Sind alle Schwäne weiß?
Bevor die Engländer Australien entdeckten, war man der festen Überzeugung, dass alle Schwäne weiß sind. Dann bekam man den ersten schwarzen Schwan zu Gesicht. Annahmen, die Hunderte von Jahren alt waren, entpuppten sich mit einem Schlag als fehlerhaft. Schwarze Schwäne sind deshalb eine treffende Metapher für Ereignisse, die unerhört erscheinen.
„Die moderne Welt wird von seltenen – sehr seltenen – Ereignissen dominiert.“
Sie besitzen drei Merkmale: Schwarze Schwäne sind Ausreißer, d. h. so vollkommen außerhalb unseres Erwartungshorizonts, dass wir sie als einmalige Ereignisse klassifizieren. Sie verändern unser Denken und damit unsere Welt. Und: Wir finden im Nachhinein immer doch noch Erklärungen für ihr Auftauchen. Der Erste Weltkrieg, der fundamentalistische Terror, der Computer, das Internet: Alle Ereignisse mit großen Nachwirkungen sind schwarze Schwäne. Das Erstaunliche: Wir tun alles, um sie zu ignorieren, um ihre Existenz zu leugnen – und um sie im Nachhinein als „ganz normal“ zu klassifizieren.
Das Triplett der Opazität
Geschichte ist opak, also undurchsichtig. Wir sehen immer nur das Ergebnis, aber nie die Entwicklungen, die dazu führen. Es ist wie im Restaurant: Das Gericht, das vor Ihnen auf dem Teller liegt, verrät nicht, welche Zutaten genau verwendet wurden. Dennoch neigen wir dazu, zu „platonisieren“, die Welt in übersichtliche Formen zu zerteilen und so ihre Komplexität zu reduzieren. Dabei fallen wir auf das „Triplett der Opazität“ herein:
- Wir glauben, zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Komplexes oder Zufälliges blenden wir einfach aus.
- Wir erliegen der retrospektiven Verzerrung, d. h. wir können die Entwicklungen erst im Nachhinein beurteilen, wie durch einen Rückspiegel betrachtet.
- Wir werten Fakten zu hoch und lassen uns von Experten leiten.
Reisen durch Mediokristan ...
Kennen Sie Mediokristan und Extremistan? Eine Reise in diese Länder lohnt sich; Sie erfahren eine Menge über zwei höchst unterschiedliche Arten von Wahrscheinlichkeiten und zufälligen Ereignissen.
„Die Logik des schwarzen Schwans macht das, was wir nicht wissen, viel bedeutungsvoller als das, was wir wissen.“
In Mediokristan regiert das Mittelmaß. Alles ist recht überschaubar und vorhersagbar. Stellen Sie sich 999 Menschen vor, die zufällig ausgewählt wurden. Nun fügen Sie dieser Gruppe den schwersten Menschen hinzu, den Sie sich denken können. Selbst wenn er 200 Kilo wiegen sollte, wird seine Masse nur einen kleinen Teil des Gesamtgewichts aller 1000 Teilnehmer dieses kleinen Experiments ausmachen. Wenn es darum geht, das Durchschnittsgewicht zu errechnen, wird Ihre Einflussnahme also kaum eine Rolle spielen – „Ausreißer“ wie der 200-Kilo-Mann sind zu vernachlässigen. Was man sich in Mediokristan allerdings nicht vorstellen kann, ist ein Mensch, der x-tausend Kilo wiegt.
... und Extremistan
Anders sieht es in Extremistan aus: Hier gibt es Extremwerte, die den Rest der Stichprobe bedeutungslos machen. Bill Gates mit seinen geschätzten 80 Milliarden Dollar Privatvermögen verdammt andere Millionäre zu einer Fußnote.
„Die derzeitige Ausgabe der menschlichen Rasse ist leider nicht dafür gemacht, abstrakte Dinge zu verstehen – wir brauchen einen Kontext.“
Oder: Versammeln Sie 1000 Autoren und stellen Sie dann noch die derzeit erfolgreichste Autorin, Harry-Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling, dazu. Sie wird die Stichprobe im Hinblick auf Auflagenstärke klar dominieren, denn ihre millionenfach verkauften Bücher fallen viel stärker ins Gewicht als die vielleicht hunderttausend Exemplare ihrer Autorenkollegen. Extremistan ist das natürliche Habitat von schwarzen Schwänen. Sie sind hier viel häufiger als in Mediokristan. Dort gilt die Tyrannei des Kollektivs, in Extremistan die Tyrannei des Zufalls.
