Umschlagplatz Neapel
Neapel ist das Zentrum Italiens – oder zumindest Süditaliens, vor allem wenn es um Warenumschläge geht. Beispielsweise passieren rund 20 % des Wertes der Textilimporte aus China die Hafenquais Neapels, aber gleichwohl 70 % der Warenmenge. Das ist auf den ersten Blick schwer verständlich. In Neapel können offenbar Waren existieren, ohne vorhanden zu sein – jedenfalls nicht für die italienischen Zollbehörden. Teilweise liefern die hochmodernen Containerschiffe Waren in einer derartigen Geschwindigkeit an, dass dem Zoll schlicht keine Zeit für eine eingehendere Kontrolle bleibt. Viele Güter bewegen sich durch Neapels Hafen, ohne Spuren zu hinterlassen. Und es sind vorwiegend chinesische Importe, die an den Behörden vorbeigeschleust werden. Zu den offiziellen Zahlen kann man noch mal mindestens die Hälfte dazurechnen. Ob gefälschte Designerware oder Turnschuhe – über den Hafen von Neapel kommen Modelle ins Land, die noch nirgendwo anders zu haben sind. Ohne den lästigen Ballast der Mehrwertsteuer werden sie bald einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Haute Couture
Edle Kleider erfordern edle Stoffe. Auch die finden irgendwie ihren Weg über den neapolitanischen Hafen. Und ihre Bestimmung ist vorgezeichnet, sie landen in den großen italienischen Modehäusern. Die Auftragsvergabe aber läuft anders ab, als Normalsterbliche vermuten würden: Vermittler der Modehäuser nennen den interessierten Kleiderproduzenten die Zahl der herzustellenden Kleidungsstücke. Die Produzenten geben ein Preis- und Terminangebot ab; bei Angeboten ihrer Konkurrenten können sie entscheiden, ob sie mithalten oder aussteigen. Die Vermittler wählen ein Angebot aus. Damit steht aber der Gewinner der Auktion noch nicht fest. Es geht darum, die geforderten Modelle in bester Qualität und kürzester Zeit zu liefern. Jeder, der bei dem von den Vermittlern angenommenen Angebot mithalten will, bekommt die nötigen Stoffe, doch nur der schnellste Hersteller wird letzten Endes bezahlt. Die anderen dürfen zwar den Stoff behalten, bekommen aber kein Geld – jedenfalls nicht von den Modehäusern. Wohl aber von der Camorra, die den im Wettbewerb unterlegenen Unternehmen ihre Waren abnimmt und sie als originalgetreue Fälschungen in Umlauf bringt.
Profis am Werk
„Camorra“ ist ein Name, den die neapolitanische Organisation selbst niemals verwenden würde. Man gehört zum „System X“ oder „Clan Y“ – andere Titulierungen stammen von Journalisten oder Staatsanwälten. Das System wird von einem Direktorium geleitet, statt von Bündnissen spricht man von Joint Ventures und die Vertriebszentren heißen Magazine. In der Textilindustrie sehen die Nobelmarken die Fälscher-Clans nicht etwa als Konkurrenz – im Gegenteil, diese verbreiten die sonst unerschwinglichen Produkte in allen Bevölkerungsschichten. Auf dem Laufsteg mögen echte Haute-Couture-Kleider vorgeführt werden, aber erst die Profifälscher bringen die Kleider wirklich an den Mann bzw. die Frau. Und das in Größen und Variationen, die die Nobelmarken aus Imagegründen gar nicht erst produzieren. Das Niveau des „Systems“ liegt also weit über klassischen Formen des Verbrechens wie z. B. der Erpressung. Die ist heute nur noch etwas für Gruppen, denen der Unternehmergeist fehlt und die ums Überleben kämpfen.
Hohe Gewinnmargen
Die Clans oder Systeme sind straff durchorganisiert. Auf einer ersten Ebene befinden sich Vertrieb und Finanzverwaltung, unter der Leitung der wichtigsten „Manager“ des Clans. Der Handel und Vertrieb beispielsweise von Drogen will sorgfältig geplant sein. Auf der zweiten Ebene folgen diejenigen, die den Stoff ankaufen, verpacken und den Vertrieb organisieren. Im Fall einer Verhaftung erhalten diese Organisatoren Rechtsbeistand, der ihnen vom obersten Management gestellt wird. Die militärische Komponente fehlt ebenfalls nicht: Kampfeinheiten stehen bereit, um ggf. die blutige Seite des Geschäfts abzudecken. Die Gewinnmargen sind exorbitant: Für ein Kilo Kokain bezahlt man dem Produzenten vielleicht 1000 €, dem Großhändler dann bereits 30 Mal so viel. Aus 30 Kilo werden nach dem Verschnitt 150, Marktwert 15 Millionen Euro. Je größer der Verschnitt, desto höher natürlich die Gewinne. Kommt es zwischen Clans zu einer Fehde, ist der Blutzoll oft hoch. Die Liste der Camorra-Toten zählt 3600 Leichen im Zeitraum von 1979 bis 2005 – so viele Menschen sind weder der sizilianischen Mafia noch der ETA in Spanien, noch der IRA in Irland zum Opfer gefallen.
