eliten auf Unverständnis. „Demokratie“ bedeutet für sie nach der Erfahrung der 90er Jahre in erster Linie Korruption, Kriminalität und Armut.

Der neue Reichtum

Woher kommt dieser Reichtum auf einmal? Fachleute schätzen den Wert der russischen Rohstoffe und des In­dus­triepoten­zials auf rund 40 Trillionen US-Dollar. Zu sow­jetis­cher Zeit wurde dieses riesige Vermögen von einer kleinen Funktionärskaste verwaltet, die mit den Milliarden aus den Rohstoffen eine Plan­wirtschaft künstlich am Leben erhalten und eine gewaltige Armee aufrüsten musste. Heute gehören diese Schätze einer neuen kap­i­tal­is­tis­chen Oberschicht, die hemmungslos davon profitiert. Jetzt erst zeigt sich, wie uner­messlich reich Russland eigentlich schon immer gewesen ist.

Jelzin und die Oligarchen

Als die Union der Sozial­is­tis­chen Sow­jet-Re­pub­liken (UdSSR) zusam­men­brach, musste die Wirtschaft neu organisiert werden. Präsident Boris Jelzin standen mehrere Wege offen: Entweder ein staatskap­i­tal­is­tis­cher Umbau à la China oder die völlige Öffnung der Grenzen und der Ausverkauf der russischen Wirtschaft an den Westen – oder eine dritte Variante: der Aufbau einer eigenen, nationalen Un­ternehmer­schaft. Jelzin entschied sich für Letzteres. Aus einem Mafia-ähnlichen Auswahl­prozess gingen die reichen und mächtigen Oligarchen hervor.

„Demokratie ist zu einem Schimpfwort geworden.“

Sie mischten sich bald schon in die Politik ein, und Jelzin musste sich mit ihnen verbünden, um 1996 wieder gewählt zu werden. Die Oligarchen unterstützen seine Präsidentschaft und bekamen zur Belohnung den Zugang zu den strategisch wichtigen Rohstoff­beständen und In­dus­triean­la­gen. Die Folge: Sie plünderten das Land sys­tem­a­tisch aus und bunkerten ihr Geld im Westen. Dem Staat fehlte das nötige Kapital für In­vesti­tio­nen in Infra- und Sozial­struk­tur. 1998 kam es dann zu der bekannten Rus­s­land­krise: Die Wirtschaft kollabierte, die westliche Geschäftswelt verließ fluchtartig das Land – und Jelzin musste eine Kursko­r­rek­tur vornehmen.

Putin und die Silowiki

Das war die Stunde der „Silowiki“, der Mitarbeiter des russischen Geheim­di­en­sts FSB, die fast alle aus dem früheren sow­jetis­chen KGB stammten. Ihr führender Kopf ist bis heute Wladimir Putin, den Jelzin 1999 zunächst zum Pre­mier­min­is­ter und dann zu seinem Nachfolger bestimmte. Mit Putin betrat ein Mann die russische Politbühne, der die Zügel des Landes, das im Chaos zu versinken drohte, fest in die Hand nahm und es in eine neue Richtung lenkte.

„Das in Petrodol­lars schwimmende Russland ist kaum an einer Wertege­mein­schaft mit Europa in­ter­essiert.“

Mit den Silowiki versammelte Putin eine Garde von Leuten hinter sich, die – meist als Agenten – Erfahrungen im Ausland gesammelt hatten, die skrupellos waren und die eine Art staat­spoli­tis­cher Moral einte: „Silowiki sind Leute, die nicht stehlen!“ Zudem kannten sich die wichtigsten Akteure aus Sankt Petersburg, wo Putin in der nach­sow­jetis­chen Ära Oberbürgermeister gewesen war. Viele, die später in Moskau Minister wurden, hatten zuvor wichtige Posten in Putins Sankt Pe­ters­burger Verwaltung bekleidet. Der neue starke Mann knöpfte sich die Oligarchen vor und machte ihnen unmissverständlich klar, dass sie sich aus der Politik her­auszuhal­ten hatten.

