Mythos Authentizität

Buch Mythos Authentizität

Die Kunst, die richtigen Führungsrollen zu spielen

Campus,


Rezension

„Seien Sie authentisch!“ Kaum ein Führungsbuch kommt heute ohne diesen gut gemeinten Ratschlag aus. Mumpitz, hält Rainer Niermeyer dagegen: Seien Sie nicht authentisch! Spielen Sie die Rollen, die Sie übernommen haben, und spielen Sie sie gut! Aus sozi­ol­o­gis­cher und psy­chol­o­gis­cher Perspektive hinterfragt Niermeyer den Authentizitätsbegriff, attackiert den Authentizitätswahn und führt aus, warum es reine Authentizität nicht geben kann und warum sie auch gar nicht erwünscht ist. Allerdings: Wenn er nach seinem großen Run­dum­schlag, der Ausbreitung von sozi­ol­o­gis­chen Rol­len­the­o­rien und teils bissigen Thesen dafür plädiert, die eigenen Rollen aktiv und stimmig zu gestalten und sie mit den Werten der eigenen Persönlichkeit zu füllen – dann ist er vom Standpunkt der Authentizitätsbefürworter doch gar nicht so weit entfernt, wie er glauben machen will. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Führungskräften, die wissen wollen, wie sie zwischen Authentizität und Rollenspiel ihren Weg finden können.

Take-aways

  • Von Führungskräften wird häufig verlangt, sie sollen authentisch sein.
  • Mit der Sehnsucht nach Authentizität ist der Wunsch nach Kontinuität und Berechen­barkeit verbunden.
  • Aber: Benähme sich jeder authentisch, bräche das soziale Gefüge zusammen.
  • Rollen vere­in­fachen die gesellschaftliche Kom­mu­nika­tion.
  • Durch die Annahme von Rollen erweitern Sie Ihre Fähigkeiten und Ihre Sozialkom­pe­tenz.
  • Die Menschen sehnen sich im Grunde nach eindeutigen Persönlichkeiten – also nach Rollen.
  • Die Rollen, die Sie spielen, setzen sich zusammen aus den gesellschaftlichen Erwartungen und Ihren persönlichen Werten.
  • Gestalten Sie Ihre Rollen bewusst und gehen Sie damit souverän um.
  • Setzen Sie bei un­ter­schiedlichen Erwartungen Prioritäten und halten Sie Widersprüche aus.
  • Passen Sie die Rollen Ihren persönlichen und beruflichen Veränderungen an.
 

Zusammenfassung

Die Sehnsucht nach Authentizität

Die Authentizität hat in der Führungslit­er­atur der Begeis­terungsfähigkeit und der Be­last­barkeit den Rang abgelaufen. Heißt das nun, dass Sie zu Ihrer nächsten Konferenz in Ihren Lieblingsklei­dern erscheinen dürfen? Auffallend ist, dass die Authentizitätsbefürworter den Begriff trotz seiner inflationären Verwendung nicht definieren. Wer genauer nachfragt, wird auf Persönlichkeiten verwiesen, die als authentisch gelten: auf den Natur­burschen Reinhold Messner etwa oder den Apple-Gründer Steve Jobs, der sich gern in Jeans und Rol­lkra­gen­pullis zeigt.

„Erfolg hat, wer die Rolle des Au­then­tis­chen glaubhaft spielt.“

Immer mehr Er­fol­gs­gu­rus machen die Qualität und den Kar­ri­ereer­folg von Führungspersönlichkeiten von deren Fähigkeit abhängig, authentisch zu sein. Woher kommt dieses Bedürfnis nach Authentizität? Es könnte – angesichts komplexer werdender sozialer Strukturen und dif­feren­ziert­erer Aufgaben – die Sehnsucht nach Schlichtheit, Kontinuität und einem verlässlichen Anker im Menschen selbst ausdrücken.