Die Rolle der Frauen
Frauen spielen in den Clans eine wichtige Rolle. Für ein Mädchen ist die „mesata“ ein erster Erfolg – eine monatliche Zahlung, die der Clan leistet, wenn der Freund eines Mädchens im Gefängnis landet. Als Nachweis der Beziehung ist eine Schwangerschaft von Vorteil, aber kein Muss. Im Fall einer Verlobung besteht stets die Gefahr, dass ein anderes Mädchen beim Clan Ansprüche anmeldet. Geliebte wissen oft nichts voneinander, und das kann problematisch werden. Nur Heirat oder Kinder garantieren den sicheren Unterhalt. Es ist wie eine Art Kredit, den sich eine Frau ergattern kann. Auch können die Frauen selbst zu „Unternehmerinnen“, „Managerinnen“ oder „Generalinnen“ aufsteigen. Natürlich kann es auch schiefgehen und im Gefängnis enden: Frauen bürgen gemeinhin mit ihrem Körper.
Die schwarze Witwe
In die Geschichte eingegangen ist Anna Mazza, bekannt als „schwarze Witwe“. Sie profitierte von der Aura ihres verstorbenen Gatten Gennaro Moccia, was sie an die Spitze des Moccia-Clans beförderte. Dort hielt sie sich ganze 20 Jahre lang und gab den Racheengel. Ihr größter Trumpf: die Straflosigkeit, die traditionell den Frauen im Clan vorbehalten blieb. Anschläge oder Konflikte hatte sie nicht zu fürchten, selbst an der Spitze eines der mächtigsten Clans. Die Clan-Frauen waren zudem weniger darauf erpicht, ihre Macht zur Schau zu stellen oder sich hochzuarbeiten, indem Konkurrentinnen aus dem Weg geräumt werden. Frauen als Manager wie auch Frauen als Leibwächter genossen so gewisse geschlechtsspezifische Vorteile.
„Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. Durch den Hafen von Neapel.“
Doch nichts währt ewig. Im März 2004 fühlte sich Immacolata Capone, eine Ziehtochter von Anna Mazza und eine im Baugeschäft erfolgreiche Drahtzieherin, wohl etwas zu sicher, wagte sich auf fremdes Territorium vor oder war ganz einfach nur unvorsichtig. Als sie auf offener Straße erschossen wurde, verschwand der Sonderstatus der Frauen, die bis dahin noch eine Art Schutz genossen hatten, endgültig.
Waffenhandel
Statistiken bescheinigen dem Sturmgewehr AK-47, besser bekannt als Kalaschnikow, mehr Menschen getötet zu haben als die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, mehr als das HI-Virus oder die Beulenpest. Sadat, Ceausescu und Allende – sie alle starben im Trommelfeuer einer Kalaschnikow. Eine AK-47 funktioniert immer. Sie ist die Manifestation des freien Warenverkehrs. Die Camorra kontrolliert weite Teile des globalen Waffenhandels und bestimmt daher maßgeblich den Preis der Kalaschnikow. Die gut geölten Beziehungen zwischen der Camorra und Guerillakämpfern in aller Welt waren schon immer beidseitig profitabel. Lange Zeit beherrschte die Camorra sogar das Geschäft mit Leopard-Panzern. Von Südamerika bis zum Balkan: Die kampanischen Waffen sind irgendwo auf der Welt immer mit von der Partie.
Aus Zement gebaut
Den Waffen mag man ihre Gefährlichkeit ansehen, doch nichts wirkt in Italien so einschüchternd wie die gebürtige Herkunft aus Casal di Principe, der Hauptstadt der unternehmerischen Macht der Camorra. Will man angeben, stammt man aus Casal di Principe, will man sich tarnen, nennt man Neapel, Secondigliano oder einen anderen Vorort. Auf die 100 000 Einwohner kommen 1200 Verurteilte wegen Bildung einer mafiaähnlichen Vereinigung.