Das Exempel Chodor­kowski

Spätestens mit dem Fall des Öl-Barons Michail Chodor­kowski, einst der reichste Mann Russlands, knickten die Oligarchen ein. Offiziell wurde der Inhaber des En­ergiekonz­erns Jukos wegen Steuerverge­hen angeklagt; er wurde zu Zwangsar­beit in Sibirien verurteilt. Gnadenge­suche und die In­ter­ven­tion des Westens halfen nichts. Chodor­kowskis eigentliches Vergehen bestand jedoch darin, dass er versucht hatte, eine Opposition aufzubauen. Außerdem wollte er seine Ölfirma mit Royal Dutch Shell zusam­men­le­gen und sich damit unter den recht­staatlichen Schutzschirm des westlichen Auslandes stellen. Fast das gesamte sibirische Öl wäre damit der Aufsicht des Kremls entzogen worden. Das wollte Putin nicht zulassen.

Das System Putin

Indem er die Oligarchen zähmte, holte sich der Staat den Einfluss auf die wichtigsten Industrien wieder zurück. Ein­heimis­chen Un­ternehmern drohten die Steuer­auf­sicht und die Sturmtrup­pen des In­nen­min­is­teri­ums, ausländischen Firmen wurden unerfüllbare Umweltau­fla­gen diktiert – so kamen die wichtigsten Konzerne wieder in die Hand des Staates. Im Gegensatz zur Ära Jelzin sind die „Freunde Putins“, die überall an den Schalthe­beln der Industrie sitzen, nicht die Eigentümer dieser Betriebe. Wenn sie nicht „funk­tion­ieren“ oder zu sehr in die eigene Tasche wirtschaften, können sie jederzeit abberufen werden. Der Ausplünderung der russischen Volk­swirtschaft durch Pri­vatun­ternehmer hat Putin damit ein Ende gesetzt.

Die drei Motoren des Wieder­auf­baus der russischen Wirtschaft

Die neue staatliche Lenkung­shoheit nutzte Putin, um sich auf drei Felder zu konzen­tri­eren: den En­ergiesek­tor, die Rüstungsin­dus­trie und das Trans­portwe­sen.

  1. Der En­ergiekom­plex: Die Ölindustrie war in den 1990ern fast komplett pri­vatisiert worden, die Gasin­dus­trie aber noch nicht. Hier setzte der Präsident den Hebel an. Der staatliche Konzern Gazprom wurde zum Zentrum der neuen En­ergiepoli­tik; er wurde zu einem transna­tionalen Multi ausgebaut, der auch die Ölindustrie wieder aufnehmen soll. Oligarchen wie der Öl-Magnat Roman Abramow­itsch fügten sich der neuen Politik und verkauften ihre Konzerne zurück an den Staat, wider­spen­stige wie Chodor­kowski landeten im Gefängnis. Ab 2006 bekamen auch die ausländischen En­ergiekonz­erne wie BP oder Shell die neuen Spielregeln zu spüren. Stück für Stück eroberte der russische Staat die Hoheit über den En­ergiesek­tor zurück. Die enormen Gewinne aus diesem Bereich entlasteten die russische Staatskasse, wurden in Fonds gebündelt und anderweitig – auch im Ausland – investiert.
  2. Die Rüstungsin­dus­trie: Als Putin an die Macht kam, bot nicht nur die russische Armee ein jämmerliches Bild, auch die dazugehörige Rüstungsin­dus­trie lag am Boden. Doch die Wieder­bele­bung des militärisch-in­dus­triellen Komplexes wird nicht in erster Linie als Engagement für die Armee betrieben, sondern als Investment in Hochtech­nolo­gie. 70 % aller Forschung­sein­rich­tun­gen finden sich in diesem Sektor. Das erinnert an Sow­jet­zeiten, als ausschließlich dort entwickelt, gebaut und exportiert wurde. Die Pri­vatisierun­gen der Jelzin-Ära wurden rückgängig gemacht. 2007 hatte der Staat gut zwei Drittel der Waf­fen­schmieden in seiner Hand, die Produktion kam wieder in Schwung, die Exporte nahmen zu: Heute liegt Russland erneut auf Platz zwei der Rüstung­sex­por­teure – nach den USA.
  3. Der Trans­portkom­plex: Russland ist das größte Land der Erde und sieht sich in Zukunft als Transitland, das Europa und Asien verbindet. Die Transsi­birische Eisenbahn verläuft heute nicht nur von Moskau nach Wladiwostok, sondern sozusagen auch von Berlin zum Pazifik, und das in nur zwölf Tagen. Russland investiert denn auch gigantische Summen in den Ausbau der Eisenbahnen, der Straßen, der Flug- und Seehäfen.
„Putins Argument für die große Anzahl von Geheim­di­en­stlern im Staat­sap­pa­rat lautete: Diese Männer stehlen nicht.“

Noch kommt das Geld für die gi­gan­tis­chen Projekte vor allem von den En­ergie­ex­porten. Doch langfristig soll die russische Wirtschaft umgebaut werden. Öl und Gas sollen dann nicht mehr nur verkauft, sondern im Land selbst weit­er­ver­ar­beitet werden. Putins Ziel ist es, aus dem En­ergie-Im­perium, das Russland bereits geworden ist, ein voll­w­er­tiges In­dus­trieland zu machen.