„Die These von der allein selig­machen­den Authentizität sim­pli­fiziert die vielfältigen Her­aus­forderun­gen in Beruf und Privatleben in fahrlässiger Weise und fällt hinter sozialpsy­chol­o­gis­che Ansätze der 50er Jahre zurück.“

Das aus dem Griechis­chen stammende Wort „authentisch“ bedeutet „verbürgt“. In diesem Sinne benutzte die Kan­zleis­prache des 16. Jahrhundert den Begriff für Schriftstücke, für deren Echtheit ein Gewährsmann einstand. Diese Wortbe­deu­tung lebt im Begriff der „Au­then­tifizierung“ fort, etwa der Überprüfung einer E-Mail aufgrund ihrer elek­tro­n­is­chen Signatur. Diese Überprüfung durch Indizien von außen ist aber im Authentizitätskult nicht gegeben. Dort wird Authentizität zu einer Persönlichkeit­seigen­schaft, deren Echtheit von außen gerade nicht nachgeprüft werden kann. Demzufolge kommt es in der Kom­mu­nika­tion darauf an, dass Sie authentisch und stimmig wirken.

Sieben Argumente gegen Authentizität

Der Authentizitätswahn ist aus einer Reihe von Gründen abzulehnen:

  1. Authentizität ist egozen­trisch: Stellen Sie sich vor, jeder würde „echt“ sein und machen und äußern, was ihm gerade so einfiele. Ihre Mitmenschen dürften Ihnen dann ziemlich schnell auf den Wecker gehen.
  2. Authentizität macht schutzlos: Die Authentizitätsfanatiker suggerieren, dass der Rol­len­spieler anderen etwas vormacht und sie manipuliert. Dabei wird gerade das „Aus-der-Rolle-Fallen“ von den Mitmenschen als peinlich und negativ bewertet. Rollen verkörpern gesellschaftliche Spielregeln, vere­in­fachen die Zusam­me­nar­beit und schützen vor zu viel Nähe, wo sie nicht angebracht ist.
  3. Authentizität verstößt gegen den gesellschaftlichen Konsens: Jede Kultur funk­tion­iert aufgrund der Verzahnung zahlreicher geschriebener und ungeschriebener Regeln. Authentizität ist darum kein Wert an sich. Der rebellische Jugendliche, der seine Wut an un­schuldigen Passanten auslässt, handelt sicher authentisch. Authentizität wird aber erst in einem kon­struk­tiven Zusam­men­hang bedeutend, wenn sie mit positiven Werten verknüpft ist.
  4. Authentizität ist auch privat eine Illusion: Selbst in der Familie spielen Sie Rollen. Eltern geben sich mit ihren Kindern ab, auch wenn sie müde sind. Und die meisten behalten es für sich, wenn ihnen ein Geschenk nicht gefällt.
  5. Authentizität vereinfacht den Begriff des Selbst: Gerade wenn Sie unter Authentizität nicht das triebhafte Ausleben Ihrer momentanen Impulse verstehen, müssen Sie die Frage beantworten, wer Sie überhaupt hinter all Ihren Rollen sind und ob es sinnvoll ist, Ihren innersten Kern nach außen zu stülpen.
  6. Authentizität schränkt unsere En­twick­lungsmöglichkeiten ein: Wer wachsen will, muss dazulernen und sein Rol­len­reper­toire erweitern. Je flexibler Führungskräfte sind und je mehr Rollen sie beherrschen, desto mehr soziale Gruppen können sie ansprechen und desto er­fol­gre­icher sind sie.
  7. Authentizität macht erfolglos: Als Manager und Führungspersönlichkeit stehen Sie unter medialer Dauer­beobach­tung. Die Menschen erwarten ein bestimmtes Bild von Ihnen, sie verstehen Sie als Repräsentanten einer Un­ternehmen­sphiloso­phie, und sie mögen keine miss­lun­genen Aufführungen.

Das Lob der Rolle

Wir kennen das aus der Politik: Der Bürger wünscht sich einfache, griffige, überschau- und berechen­bare Politiker. Gerhard Schröder stolperte über seine häufigen Persönlichkeitswech­sel: Er mutierte vom Stolz demon­stri­eren­den Kanzler über den Kriegskan­zler und den An­tikriegskan­zler zum Agen­dakan­zler. Angela Merkel dagegen bedient nur ganz wenige Rollen, beispiel­sweise die Welt­poli­tik­erin oder die Moderatorin. Ihr Privatleben blendet sie nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit aus.

