Die Sehnsucht nach Authentizität
Die Authentizität hat in der Führungsliteratur der Begeisterungsfähigkeit und der Belastbarkeit den Rang abgelaufen. Heißt das nun, dass Sie zu Ihrer nächsten Konferenz in Ihren Lieblingskleidern erscheinen dürfen? Auffallend ist, dass die Authentizitätsbefürworter den Begriff trotz seiner inflationären Verwendung nicht definieren. Wer genauer nachfragt, wird auf Persönlichkeiten verwiesen, die als authentisch gelten: auf den Naturburschen Reinhold Messner etwa oder den Apple-Gründer Steve Jobs, der sich gern in Jeans und Rollkragenpullis zeigt.
„Erfolg hat, wer die Rolle des Authentischen glaubhaft spielt.“
Immer mehr Erfolgsgurus machen die Qualität und den Karriereerfolg von Führungspersönlichkeiten von deren Fähigkeit abhängig, authentisch zu sein. Woher kommt dieses Bedürfnis nach Authentizität? Es könnte – angesichts komplexer werdender sozialer Strukturen und differenzierterer Aufgaben – die Sehnsucht nach Schlichtheit, Kontinuität und einem verlässlichen Anker im Menschen selbst ausdrücken.
„Die These von der allein seligmachenden Authentizität simplifiziert die vielfältigen Herausforderungen in Beruf und Privatleben in fahrlässiger Weise und fällt hinter sozialpsychologische Ansätze der 50er Jahre zurück.“
Das aus dem Griechischen stammende Wort „authentisch“ bedeutet „verbürgt“. In diesem Sinne benutzte die Kanzleisprache des 16. Jahrhundert den Begriff für Schriftstücke, für deren Echtheit ein Gewährsmann einstand. Diese Wortbedeutung lebt im Begriff der „Authentifizierung“ fort, etwa der Überprüfung einer E-Mail aufgrund ihrer elektronischen Signatur. Diese Überprüfung durch Indizien von außen ist aber im Authentizitätskult nicht gegeben. Dort wird Authentizität zu einer Persönlichkeitseigenschaft, deren Echtheit von außen gerade nicht nachgeprüft werden kann. Demzufolge kommt es in der Kommunikation darauf an, dass Sie authentisch und stimmig wirken.
Sieben Argumente gegen Authentizität
Der Authentizitätswahn ist aus einer Reihe von Gründen abzulehnen:
- Authentizität ist egozentrisch: Stellen Sie sich vor, jeder würde „echt“ sein und machen und äußern, was ihm gerade so einfiele. Ihre Mitmenschen dürften Ihnen dann ziemlich schnell auf den Wecker gehen.
- Authentizität macht schutzlos: Die Authentizitätsfanatiker suggerieren, dass der Rollenspieler anderen etwas vormacht und sie manipuliert. Dabei wird gerade das „Aus-der-Rolle-Fallen“ von den Mitmenschen als peinlich und negativ bewertet. Rollen verkörpern gesellschaftliche Spielregeln, vereinfachen die Zusammenarbeit und schützen vor zu viel Nähe, wo sie nicht angebracht ist.
- Authentizität verstößt gegen den gesellschaftlichen Konsens: Jede Kultur funktioniert aufgrund der Verzahnung zahlreicher geschriebener und ungeschriebener Regeln. Authentizität ist darum kein Wert an sich. Der rebellische Jugendliche, der seine Wut an unschuldigen Passanten auslässt, handelt sicher authentisch. Authentizität wird aber erst in einem konstruktiven Zusammenhang bedeutend, wenn sie mit positiven Werten verknüpft ist.
- Authentizität ist auch privat eine Illusion: Selbst in der Familie spielen Sie Rollen. Eltern geben sich mit ihren Kindern ab, auch wenn sie müde sind. Und die meisten behalten es für sich, wenn ihnen ein Geschenk nicht gefällt.
- Authentizität vereinfacht den Begriff des Selbst: Gerade wenn Sie unter Authentizität nicht das triebhafte Ausleben Ihrer momentanen Impulse verstehen, müssen Sie die Frage beantworten, wer Sie überhaupt hinter all Ihren Rollen sind und ob es sinnvoll ist, Ihren innersten Kern nach außen zu stülpen.
- Authentizität schränkt unsere Entwicklungsmöglichkeiten ein: Wer wachsen will, muss dazulernen und sein Rollenrepertoire erweitern. Je flexibler Führungskräfte sind und je mehr Rollen sie beherrschen, desto mehr soziale Gruppen können sie ansprechen und desto erfolgreicher sind sie.
