Der Schwarze Schwan

Buch Der Schwarze Schwan

Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse

Hanser,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Kann ein nüchterner Trader un­ter­halt­sam schreiben? Ja, wenn er Nassim Taleb heißt. Der „Haupt­dis­si­dent der Wall Street“ (The New Yorker) und „heißeste Denker auf dem Planeten“ (Sunday Times) beschäftigt sich in seinem Buch mit schwarzen Schwänen. Um Vogelkunde geht es ihm nicht, aber die Metapher ist gut gewählt: Sie steht für un­kalkulier­bare, unerwartete Ereignisse, die weit reichende Folgen haben, etwa die Erfindung des Internets oder die Ter­ro­ran­schläge auf das World Trade Center. Taleb dekon­stru­iert auf rund 450 Seiten alle Methoden der Zukun­fts­forschung. Seine These: Extrem un­wahrschein­liche Ereignisse können und wollen wir nicht voraussehen, sondern versuchen sie mit allen möglichen Tricks zu ver­schleiern, zu verdrängen oder nachträglich schönzureden. Das ist besonders gefährlich, wenn es um viel Geld geht. In­vest­ment-Banker, Börsengurus, Fonds­man­ager und No­bel­preisträger? Scharlatane, sagt Taleb. Seine Leser hingegen hält er für klug – so klug, dass er sich selten die Mühe macht, seine Fach­vok­a­beln kurz einzuführen. Das ist der Wer­mut­stropfen in diesem ansonsten ebenso süffigen wie klugen Buch. BooksInShort empfiehlt es allen, die wissen wollen, was wir nicht wissen können – und warum es sich lohnt, genau darüber nachzu­denken.

Take-aways

  • Der „schwarze Schwan“ ist eine Metapher für extrem un­wahrschein­liche Ereignisse.
  • Solche überaus seltenen Phänomene haben viel mehr Einfluss, als wir vermuten.
  • Je vernetzter die Welt, desto gravieren­der die Auswirkun­gen von schwarzen Schwänen.
  • Wir fallen auf die trügerische Linearität der Ereignisse herein: Wenn etwas tausendmal auf die gleiche Weise passiert ist, gehen wir davon aus, dass es immer so ablaufen wird.
  • Wir verknoten Fakten immer zu Geschichten. Damit verzerren wir sie.
  • Von Dingen, die nicht bewiesen sind, nehmen wir an, dass sie nicht existieren. Deshalb sind wir blind für schwarze Schwäne.
  • In Mediokris­tan ist alles durch­schnit­tlich und berechenbar, in Extremistan hingegen treten extreme Ereignisse zufällig ein. Vieles spricht dafür, dass wir in Extremistan leben.
  • Viele Sta­tis­tik­meth­o­den wie die Gauß’sche Glock­enkurve ignorieren schwarze Schwäne.
  • Experten blenden uns mit ihrem Wissen. Die meisten Voraussagen sind pseudowis­senschaftlich.
  • Versuchen Sie, sich vor negativen schwarzen Schwänen zu schützen, indem Sie Dogmen misstrauen und außerhalb gängiger Modelle denken.
 

Zusammenfassung

Sind alle Schwäne weiß?

Bevor die Engländer Australien entdeckten, war man der festen Überzeugung, dass alle Schwäne weiß sind. Dann bekam man den ersten schwarzen Schwan zu Gesicht. Annahmen, die Hunderte von Jahren alt waren, entpuppten sich mit einem Schlag als fehlerhaft. Schwarze Schwäne sind deshalb eine treffende Metapher für Ereignisse, die unerhört erscheinen.

„Die moderne Welt wird von seltenen – sehr seltenen – Ereignissen dominiert.“

Sie besitzen drei Merkmale: Schwarze Schwäne sind Ausreißer, d. h. so vollkommen außerhalb unseres Er­wartung­shor­i­zonts, dass wir sie als einmalige Ereignisse klas­si­fizieren. Sie verändern unser Denken und damit unsere Welt. Und: Wir finden im Nachhinein immer doch noch Erklärungen für ihr Auftauchen. Der Erste Weltkrieg, der fun­da­men­tal­is­tis­che Terror, der Computer, das Internet: Alle Ereignisse mit großen Nach­wirkun­gen sind schwarze Schwäne. Das Er­staunliche: Wir tun alles, um sie zu ignorieren, um ihre Existenz zu leugnen – und um sie im Nachhinein als „ganz normal“ zu klas­si­fizieren.