„Wer sich dem Ansinnen der Authentizität (und damit der Berechen­barkeit) verweigert, behält die Fäden in der Hand, er kann das Spiel in seinem Sinne gestalten.“

Rollen vere­in­fachen den Umgang der Menschen miteinander: Man muss nicht permanent neu aushandeln, welches Verhalten wo und wann für wen angemessen ist. Die Rolle legt es fest. Rollen weisen zwei gegensätzliche Eigen­schaften auf:

  1. Rollen zwängen die Persönlichkeit in ein Korsett. In der Folge kann die Rolle auf die Persönlichkeit des Trägers abfärben. Dies zeigt z. B. Loriot in seiner Filmkomödie Pappa ante Portas, in der er einen Einkaufs­di­rek­tor im Vor­ruh­e­s­tand verkörpert, der den Fam­i­lien­haushalt wie ein Großunternehmen managt.
  2. Rollen bieten En­twick­lungschan­cen. Bereits Kinder erweitern ihren Horizont, indem sie diverse Rollen wie etwa Eltern oder Verkäufer spielen. Jede neue Aufgabe, z. B. Klassen­sprecher oder Vere­insvor­sitzen­der, erfordert ein neues Rol­len­ver­hal­ten, das mit einer Erweiterung der Persönlichkeit einhergeht. Jede Rolle gibt Ihnen die Möglichkeit, spezifische Bedürfnisse auszuleben. Achten Sie daher darauf, dass die Rollen zu Ihnen passen und Ihnen etwas bedeuten. Splittern Sie sich nicht in zu viele Rollen auf, sondern fokussieren Sie sich auf die, die in Ihrem Leben wichtig sind.

Erlangen Sie Rol­lenkom­pe­tenz

Während dem Bühnen- oder Film­schaus­pieler ein Textbuch und ein Regisseur zur Verfügung stehen, müssen Sie sich als „Un­ternehmenss­chaus­pieler“ mit Stel­lenanzeigen, An­forderung­spro­filen, Kom­pe­tenz­mod­ellen und Leitbildern begnügen. Weitere Anregungen erhalten Sie durch die Beobachtung der tatsächlichen Kom­mu­nika­tion­sstruk­turen, der Gewohn­heiten und Eigenarten in Ihrem Unternehmen. Zu Ihrer Rolle gehören neben Ihrem Verhalten Ihr Aussehen, Ihre Kleidung, Ihre Sta­tussym­bole, Ihre Ausbildung, Ihre Nebentätigkeiten, Ihre Hobbys und Ihre Urlaub­s­gepflo­gen­heiten bzw. das, was Sie davon jeweils preisgeben.

„Wer auf der Un­ternehmensbühne reüssieren will, muss die ihm zugedachten Rollen überzeugend verkörpern.“

Manche Rollen sind weitgehend festgelegt und bieten wenig in­di­vidu­ellen Freiraum. Andere, komplexere Rollen machen eine aktive Mit­gestal­tung wünschenswert und notwendig. Je mehr un­ter­schiedliche Erwartungen ver­schiedene In­ter­es­sen­grup­pen an eine Rolle stellen, desto schwieriger ist ihre Handhabung und desto leichter können Rol­lenkon­flikte auftreten. Indem Sie die Erwartungen Ihrer Mitmenschen in un­ter­schiedlichen Situationen immer wieder re­flek­tieren, gewinnen Sie Rol­lenkom­pe­tenz. Und wenn Sie Konflikte nicht versöhnlich lösen können, müssen Sie Prioritäten setzen und fähig sein, Widersprüche auszuhalten.

Führungsrollen

Den optimalen Führungsstil gibt es nicht. Er ist von vielerlei Faktoren aus dem Umfeld abhängig, beispiel­sweise dem Reifegrad und der Motivation der Mitarbeiter, der Branche und der wirtschaftlichen Situation. Seien Sie sich aber auch der eigenen Stärken und Schwächen in den ver­schiede­nen Rollen bewusst. Denn es ist kaum möglich, alle gleich gut zu beherrschen. Dieses Bewusstsein kann Sie erstens davor bewahren, sich zu einseitig in Rollen zu flüchten, die Ihnen liegen, und Sie zweitens dazu anregen, Ihre Schwächen auszu­gle­ichen. Können Sie gewisse Rollen im Unternehmen partout nicht ausfüllen, so liegt eine mögliche Lösung in einer personellen Aufteilung der einzelnen Aufgaben.