- Authentizität macht erfolglos: Als Manager und Führungspersönlichkeit stehen Sie unter medialer Dauerbeobachtung. Die Menschen erwarten ein bestimmtes Bild von Ihnen, sie verstehen Sie als Repräsentanten einer Unternehmensphilosophie, und sie mögen keine misslungenen Aufführungen.
Das Lob der Rolle
Wir kennen das aus der Politik: Der Bürger wünscht sich einfache, griffige, überschau- und berechenbare Politiker. Gerhard Schröder stolperte über seine häufigen Persönlichkeitswechsel: Er mutierte vom Stolz demonstrierenden Kanzler über den Kriegskanzler und den Antikriegskanzler zum Agendakanzler. Angela Merkel dagegen bedient nur ganz wenige Rollen, beispielsweise die Weltpolitikerin oder die Moderatorin. Ihr Privatleben blendet sie nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit aus.
„Wer sich dem Ansinnen der Authentizität (und damit der Berechenbarkeit) verweigert, behält die Fäden in der Hand, er kann das Spiel in seinem Sinne gestalten.“
Rollen vereinfachen den Umgang der Menschen miteinander: Man muss nicht permanent neu aushandeln, welches Verhalten wo und wann für wen angemessen ist. Die Rolle legt es fest. Rollen weisen zwei gegensätzliche Eigenschaften auf:
- Rollen zwängen die Persönlichkeit in ein Korsett. In der Folge kann die Rolle auf die Persönlichkeit des Trägers abfärben. Dies zeigt z. B. Loriot in seiner Filmkomödie Pappa ante Portas, in der er einen Einkaufsdirektor im Vorruhestand verkörpert, der den Familienhaushalt wie ein Großunternehmen managt.
- Rollen bieten Entwicklungschancen. Bereits Kinder erweitern ihren Horizont, indem sie diverse Rollen wie etwa Eltern oder Verkäufer spielen. Jede neue Aufgabe, z. B. Klassensprecher oder Vereinsvorsitzender, erfordert ein neues Rollenverhalten, das mit einer Erweiterung der Persönlichkeit einhergeht. Jede Rolle gibt Ihnen die Möglichkeit, spezifische Bedürfnisse auszuleben. Achten Sie daher darauf, dass die Rollen zu Ihnen passen und Ihnen etwas bedeuten. Splittern Sie sich nicht in zu viele Rollen auf, sondern fokussieren Sie sich auf die, die in Ihrem Leben wichtig sind.
Erlangen Sie Rollenkompetenz
Während dem Bühnen- oder Filmschauspieler ein Textbuch und ein Regisseur zur Verfügung stehen, müssen Sie sich als „Unternehmensschauspieler“ mit Stellenanzeigen, Anforderungsprofilen, Kompetenzmodellen und Leitbildern begnügen. Weitere Anregungen erhalten Sie durch die Beobachtung der tatsächlichen Kommunikationsstrukturen, der Gewohnheiten und Eigenarten in Ihrem Unternehmen. Zu Ihrer Rolle gehören neben Ihrem Verhalten Ihr Aussehen, Ihre Kleidung, Ihre Statussymbole, Ihre Ausbildung, Ihre Nebentätigkeiten, Ihre Hobbys und Ihre Urlaubsgepflogenheiten bzw. das, was Sie davon jeweils preisgeben.
„Wer auf der Unternehmensbühne reüssieren will, muss die ihm zugedachten Rollen überzeugend verkörpern.“
Manche Rollen sind weitgehend festgelegt und bieten wenig individuellen Freiraum. Andere, komplexere Rollen machen eine aktive Mitgestaltung wünschenswert und notwendig. Je mehr unterschiedliche Erwartungen verschiedene Interessengruppen an eine Rolle stellen, desto schwieriger ist ihre Handhabung und desto leichter können Rollenkonflikte auftreten. Indem Sie die Erwartungen Ihrer Mitmenschen in unterschiedlichen Situationen immer wieder reflektieren, gewinnen Sie Rollenkompetenz. Und wenn Sie Konflikte nicht versöhnlich lösen können, müssen Sie Prioritäten setzen und fähig sein, Widersprüche auszuhalten.