Das Triplett der Opazität

Geschichte ist opak, also un­durch­sichtig. Wir sehen immer nur das Ergebnis, aber nie die En­twick­lun­gen, die dazu führen. Es ist wie im Restaurant: Das Gericht, das vor Ihnen auf dem Teller liegt, verrät nicht, welche Zutaten genau verwendet wurden. Dennoch neigen wir dazu, zu „pla­ton­isieren“, die Welt in übersichtliche Formen zu zerteilen und so ihre Komplexität zu reduzieren. Dabei fallen wir auf das „Triplett der Opazität“ herein:

  • Wir glauben, zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Komplexes oder Zufälliges blenden wir einfach aus.
  • Wir erliegen der ret­ro­spek­tiven Verzerrung, d. h. wir können die En­twick­lun­gen erst im Nachhinein beurteilen, wie durch einen Rückspiegel betrachtet.
  • Wir werten Fakten zu hoch und lassen uns von Experten leiten.

Reisen durch Mediokris­tan ...

Kennen Sie Mediokris­tan und Extremistan? Eine Reise in diese Länder lohnt sich; Sie erfahren eine Menge über zwei höchst un­ter­schiedliche Arten von Wahrschein­lichkeiten und zufälligen Ereignissen.

„Die Logik des schwarzen Schwans macht das, was wir nicht wissen, viel be­deu­tungsvoller als das, was wir wissen.“

In Mediokris­tan regiert das Mittelmaß. Alles ist recht überschaubar und vorher­sag­bar. Stellen Sie sich 999 Menschen vor, die zufällig ausgewählt wurden. Nun fügen Sie dieser Gruppe den schwersten Menschen hinzu, den Sie sich denken können. Selbst wenn er 200 Kilo wiegen sollte, wird seine Masse nur einen kleinen Teil des Gesamt­gewichts aller 1000 Teilnehmer dieses kleinen Experiments ausmachen. Wenn es darum geht, das Durch­schnitts­gewicht zu errechnen, wird Ihre Ein­flussnahme also kaum eine Rolle spielen – „Ausreißer“ wie der 200-Kilo-Mann sind zu vernachlässigen. Was man sich in Mediokris­tan allerdings nicht vorstellen kann, ist ein Mensch, der x-tausend Kilo wiegt.

... und Extremistan

Anders sieht es in Extremistan aus: Hier gibt es Extremwerte, die den Rest der Stichprobe be­deu­tungs­los machen. Bill Gates mit seinen geschätzten 80 Milliarden Dollar Privatvermögen verdammt andere Millionäre zu einer Fußnote.

„Die derzeitige Ausgabe der men­schlichen Rasse ist leider nicht dafür gemacht, abstrakte Dinge zu verstehen – wir brauchen einen Kontext.“

Oder: Versammeln Sie 1000 Autoren und stellen Sie dann noch die derzeit er­fol­gre­ich­ste Autorin, Harry-Pot­ter-Erfind­erin Joanne K. Rowling, dazu. Sie wird die Stichprobe im Hinblick auf Auflagenstärke klar dominieren, denn ihre mil­lio­nen­fach verkauften Bücher fallen viel stärker ins Gewicht als die vielleicht hun­dert­tausend Exemplare ihrer Au­torenkol­le­gen. Extremistan ist das natürliche Habitat von schwarzen Schwänen. Sie sind hier viel häufiger als in Mediokris­tan. Dort gilt die Tyrannei des Kollektivs, in Extremistan die Tyrannei des Zufalls.

Was tausendmal gut geht, geht nicht immer gut

Auf lange Sicht setzen sich die En­twick­lun­gen der Ver­gan­gen­heit immer weiter fort – glauben wir. Es geht uns wie einem Truthahn: 1000 Tage lang hat er die feste Zuversicht, dass ihn auch am nächsten Tag wieder eine Hand mit schmack­hafter Nahrung versorgen wird. Dann, am 1001. Tag (zufälligerweise eine Woche vor dem Erntedank­fest), dreht ihm diese Hand den Hals um. Was also eine ganze Weile gut ging, muss nicht zwingend immer so bleiben. Ein Ex­tremereig­nis hat das Leben des Truthahns zerstört und ihm den Kopf gekostet.

„Wir akzeptieren das, was passiert ist, ignorieren aber das, was hätte passieren können.“

Doch so sind extreme Ereignisse: Wer hätte vor dem 11. September 2001 angenommen, dass die Twin Towers in New York eines Tages von einem Flugzeug gerammt würden? Die Amerikaner sind auf die Schwächen der induktiven Denkweise hereinge­fallen. Sie hatten jahrzehn­te­lang beobachtet, dass die USA auf eigenem Territorium unan­greif­bar waren – bis der schwarze Schwan in Form einer Boeing 767 angeflogen kam. Ähnlich Europa nach den Napoleonis­chen Kriegen: Man wähnte sich in einem Zeitalter des Friedens und der Versöhnung – bis der Erste Weltkrieg ausbrach. Die Menschen machen sich durchaus Sorgen über solche Ex­tremereignisse. Aber eben immer erst im Nachhinein.