Was tausendmal gut geht, geht nicht immer gut
Auf lange Sicht setzen sich die Entwicklungen der Vergangenheit immer weiter fort – glauben wir. Es geht uns wie einem Truthahn: 1000 Tage lang hat er die feste Zuversicht, dass ihn auch am nächsten Tag wieder eine Hand mit schmackhafter Nahrung versorgen wird. Dann, am 1001. Tag (zufälligerweise eine Woche vor dem Erntedankfest), dreht ihm diese Hand den Hals um. Was also eine ganze Weile gut ging, muss nicht zwingend immer so bleiben. Ein Extremereignis hat das Leben des Truthahns zerstört und ihm den Kopf gekostet.
„Wir akzeptieren das, was passiert ist, ignorieren aber das, was hätte passieren können.“
Doch so sind extreme Ereignisse: Wer hätte vor dem 11. September 2001 angenommen, dass die Twin Towers in New York eines Tages von einem Flugzeug gerammt würden? Die Amerikaner sind auf die Schwächen der induktiven Denkweise hereingefallen. Sie hatten jahrzehntelang beobachtet, dass die USA auf eigenem Territorium unangreifbar waren – bis der schwarze Schwan in Form einer Boeing 767 angeflogen kam. Ähnlich Europa nach den Napoleonischen Kriegen: Man wähnte sich in einem Zeitalter des Friedens und der Versöhnung – bis der Erste Weltkrieg ausbrach. Die Menschen machen sich durchaus Sorgen über solche Extremereignisse. Aber eben immer erst im Nachhinein.
Blind für schwarze Schwäne
Wieso sind wir blind für schwarze Schwäne? Die Gründe sind in fünf Teilproblemen zu suchen, die aber eigentlich ein und dasselbe Kernproblem beschreiben:
- Roundtrip-Verzerrungen: Wir halten das, was wir sehen, für wichtig und richtig, kümmern uns aber kaum um die Dinge, die wir nicht wahrnehmen können. Dabei machen wir einen logischen Fehler: Wir verwechseln die Aussage „Es gibt keine Beweise für schwarze Schwäne“ mit der Aussage „Es gibt Beweise für keine schwarzen Schwäne“. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Plastischer wird die Verzerrung, wenn wir ganz konkret formulieren: „Fast alle Terroristen sind Moslems“. Selbst wenn diese Annahme auf entsprechenden Beobachtungen gründet, kann man nicht formulieren: „Fast alle Moslems sind Terroristen“. Aber genau das passiert andauernd. Wenn es unter der einen Milliarde Moslems z. B. 10 000 Terroristen gäbe, würden diese immer noch nur 0,001 % der Moslems ausmachen. Vorurteile wie dieses sind generell sehr gefährlich.
- Narrative Verzerrungen: Wir schaffen es nicht, eine Reihe von Fakten zu betrachten, ohne sie zu verknüpfen. Wir sind sozusagen süchtig nach Erklärung. Wir alle hören gerne Geschichten, und noch lieber erzählen wir welche. Diese Geschichten handeln von der Welt, wie wir sie wahrnehmen – stark vereinfacht und übersichtlich. Dadurch bestärken wir uns in der Annahme, die Wirklichkeit sei tatsächlich so. Erinnerungen und Erfahrungen sind im Gehirn schnell verfügbar, darum greifen wir mit Vorliebe auf sie zurück. Erzählt uns jemand, dass er an einem Ort, an dem es unwahrscheinlich ist, überfallen zu werden, doch überfallen wurde, werden wir den Ort meiden. Nicht weil das Risiko objektiv gesehen groß ist, sondern weil wir gerade eine entsprechende Geschichte dazu gehört haben. Keine Verbrechensstatistik wird uns davon überzeugen, dass die anschauliche Erzählung eigentlich unbedeutend ist. Wir erinnern uns lieber, als dass wir analysieren. Das ist weniger anstrengend. Emotionale und manchmal eben auch sensationelle Erzählungen nehmen wir deshalb oft ernster als nüchterne Fakten.
- Nichtlinearität: Wir gehen davon aus, dass sich die Dinge linear entwickeln. Wenn Ihr kleiner Sohn in einem bestimmten Alter ist, sollte er sprechen können. Tut er es nicht, geraten Sie in Panik und sind überrascht, wenn er dann – etwas später – plötzlich ausgefeilte Sätze von sich gibt. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie neun Jahre nichts und im zehnten Jahr eine Million verdienen, macht Sie das nicht so glücklich, wie wenn Sie zehn Jahre lang regelmäßig 100 000 eingezahlt bekommen. Wir können Belohnungen sehr schwer in die Zukunft verschieben, wir wollen sie immer sofort. Alle Ereignisse, die nichtlinear auftreten (und das tun schwarze Schwäne immer), überraschen uns.