„Das eigene Persönlichkeit­spro­fil bildet die Grundlage für jede aktive Rol­lengestal­tung.“

Neue Aufgaben und berufliche Veränderungen wie auch der Aufstieg im gleichen Unternehmen stellen besondere Her­aus­forderun­gen an die Rol­lenan­pas­sung dar: Mit ihnen verändern sich die Erwartungen an Sie. Je höher Sie aufsteigen, desto größere und anspruchsvollere Erwartungen werden an Sie gerichtet. Manche Menschen büßen ihre Beliebtheit para­dox­er­weise gerade dann ein, wenn sie aufgrund ihres Erfolgs befördert wurden. Sie versäumen nämlich, ihre Rollen ausreichend anzupassen. So versagte der populäre Ministerpräsident Kurt Beck als Bun­desvor­sitzen­der seiner Partei und als möglicher Kan­zlerkan­di­dat. Dem volksnahen Kumpel traute die Bevölkerungsmehrheit keine In­te­gra­tionsfähigkeit, keinen Weitblick und kein würdevolles Repräsentieren des Landes zu. Joschka Fischer und Arnold Schwarzeneg­ger stellen dagegen Pos­i­tivbeispiele für gelungene Wandlungen dar.

Entwickeln Sie Ihr eigenes Rol­len­skript

Gehen Sie dabei in folgenden vier Schritten vor:

  1. Erforschen Sie, welche – auch einander wider­sprechen­den – Erwartungen an Sie gestellt werden.
  2. Re­flek­tieren Sie, welchen Ansprüchen Sie problemlos begegnen können und wo Sie noch dazulernen müssen.
  3. Erstellen Sie ein Rol­len­skript, das Ihre persönliche Art der Umsetzung festhält. Dazu gehören Kleidung, Sta­tussym­bole und Ihre Biografie.
  4. Kon­trol­lieren Sie Ihre Wirkung anhand der Reaktionen Ihres Umfeldes. Sen­si­bil­isieren Sie sich auch für Änderungen in den Er­wartung­shal­tun­gen.
„Eine Führungskraft, die Unabhängigkeit und Macht zu ihren Kernwerten zählt, wird sich mit der Rolle eines Coach schwerer tun als ein Kollege, für den Hil­fs­bere­itschaft ein selbstverständlicher Wert ist.“

Folgende Überlegungen helfen Ihnen bei der Aus­gestal­tung Ihrer Rolle:

  • Welchen Schwerpunkt setzen Sie? Stellen Sie sich beispiel­sweise eher als Visionär dar oder als bewährter Steuermann in schwierigen Zeiten?
  • Welche Rollen – auch bezüglich un­ter­schiedlicher In­ter­essens­grup­pen – sind besonders wichtig?
  • Welche Handlungen unterstützen Ihr Image?

Vereinbaren Sie Persönlichkeit und Rolle

Analysieren Sie, welche Facetten Ihrer Persönlichkeit Sie in welcher Rolle am besten zum Ausdruck bringen können. Persönlichkeit­san­teile, die mit einer bestimmten Rolle nicht vereinbar sind, haben da auch nichts zu suchen. Beispiel­sweise ließ Hans-Olaf Henkel sein Engagement für Amnesty In­ter­na­tional erst dann bekannt werden, als er nicht mehr dem Bun­desver­band der Deutschen Industrie vorstand. Aus der Stimmigkeit Ihrer Rol­lengestal­tung erwächst Ihre Glaubwürdigkeit. Schöpfen Sie den Spielraum aus, den Ihnen Ihre Rollen bieten, und integrieren Sie Ihre Werte in die jeweils dafür geeigneten Rollen. Berufliche Un­zufrieden­heit und das Burn-out-Syn­drom resultieren aus un­re­flek­tierten Rollenübernahmen. Wenn Sie aber Ihre Persönlichkeits­facetten in Ihre Rollen einbauen, überstehen Sie es, wenn Sie einmal eine Zeit lang bewusst eine Rolle gegen Ihre Veranlagung spielen müssen, sofern es die äußeren Gegeben­heiten erfordern.

Über den Autor

Rainer Niermeyer ist Dipl.-Psychologe und arbeitet als Coach und Un­ternehmens­ber­ater. Er war viele Jahre in der Geschäftsleitung bei Kienbaum Management Consultants.