Blind für schwarze Schwäne

Wieso sind wir blind für schwarze Schwäne? Die Gründe sind in fünf Teil­prob­le­men zu suchen, die aber eigentlich ein und dasselbe Kernproblem beschreiben:

  1. Roundtrip-Verz­er­run­gen: Wir halten das, was wir sehen, für wichtig und richtig, kümmern uns aber kaum um die Dinge, die wir nicht wahrnehmen können. Dabei machen wir einen logischen Fehler: Wir verwechseln die Aussage „Es gibt keine Beweise für schwarze Schwäne“ mit der Aussage „Es gibt Beweise für keine schwarzen Schwäne“. Das ist ein him­mel­weiter Unterschied. Plastischer wird die Verzerrung, wenn wir ganz konkret formulieren: „Fast alle Terroristen sind Moslems“. Selbst wenn diese Annahme auf entsprechen­den Beobach­tun­gen gründet, kann man nicht formulieren: „Fast alle Moslems sind Terroristen“. Aber genau das passiert andauernd. Wenn es unter der einen Milliarde Moslems z. B. 10 000 Terroristen gäbe, würden diese immer noch nur 0,001 % der Moslems ausmachen. Vorurteile wie dieses sind generell sehr gefährlich.
  2. Narrative Verz­er­run­gen: Wir schaffen es nicht, eine Reihe von Fakten zu betrachten, ohne sie zu verknüpfen. Wir sind sozusagen süchtig nach Erklärung. Wir alle hören gerne Geschichten, und noch lieber erzählen wir welche. Diese Geschichten handeln von der Welt, wie wir sie wahrnehmen – stark vereinfacht und übersichtlich. Dadurch bestärken wir uns in der Annahme, die Wirk­lichkeit sei tatsächlich so. Erin­nerun­gen und Erfahrungen sind im Gehirn schnell verfügbar, darum greifen wir mit Vorliebe auf sie zurück. Erzählt uns jemand, dass er an einem Ort, an dem es un­wahrschein­lich ist, überfallen zu werden, doch überfallen wurde, werden wir den Ort meiden. Nicht weil das Risiko objektiv gesehen groß ist, sondern weil wir gerade eine entsprechende Geschichte dazu gehört haben. Keine Ver­brechenssta­tis­tik wird uns davon überzeugen, dass die an­schauliche Erzählung eigentlich unbedeutend ist. Wir erinnern uns lieber, als dass wir analysieren. Das ist weniger anstrengend. Emotionale und manchmal eben auch sen­sa­tionelle Erzählungen nehmen wir deshalb oft ernster als nüchterne Fakten.
  3. Nicht­lin­earität: Wir gehen davon aus, dass sich die Dinge linear entwickeln. Wenn Ihr kleiner Sohn in einem bestimmten Alter ist, sollte er sprechen können. Tut er es nicht, geraten Sie in Panik und sind überrascht, wenn er dann – etwas später – plötzlich ausgefeilte Sätze von sich gibt. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie neun Jahre nichts und im zehnten Jahr eine Million verdienen, macht Sie das nicht so glücklich, wie wenn Sie zehn Jahre lang regelmäßig 100 000 eingezahlt bekommen. Wir können Belohnungen sehr schwer in die Zukunft verschieben, wir wollen sie immer sofort. Alle Ereignisse, die nichtlinear auftreten (und das tun schwarze Schwäne immer), überraschen uns.
  4. Verzerrung durch stumme Zeugnisse: Wir fallen auf die Geschichte rein, die viele schwarze Schwäne vor uns versteckt, und sehen nur einen Bruchteil von dem, was wirklich existiert. Ein Beispiel ist eine Anekdote des römischen Politikers Cicero: Er zeigte einem Mann, der nicht an die Götter glaubte, Bilder, auf denen mehrere Menschen erst beteten und danach einen Schiff­sun­ter­gang überlebten. Es ließe sich nun der Zusam­men­hang kon­stru­ieren, dass das Beten sie beschützt hat. Allerdings fragte der ungläubige Diagoras gleich nach, wo denn die Bilder der Ertrunkenen seien, die ja ebenso gebetet hätten. Damit legte er den Finger in die Wunde: Denjenigen Gläubigen, die gestorben waren, war die Chance genommen worden, sich mitzuteilen. Ihre Zeugnisse blieben stumm. Die Verzerrung, die dadurch entsteht, ist ein so genanntes sta­tis­tis­ches Bias. Die meisten „Er­fol­gsrat­ge­ber für Manager“ beruhen darauf: Man nehme eine Handvoll er­fol­gre­icher Leader, analysiere deren Charak­tereigen­schaften (Mut, Durch­set­zungsfähigkeit, Charisma, Führungsstärke usw.) und mache daraus eine Anleitung. Würde man jedoch die weniger er­fol­gre­ichen Manager ebenfalls untersuchen, würde man her­aus­finden, dass sie genau die gleichen Charak­tereigen­schaften besitzen. Das Einzige, was beide Man­agerk­lassen voneinander un­ter­schei­det, ist Glück.
  5. Ludische Verzerrung: Wir konzen­tri­eren uns gern auf Dinge, die einigermaßen gut erforscht sind. Dazu gehört die Wahrschein­lichkeit­srech­nung. Die Gewin­n­chan­cen in einem Kasino kann man damit relativ gut berechnen. Aber was bringt einem das in der Realität? Ein Kasino in Las Vegas hat sein extrem ausgeklügeltes System genau darauf aufgebaut. Dann wurde einer der wichtigsten Mitarbeiter des Kasinos – Roy aus der Siegried-und-Roy-Show – von einem Tiger angegriffen. Die Kosten für den un­ver­sicherten Unfall: 100 Millionen Dollar. Das Beispiel zeigt, dass selbst hochkom­plexe Wahrschein­lichkeit­srech­nun­gen vor allem wis­senschaftliche Spielchen sind. Man spricht deshalb auch von ludischer Verzerrung (lateinisch ludus = Spiel). Die wirklich großen Risiken werden damit gar nicht erfasst. Dennoch verlassen sich die Nerds unter uns genau auf solche Spielchen, wenn sie über Wahrschein­lichkeit nachdenken.