Führungsrollen
Den optimalen Führungsstil gibt es nicht. Er ist von vielerlei Faktoren aus dem Umfeld abhängig, beispielsweise dem Reifegrad und der Motivation der Mitarbeiter, der Branche und der wirtschaftlichen Situation. Seien Sie sich aber auch der eigenen Stärken und Schwächen in den verschiedenen Rollen bewusst. Denn es ist kaum möglich, alle gleich gut zu beherrschen. Dieses Bewusstsein kann Sie erstens davor bewahren, sich zu einseitig in Rollen zu flüchten, die Ihnen liegen, und Sie zweitens dazu anregen, Ihre Schwächen auszugleichen. Können Sie gewisse Rollen im Unternehmen partout nicht ausfüllen, so liegt eine mögliche Lösung in einer personellen Aufteilung der einzelnen Aufgaben.
„Das eigene Persönlichkeitsprofil bildet die Grundlage für jede aktive Rollengestaltung.“
Neue Aufgaben und berufliche Veränderungen wie auch der Aufstieg im gleichen Unternehmen stellen besondere Herausforderungen an die Rollenanpassung dar: Mit ihnen verändern sich die Erwartungen an Sie. Je höher Sie aufsteigen, desto größere und anspruchsvollere Erwartungen werden an Sie gerichtet. Manche Menschen büßen ihre Beliebtheit paradoxerweise gerade dann ein, wenn sie aufgrund ihres Erfolgs befördert wurden. Sie versäumen nämlich, ihre Rollen ausreichend anzupassen. So versagte der populäre Ministerpräsident Kurt Beck als Bundesvorsitzender seiner Partei und als möglicher Kanzlerkandidat. Dem volksnahen Kumpel traute die Bevölkerungsmehrheit keine Integrationsfähigkeit, keinen Weitblick und kein würdevolles Repräsentieren des Landes zu. Joschka Fischer und Arnold Schwarzenegger stellen dagegen Positivbeispiele für gelungene Wandlungen dar.
Entwickeln Sie Ihr eigenes Rollenskript
Gehen Sie dabei in folgenden vier Schritten vor:
- Erforschen Sie, welche – auch einander widersprechenden – Erwartungen an Sie gestellt werden.
- Reflektieren Sie, welchen Ansprüchen Sie problemlos begegnen können und wo Sie noch dazulernen müssen.
- Erstellen Sie ein Rollenskript, das Ihre persönliche Art der Umsetzung festhält. Dazu gehören Kleidung, Statussymbole und Ihre Biografie.
- Kontrollieren Sie Ihre Wirkung anhand der Reaktionen Ihres Umfeldes. Sensibilisieren Sie sich auch für Änderungen in den Erwartungshaltungen.
„Eine Führungskraft, die Unabhängigkeit und Macht zu ihren Kernwerten zählt, wird sich mit der Rolle eines Coach schwerer tun als ein Kollege, für den Hilfsbereitschaft ein selbstverständlicher Wert ist.“
Folgende Überlegungen helfen Ihnen bei der Ausgestaltung Ihrer Rolle:
- Welchen Schwerpunkt setzen Sie? Stellen Sie sich beispielsweise eher als Visionär dar oder als bewährter Steuermann in schwierigen Zeiten?
- Welche Rollen – auch bezüglich unterschiedlicher Interessensgruppen – sind besonders wichtig?
- Welche Handlungen unterstützen Ihr Image?
Vereinbaren Sie Persönlichkeit und Rolle
Analysieren Sie, welche Facetten Ihrer Persönlichkeit Sie in welcher Rolle am besten zum Ausdruck bringen können. Persönlichkeitsanteile, die mit einer bestimmten Rolle nicht vereinbar sind, haben da auch nichts zu suchen. Beispielsweise ließ Hans-Olaf Henkel sein Engagement für Amnesty International erst dann bekannt werden, als er nicht mehr dem Bundesverband der Deutschen Industrie vorstand. Aus der Stimmigkeit Ihrer Rollengestaltung erwächst Ihre Glaubwürdigkeit. Schöpfen Sie den Spielraum aus, den Ihnen Ihre Rollen bieten, und integrieren Sie Ihre Werte in die jeweils dafür geeigneten Rollen. Berufliche Unzufriedenheit und das Burn-out-Syndrom resultieren aus unreflektierten Rollenübernahmen. Wenn Sie aber Ihre Persönlichkeitsfacetten in Ihre Rollen einbauen, überstehen Sie es, wenn Sie einmal eine Zeit lang bewusst eine Rolle gegen Ihre Veranlagung spielen müssen, sofern es die äußeren Gegebenheiten erfordern.