- Verzerrung durch stumme Zeugnisse: Wir fallen auf die Geschichte rein, die viele schwarze Schwäne vor uns versteckt, und sehen nur einen Bruchteil von dem, was wirklich existiert. Ein Beispiel ist eine Anekdote des römischen Politikers Cicero: Er zeigte einem Mann, der nicht an die Götter glaubte, Bilder, auf denen mehrere Menschen erst beteten und danach einen Schiffsuntergang überlebten. Es ließe sich nun der Zusammenhang konstruieren, dass das Beten sie beschützt hat. Allerdings fragte der ungläubige Diagoras gleich nach, wo denn die Bilder der Ertrunkenen seien, die ja ebenso gebetet hätten. Damit legte er den Finger in die Wunde: Denjenigen Gläubigen, die gestorben waren, war die Chance genommen worden, sich mitzuteilen. Ihre Zeugnisse blieben stumm. Die Verzerrung, die dadurch entsteht, ist ein so genanntes statistisches Bias. Die meisten „Erfolgsratgeber für Manager“ beruhen darauf: Man nehme eine Handvoll erfolgreicher Leader, analysiere deren Charaktereigenschaften (Mut, Durchsetzungsfähigkeit, Charisma, Führungsstärke usw.) und mache daraus eine Anleitung. Würde man jedoch die weniger erfolgreichen Manager ebenfalls untersuchen, würde man herausfinden, dass sie genau die gleichen Charaktereigenschaften besitzen. Das Einzige, was beide Managerklassen voneinander unterscheidet, ist Glück.
- Ludische Verzerrung: Wir konzentrieren uns gern auf Dinge, die einigermaßen gut erforscht sind. Dazu gehört die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Gewinnchancen in einem Kasino kann man damit relativ gut berechnen. Aber was bringt einem das in der Realität? Ein Kasino in Las Vegas hat sein extrem ausgeklügeltes System genau darauf aufgebaut. Dann wurde einer der wichtigsten Mitarbeiter des Kasinos – Roy aus der Siegried-und-Roy-Show – von einem Tiger angegriffen. Die Kosten für den unversicherten Unfall: 100 Millionen Dollar. Das Beispiel zeigt, dass selbst hochkomplexe Wahrscheinlichkeitsrechnungen vor allem wissenschaftliche Spielchen sind. Man spricht deshalb auch von ludischer Verzerrung (lateinisch ludus = Spiel). Die wirklich großen Risiken werden damit gar nicht erfasst. Dennoch verlassen sich die Nerds unter uns genau auf solche Spielchen, wenn sie über Wahrscheinlichkeit nachdenken.
Graue Schwäne und fraktale Zufälligkeit
Kann man schwarze Schwäne zähmen? Vielleicht, indem man sie in graue Schwäne verwandelt. Graue Schwäne lassen sich bis zu einem gewissen Grad ermitteln, aber nicht ganz erfassen.
„Manche Berufsgruppen haben keine anderen Fähigkeiten als der Rest der Bevölkerung, werden aber zu Unrecht für Experten gehalten.“
Es sind schwarze Schwäne ohne Überraschungseffekt. Wie erkennt man sie? Misstrauen Sie Dogmen und versuchen Sie, außerhalb der gängigen Konzepte zu denken. Die von Risikoanalytikern gerne benutzte Gauß’sche Glockenkurve etwa stellt das Modell einer Wahrscheinlichkeitsverteilung dar, wie es nur in Mediokristan verwendet werden kann: Es konzentriert sich auf Durchschnittswerte und verliert Extreme aus dem Auge.
„Wir hegen eine lähmende Abneigung gegen das Abstrakte.“
Für Extremistan viel geeigneter ist das Modell der fraktalen Zufälligkeit, wie es von Benoît Mandelbrot populär gemacht wurde. Fraktale sind Formen, die selbstaffin sind, also z. B. aus immer kleiner oder größer werdenden Teilen ihrer selbst bestehen. So finden sich etwa in einem Gesteinsbrocken die Strukturen eines ganzen Berges wieder – und zwar bis in die kleinsten Steinbrösel hinein. Was hat das mit Wahrscheinlichkeit zu tun? Die Existenz fraktaler Zufälligkeit belegt, dass es in der Wirklichkeit frei skalierbare Ereignisse gibt, die immer größer oder kleiner werden können. Diese laufen der Gauß’schen Durchschnittsverteilung zuwider.
„Eine kleine Zahl schwarzer Schwäne erklärt so ziemlich alles in unserer Welt, vom Erfolg von Ideen und Religionen über die Dynamik geschichtlicher Ereignisse bis zu Elementen unseres persönlichen Lebens.“
Konkret heißt das: Wenn es heute einen Mann mit 50 Milliarden Dollar Privatvermögen gibt, ist es durchaus wahrscheinlich – auch wenn wir es uns nicht vorstellen können –, dass es nächstes Jahr jemanden mit 100 Milliarden geben wird. Auch unwahrscheinliche Ereignisse lassen sich also erahnen – zumindest einige. Die echten schwarzen Schwäne werden sich nie zähmen lassen.