Graue Schwäne und fraktale Zufälligkeit

Kann man schwarze Schwäne zähmen? Vielleicht, indem man sie in graue Schwäne verwandelt. Graue Schwäne lassen sich bis zu einem gewissen Grad ermitteln, aber nicht ganz erfassen.

„Manche Beruf­s­grup­pen haben keine anderen Fähigkeiten als der Rest der Bevölkerung, werden aber zu Unrecht für Experten gehalten.“

Es sind schwarze Schwäne ohne Überraschungsef­fekt. Wie erkennt man sie? Misstrauen Sie Dogmen und versuchen Sie, außerhalb der gängigen Konzepte zu denken. Die von Risiko­an­a­lytik­ern gerne benutzte Gauß’sche Glock­enkurve etwa stellt das Modell einer Wahrschein­lichkeitsverteilung dar, wie es nur in Mediokris­tan verwendet werden kann: Es konzen­tri­ert sich auf Durch­schnittswerte und verliert Extreme aus dem Auge.

„Wir hegen eine lähmende Abneigung gegen das Abstrakte.“

Für Extremistan viel geeigneter ist das Modell der fraktalen Zufälligkeit, wie es von Benoît Mandelbrot populär gemacht wurde. Fraktale sind Formen, die selbstaffin sind, also z. B. aus immer kleiner oder größer werdenden Teilen ihrer selbst bestehen. So finden sich etwa in einem Gesteins­brocken die Strukturen eines ganzen Berges wieder – und zwar bis in die kleinsten Steinbrösel hinein. Was hat das mit Wahrschein­lichkeit zu tun? Die Existenz fraktaler Zufälligkeit belegt, dass es in der Wirk­lichkeit frei skalierbare Ereignisse gibt, die immer größer oder kleiner werden können. Diese laufen der Gauß’schen Durch­schnittsverteilung zuwider.

„Eine kleine Zahl schwarzer Schwäne erklärt so ziemlich alles in unserer Welt, vom Erfolg von Ideen und Religionen über die Dynamik geschichtlicher Ereignisse bis zu Elementen unseres persönlichen Lebens.“

Konkret heißt das: Wenn es heute einen Mann mit 50 Milliarden Dollar Privatvermögen gibt, ist es durchaus wahrschein­lich – auch wenn wir es uns nicht vorstellen können –, dass es nächstes Jahr jemanden mit 100 Milliarden geben wird. Auch un­wahrschein­liche Ereignisse lassen sich also erahnen – zumindest einige. Die echten schwarzen Schwäne werden sich nie zähmen lassen.

Über den Autor

Nassim Nicholas Taleb, ursprünglich Fi­nanz­math­e­matiker und Trader, beschäftigt sich als Essayist und Buchautor mit dem Thema Wahrschein­lichkeit. Derzeit lehrt er an der University of Mass­a­chu­setts in Amherst. Von Taleb stammt auch Narren des Zufalls. Mit The Black Swan hat er 2007 den BooksInShort In­ter­na­tional Book Award gewonnen.