„Die chinesischen Waren unterlaufen die zeitliche Dimension, in der der Zoll seine Kontrollen durchführen kann.“
Zwei wichtige Camorra-Größen waren Sandokan Schiavone und Vincenzo De Falco. De Falco machte gemeinsame Sache mit der Polizei, und nachdem er seinen Gegner verraten hatte, fand man ihn von Kugeln durchsiebt. Vier Jahre tobte ein unerbittlicher Krieg zwischen den Parteien, bis es Schiavone gelang, dank seiner Zementkonsortien alle auf seine Seite zu ziehen – jeder Bauunternehmer braucht Zement, und so führte kein Weg mehr an Sandokan vorbei. Natürlich lieferten die Konsortien nicht nur Baustoff. Ihre Frachter verschifften Waffen an Länder, gegen die Embargos verhängt waren. Der Umsatz der Unternehmen der Familie Schiavone belief sich auf rund fünf Milliarden Euro. Ein entsprechend hohes Vermögen, auch wenn es illegal angehäuft war, garantierte zinsgünstige Kredite, die wiederum Dumpingpreise möglich machten. Erst ein Mammutprozess, der sich über sieben Jahre und 626 Anhörungen hinzog, brachte das unfassbare Ausmaß des Netzwerks ans Tageslicht. 21 Personen wurden zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Als Schiavone gegen die Ungerechtigkeit der Justiz loswetterte, schaltete man ihm kurzerhand das Mikrofon ab. Spätestens seit Schiavones Aufstieg ist bekannt, dass in Süditalien ein Bauunternehmen die Grundlage jedes Machtnetzwerks oder Wirtschaftsimperiums ist.
Hollywood in Italien – oder umgekehrt
Das Kino ist ein Vorbild, es liefert einen bestimmten Lebensstil. Der Archetypus des Hollywood-Mafioso kommt nicht aus Sizilien, sondern aus dem süditalienischen Kampanien, wie auch der reale Al Capone, der aus Castellammare di Stabia stammte. Brian De Palma widmete ihm den legendär gewordenen Kinofilm Scarface. Beim Howard-Hawks-Klassiker gleichen Titels aus den 1930ern erschien Capone noch höchstpersönlich am Set, um den Dreh wichtiger Szenen zu überwachen. Camorra-Killer räumen sogar ein, sich von Hollywood-Streifen inspirieren zu lassen, beispielsweise wenn es um das Ziehen einer Waffe oder eine bestimmte Art und Weise des Schießens geht.
Das Geschäft mit dem Müll
Auf Mülldeponien sammelt sich an, was vom Konsum übrig bleibt. Im Süden Italiens aber ist alles ein wenig anders. Auf Deponien lagern giftige Abfälle, illegal entsorgter Müll. Nirgendwo auf der Welt ist mehr illegaler Giftmüll zu finden als rund um Neapel. Auch im Müllgeschäft ist die Camorra europaweit führend. Es spülte in einem Zeitraum von vier Jahren geschätzte 44 Milliarden Euro in die Taschen der Clans. Ein Bericht des Innenministeriums aus dem Jahr 2002 bescheinigte den Verantwortlichen in den örtlichen Behörden einen Pakt mit gewissen Unternehmen und deren Managern mit dem Ziel, den Müllkreislauf unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Verantwortlichen kennen keine Skrupel – schließlich leben sie meist gar nicht lange genug, um die Folgen kontaminierten Abfalls am eigenen Leib zu spüren.
„Die Clans schaffen einfach alles von Nord nach Süd. Der Bischof von Nola nannte den Süden Italiens einmal die illegale Müllkippe des reichen, industrialisierten Nordens.“
Eine Gegend im Giftmüll ersticken zu lassen, ist einfach und billig, vor allem aber profitabel im gemeinsten Sinn. Egal ob nicht desinfizierte Feuchtabfälle, Knochen und Zähne oder bleihaltige alte Lire-Scheine – auf süditalienischen Äckern kommt alles wieder zutage. Während der Preis für regulär beseitigten Giftmüll zwischen 21 und 62 Cent pro Kilo schwankt, bieten Clans ihre Dienste schon für knapp zehn Cent an. Chemiefirmen, denen so eine Kostenersparnis von bis zu 80 % winkt, können oft nicht widerstehen. Ausgerechnet die Toskana, die den Umweltschutz auf ihre Fahne schreibt, spielt eine Schlüsselrolle in der illegalen Entsorgung: Ihr Abfall landet in Süditalien.