Abgekühltes Verhältnis zum Westen

Zunächst bewegte sich Putin auf den Westen zu, er wollte Kooperation und Zusam­me­nar­beit. Doch spätestens seit den Balkankriegen und den Nato-Er­weiterung bis an Russlands Grenzen ist das Verhältnis gespannt. In seiner Rede zur 43. Münchner Sicher­heit­skon­ferenz 2007 nahm Putin kein Blatt mehr vor den Mund. Er kritisierte zum ersten Mal lautstark die In­ter­ven­tion­spoli­tik der USA, wehrte sich gegen die Raketenpläne in Polen, erklärte sein Land für bedroht und wollte all das nicht mehr hinnehmen. Beobachter redeten von einem „zweiten kalten Krieg“.

„Für liberal gesinnte Bevölkerungskreise in Russland war die Auswahl Medwedews eine freudige Überraschung.“

Die Rede zeigte, dass der Westen die Chance vertan hatte, Russland zu integrieren. Hier sprach kein Aggressor, sondern ein enttäuschter Europäer. Putin stört die Doppelmoral des Westens, die Russland an Maßstäben von Demokratie und Lib­er­al­is­mus misst, welche der Westen selbst oft genug nicht einhält. Als En­ergie-Su­per­ma­cht wird Russland künftig sein volles Gewicht in die Waagschale werfen. Die Ukraine bekam das nach ihrer pro-west­lichen Revolution im harten Winter 2006 zu spüren, als Gazprom für einige Stunden den Hahn zudrehte.

Operation Nachfolger

Putin stützt seine Macht auf die Getreuen des Geheim­di­en­stes und auf eine Popularität im Volk, das die Verdienste um den Wieder­auf­bau Russlands zu würdigen weiß. Er regiert wie ein Allein­herrscher, aber er möchte für Russlands Zukunft Verhältnisse etablieren, die garantieren, dass ein Wechsel an der Spitze nicht jedes Mal zur Staatskrise eskaliert. Daher kommt eine dritte Präsidentschaft – und damit ein Bruch der Verfassung – nicht in Frage. Langfristig versucht Putin ein Zweiparteien­sys­tem aufzubauen, doch vorerst galt es, seine Nachfolge zu regeln.

„Lange Zeit wird kein anderer russischer Politiker in der Geschichte seines Volkes einen solch bedeutenden Platz einnehmen wie Wladimir Putin.“

Drei Kandidaten schickte Putin ins Rennen. Sergei Iwanow, Geheim­di­en­stler und ehemaliger Vertei­di­gungsmin­is­ter, bekam den Auftrag, die russische Industrie mittels der Milliarden aus den En­ergieein­nah­men auf Hochtech­nolo­gie umzurüsten. Der „Technoparkdi­rek­tor“ erledigte seine Aufgabe gut und galt daher als Kronprinz. Dann ernannte Putin Viktor Subkow zum Pre­mier­min­is­ter, den „Fi­nanzin­spek­tor“. Subkow hatte das neue russische Fi­nanzsys­tem aufgebaut. Das Rennen machte ein dritter: Dimitri Medwedew. Er gilt als „Sozial­he­im­bauer“; mit Geldern aus dem En­ergie­fonds sanierte er im Auftrag Putins das marode Sozial­sys­tem Russlands. Medwedew gilt als gemäßigt und ist wegen der sozialen Geschenke populär. Die Beobachter glauben jedoch, dass er nur ein „technischer Präsident“ sein wird – ein bloßer Platzhalter. Nach Medwedew, so entsprechende Prognosen, werde wieder Putin antreten. Gut möglich: Die Verfassung verbietet nicht eine dritte Präsidentschaft generell, sondern nur eine dritte in Folge.

Über den Autor

Alexander Rahr ist Pro­gram­mdi­rek­tor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er beschäftigt sich als Poli­tik­ber­ater, Publizist und Fernsehkom­men­ta­tor mit Russland.