Gomorrha

Buch Gomorrha

Reise in das Reich der Camorra

Hanser,


Rezension

Das öffentliche Bild vom or­gan­isierten Verbrechen mag zwar von der sizil­ian­is­chen Mafia geprägt sein, doch diese ist gegen die südi­tal­ienis­che Camorra, so der Autor, kaum mehr als ein Knabenchor. Roberto Saviano, der inzwischen im Untergrund lebt, erhielt für seine Recherchen zu diesem Buch 2006 den Premio Viareggio, einen ital­ienis­chen Lit­er­atur­preis. Während die ital­ienis­chen Juroren vermutlich ausreichend Hin­ter­grund­ken­nt­nisse besitzen, um zwischen harten Fakten und Überze­ich­nung un­ter­schei­den zu können, ist davon beim deutschen Otto-Nor­mal-Leser höchst­wahrschein­lich nicht auszugehen. Die Frage, wo Savionas Buch nun Roman und wo Sachbuch ist, kann der Laie kaum beantworten. Nicht zuletzt, weil die Kapitel in sich abgeschlossen sind und damit oft zusam­men­hang­los erscheinen. Der rote Faden versteckt sich hinter blutigen Anekdoten. BooksInShort empfiehlt das Buch allen, die sich für die jüngere ital­ienis­che Geschichte oder für das or­gan­isierte Verbrechen in­ter­essieren. Und wer sich mit ein paar Räuber­pis­tolen für den nächsten Urlaub wappnen will („Prada, Rolex, alles echt, nur zehn Euro“), kann sich hier ebenfalls eindecken.

Take-aways

  • Neapel ist Italiens Zentrum für Warenumschläge. Dem Zoll fehlt jedoch die Zeit für eingehende Kontrollen.
  • Ob Haute Couture oder Turnschuhe – überall mischt die Camorra mit.
  • In Neapel werden Kleider in Größen und Variationen umgeschla­gen, die die Nobelmarken aus Imagegründen gar nicht produzieren.
  • Frauen spielen für die Camorra eine wichtige Rolle, sie können sogar in Führungspo­si­tio­nen aufsteigen.
  • In die Geschichte eingegangen ist Anna Mazza, die „schwarze Witwe“. Ganze 20 Jahre hielt sie sich an der Spitze des Moc­cia-Clans.
  • Die Camorra kon­trol­liert weite Teile des globalen Drogen- und Waf­fen­han­dels.
  • Lange Zeit beherrschte sie sogar das Geschäft mit Leop­ard-Panz­ern.
  • Ein Großteil der camor­rischen Wirtschafts­macht beruht auf Ze­men­tkon­sor­tien. Die Schiffe trans­portieren neben dem Zement auch Waffen an Embargoländer.
  • Im Geschäft mit illegal entsorgtem Müll ist die Camorra europaweit führend: Die Gewin­n­mar­gen sind exorbitant.
  • Der typische Hol­ly­wood-Mafioso kommt nicht aus Sizilien, sondern aus dem südi­tal­ienis­chen Kampanien.
 

Zusammenfassung

Um­schlag­platz Neapel

Neapel ist das Zentrum Italiens – oder zumindest Süditaliens, vor allem wenn es um Warenumschläge geht. Beispiel­sweise passieren rund 20 % des Wertes der Tex­tilimporte aus China die Hafenquais Neapels, aber gleichwohl 70 % der Warenmenge. Das ist auf den ersten Blick schwer verständlich. In Neapel können offenbar Waren existieren, ohne vorhanden zu sein – jedenfalls nicht für die ital­ienis­chen Zollbehörden. Teilweise liefern die hochmod­er­nen Con­tain­er­schiffe Waren in einer derartigen Geschwindigkeit an, dass dem Zoll schlicht keine Zeit für eine einge­hen­dere Kontrolle bleibt. Viele Güter bewegen sich durch Neapels Hafen, ohne Spuren zu hin­ter­lassen. Und es sind vorwiegend chinesische Importe, die an den Behörden vor­beigeschleust werden. Zu den offiziellen Zahlen kann man noch mal mindestens die Hälfte dazurechnen. Ob gefälschte De­sign­er­ware oder Turnschuhe – über den Hafen von Neapel kommen Modelle ins Land, die noch nirgendwo anders zu haben sind. Ohne den lästigen Ballast der Mehrw­ert­s­teuer werden sie bald einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Haute Couture

Edle Kleider erfordern edle Stoffe. Auch die finden irgendwie ihren Weg über den neapoli­tanis­chen Hafen. Und ihre Bestimmung ist vorgeze­ich­net, sie landen in den großen ital­ienis­chen Modehäusern. Die Auf­tragsver­gabe aber läuft anders ab, als Nor­mal­sterbliche vermuten würden: Vermittler der Modehäuser nennen den in­ter­essierten Klei­der­pro­duzen­ten die Zahl der herzustel­len­den Kleidungsstücke. Die Produzenten geben ein Preis- und Ter­mi­nange­bot ab; bei Angeboten ihrer Konkur­renten können sie entscheiden, ob sie mithalten oder aussteigen. Die Vermittler wählen ein Angebot aus. Damit steht aber der Gewinner der Auktion noch nicht fest. Es geht darum, die geforderten Modelle in bester Qualität und kürzester Zeit zu liefern. Jeder, der bei dem von den Vermittlern angenomme­nen Angebot mithalten will, bekommt die nötigen Stoffe, doch nur der schnellste Hersteller wird letzten Endes bezahlt. Die anderen dürfen zwar den Stoff behalten, bekommen aber kein Geld – jedenfalls nicht von den Modehäusern. Wohl aber von der Camorra, die den im Wettbewerb un­ter­lege­nen Unternehmen ihre Waren abnimmt und sie als orig­i­nal­ge­treue Fälschungen in Umlauf bringt.

Profis am Werk

„Camorra“ ist ein Name, den die neapoli­tanis­che Or­gan­i­sa­tion selbst niemals verwenden würde. Man gehört zum „System X“ oder „Clan Y“ – andere Tit­ulierun­gen stammen von Jour­nal­is­ten oder Staatsanwälten. Das System wird von einem Direktorium geleitet, statt von Bündnissen spricht man von Joint Ventures und die Ver­trieb­szen­tren heißen Magazine. In der Tex­tilin­dus­trie sehen die Nobelmarken die Fälscher-Clans nicht etwa als Konkurrenz – im Gegenteil, diese verbreiten die sonst uner­schwinglichen Produkte in allen Bevölkerungss­chichten. Auf dem Laufsteg mögen echte Haute-Cou­ture-Klei­der vorgeführt werden, aber erst die Profifälscher bringen die Kleider wirklich an den Mann bzw. die Frau. Und das in Größen und Variationen, die die Nobelmarken aus Imagegründen gar nicht erst produzieren. Das Niveau des „Systems“ liegt also weit über klassischen Formen des Verbrechens wie z. B. der Erpressung. Die ist heute nur noch etwas für Gruppen, denen der Un­ternehmergeist fehlt und die ums Überleben kämpfen.

Hohe Gewin­n­mar­gen

Die Clans oder Systeme sind straff dur­chor­gan­isiert. Auf einer ersten Ebene befinden sich Vertrieb und Fi­nanzver­wal­tung, unter der Leitung der wichtigsten „Manager“ des Clans. Der Handel und Vertrieb beispiel­sweise von Drogen will sorgfältig geplant sein. Auf der zweiten Ebene folgen diejenigen, die den Stoff ankaufen, verpacken und den Vertrieb or­gan­isieren. Im Fall einer Verhaftung erhalten diese Or­gan­isatoren Rechts­bei­s­tand, der ihnen vom obersten Management gestellt wird. Die militärische Komponente fehlt ebenfalls nicht: Kampfein­heiten stehen bereit, um ggf. die blutige Seite des Geschäfts abzudecken. Die Gewin­n­mar­gen sind exorbitant: Für ein Kilo Kokain bezahlt man dem Produzenten vielleicht 1000 €, dem Großhändler dann bereits 30 Mal so viel. Aus 30 Kilo werden nach dem Verschnitt 150, Marktwert 15 Millionen Euro. Je größer der Verschnitt, desto höher natürlich die Gewinne. Kommt es zwischen Clans zu einer Fehde, ist der Blutzoll oft hoch. Die Liste der Camorra-Toten zählt 3600 Leichen im Zeitraum von 1979 bis 2005 – so viele Menschen sind weder der sizil­ian­is­chen Mafia noch der ETA in Spanien, noch der IRA in Irland zum Opfer gefallen.

Die Rolle der Frauen

Frauen spielen in den Clans eine wichtige Rolle. Für ein Mädchen ist die „mesata“ ein erster Erfolg – eine monatliche Zahlung, die der Clan leistet, wenn der Freund eines Mädchens im Gefängnis landet. Als Nachweis der Beziehung ist eine Schwanger­schaft von Vorteil, aber kein Muss. Im Fall einer Verlobung besteht stets die Gefahr, dass ein anderes Mädchen beim Clan Ansprüche anmeldet. Geliebte wissen oft nichts voneinander, und das kann prob­lema­tisch werden. Nur Heirat oder Kinder garantieren den sicheren Unterhalt. Es ist wie eine Art Kredit, den sich eine Frau ergattern kann. Auch können die Frauen selbst zu „Un­ternehmerin­nen“, „Man­agerin­nen“ oder „Gen­er­alin­nen“ aufsteigen. Natürlich kann es auch schiefgehen und im Gefängnis enden: Frauen bürgen gemeinhin mit ihrem Körper.

Die schwarze Witwe

In die Geschichte eingegangen ist Anna Mazza, bekannt als „schwarze Witwe“. Sie profitierte von der Aura ihres ver­stor­be­nen Gatten Gennaro Moccia, was sie an die Spitze des Moc­cia-Clans beförderte. Dort hielt sie sich ganze 20 Jahre lang und gab den Racheengel. Ihr größter Trumpf: die Straflosigkeit, die tra­di­tionell den Frauen im Clan vorbehalten blieb. Anschläge oder Konflikte hatte sie nicht zu fürchten, selbst an der Spitze eines der mächtigsten Clans. Die Clan-Frauen waren zudem weniger darauf erpicht, ihre Macht zur Schau zu stellen oder sich hochzuar­beiten, indem Konkur­rentin­nen aus dem Weg geräumt werden. Frauen als Manager wie auch Frauen als Leibwächter genossen so gewisse geschlechtsspez­i­fis­che Vorteile.

„Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. Durch den Hafen von Neapel.“

Doch nichts währt ewig. Im März 2004 fühlte sich Immacolata Capone, eine Ziehtochter von Anna Mazza und eine im Baugeschäft er­fol­gre­iche Drahtzieherin, wohl etwas zu sicher, wagte sich auf fremdes Territorium vor oder war ganz einfach nur un­vor­sichtig. Als sie auf offener Straße erschossen wurde, verschwand der Son­der­sta­tus der Frauen, die bis dahin noch eine Art Schutz genossen hatten, endgültig.

Waf­fen­han­del

Statistiken bescheini­gen dem Sturmgewehr AK-47, besser bekannt als Kalaschnikow, mehr Menschen getötet zu haben als die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, mehr als das HI-Virus oder die Beulenpest. Sadat, Ceausescu und Allende – sie alle starben im Trom­melfeuer einer Kalaschnikow. Eine AK-47 funk­tion­iert immer. Sie ist die Man­i­fes­ta­tion des freien Waren­verkehrs. Die Camorra kon­trol­liert weite Teile des globalen Waf­fen­han­dels und bestimmt daher maßgeblich den Preis der Kalaschnikow. Die gut geölten Beziehungen zwischen der Camorra und Guerillakämpfern in aller Welt waren schon immer beidseitig profitabel. Lange Zeit beherrschte die Camorra sogar das Geschäft mit Leop­ard-Panz­ern. Von Südamerika bis zum Balkan: Die kam­panis­chen Waffen sind irgendwo auf der Welt immer mit von der Partie.

Aus Zement gebaut

Den Waffen mag man ihre Gefährlichkeit ansehen, doch nichts wirkt in Italien so einschüchternd wie die gebürtige Herkunft aus Casal di Principe, der Hauptstadt der un­ternehmerischen Macht der Camorra. Will man angeben, stammt man aus Casal di Principe, will man sich tarnen, nennt man Neapel, Sec­ondigliano oder einen anderen Vorort. Auf die 100 000 Einwohner kommen 1200 Verurteilte wegen Bildung einer mafiaähnlichen Vereinigung.

„Die chi­ne­sis­chen Waren unterlaufen die zeitliche Dimension, in der der Zoll seine Kontrollen durchführen kann.“

Zwei wichtige Camorra-Größen waren Sandokan Schiavone und Vincenzo De Falco. De Falco machte gemeinsame Sache mit der Polizei, und nachdem er seinen Gegner verraten hatte, fand man ihn von Kugeln durchsiebt. Vier Jahre tobte ein uner­bit­tlicher Krieg zwischen den Parteien, bis es Schiavone gelang, dank seiner Ze­men­tkon­sor­tien alle auf seine Seite zu ziehen – jeder Bau­un­ternehmer braucht Zement, und so führte kein Weg mehr an Sandokan vorbei. Natürlich lieferten die Konsortien nicht nur Baustoff. Ihre Frachter ver­schifften Waffen an Länder, gegen die Embargos verhängt waren. Der Umsatz der Unternehmen der Familie Schiavone belief sich auf rund fünf Milliarden Euro. Ein entsprechend hohes Vermögen, auch wenn es illegal angehäuft war, garantierte zinsgünstige Kredite, die wiederum Dump­ing­preise möglich machten. Erst ein Mam­mut­prozess, der sich über sieben Jahre und 626 Anhörungen hinzog, brachte das unfassbare Ausmaß des Netzwerks ans Tageslicht. 21 Personen wurden zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Als Schiavone gegen die Un­gerechtigkeit der Justiz loswetterte, schaltete man ihm kurzerhand das Mikrofon ab. Spätestens seit Schiavones Aufstieg ist bekannt, dass in Süditalien ein Bau­un­ternehmen die Grundlage jedes Macht­net­zw­erks oder Wirtschaft­sim­peri­ums ist.

Hollywood in Italien – oder umgekehrt

Das Kino ist ein Vorbild, es liefert einen bestimmten Lebensstil. Der Archetypus des Hol­ly­wood-Mafioso kommt nicht aus Sizilien, sondern aus dem südi­tal­ienis­chen Kampanien, wie auch der reale Al Capone, der aus Castel­lam­mare di Stabia stammte. Brian De Palma widmete ihm den legendär gewordenen Kinofilm Scarface. Beim Howard-Hawks-Klas­siker gleichen Titels aus den 1930ern erschien Capone noch höchstpersönlich am Set, um den Dreh wichtiger Szenen zu überwachen. Camorra-Killer räumen sogar ein, sich von Hol­ly­wood-Streifen inspirieren zu lassen, beispiel­sweise wenn es um das Ziehen einer Waffe oder eine bestimmte Art und Weise des Schießens geht.

Das Geschäft mit dem Müll

Auf Mülldeponien sammelt sich an, was vom Konsum übrig bleibt. Im Süden Italiens aber ist alles ein wenig anders. Auf Deponien lagern giftige Abfälle, illegal entsorgter Müll. Nirgendwo auf der Welt ist mehr illegaler Giftmüll zu finden als rund um Neapel. Auch im Müllgeschäft ist die Camorra europaweit führend. Es spülte in einem Zeitraum von vier Jahren geschätzte 44 Milliarden Euro in die Taschen der Clans. Ein Bericht des In­nen­min­is­teri­ums aus dem Jahr 2002 bescheinigte den Ve­r­ant­wortlichen in den örtlichen Behörden einen Pakt mit gewissen Unternehmen und deren Managern mit dem Ziel, den Müllkreislauf unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Ve­r­ant­wortlichen kennen keine Skrupel – schließlich leben sie meist gar nicht lange genug, um die Folgen kon­t­a­minierten Abfalls am eigenen Leib zu spüren.

„Die Clans schaffen einfach alles von Nord nach Süd. Der Bischof von Nola nannte den Süden Italiens einmal die illegale Müllkippe des reichen, in­dus­tri­al­isierten Nordens.“

Eine Gegend im Giftmüll ersticken zu lassen, ist einfach und billig, vor allem aber profitabel im gemeinsten Sinn. Egal ob nicht desin­fizierte Feuchtabfälle, Knochen und Zähne oder bleihaltige alte Lire-Scheine – auf südi­tal­ienis­chen Äckern kommt alles wieder zutage. Während der Preis für regulär beseitigten Giftmüll zwischen 21 und 62 Cent pro Kilo schwankt, bieten Clans ihre Dienste schon für knapp zehn Cent an. Chemiefir­men, denen so eine Kosten­erspar­nis von bis zu 80 % winkt, können oft nicht widerstehen. Aus­gerech­net die Toskana, die den Umweltschutz auf ihre Fahne schreibt, spielt eine Schlüsselrolle in der illegalen Entsorgung: Ihr Abfall landet in Süditalien.

Über den Autor

Roberto Saviano arbeitete als Journalist für Il Manifesto, den Corriere del Mezzogiorno und L’Espresso. Für Gomorrha erhielt er 2006 den Premio Viareggio.