Top oder Flop?
Regelmäßig scheitern vielversprechende technologische Innovationen. Dabei möchten wir so gern den wunderbaren Versprechen glauben, die unsere Wünsche von einem glückseligen Leben auf die Technologie projizieren: In der Welt der Zukunft fliegen wir mit unseren Autos und haben galaktischen Cybersex. Der Kühlschrank füllt sich selbstständig, und ein Roboter mit künstlicher Intelligenz ist unser persönlicher Assistent. Doch unsere Science-Fiction-Visionen wollen einfach nicht wahr werden, obwohl einige davon heute längst möglich sind. Stattdessen finden wir sie einer von mehreren Flop-Kategorien:
- Megaflops, z. B. Leben unter Wasser, sind unrealistisch und entsprechen nicht wirklich einem Bedürfnis.
- Running Gags verfolgen uns seit Jahren, und wir fallen immer wieder darauf herein, weil sie Befreiung versprechen, z. B. Roboter, die uns lästige Hausarbeit abnehmen.
- Fehlanwendungen entstehen beim Versuch, eine erfolgreiche Technologie auf eine andere zu übertragen. Ein Beispiel ist der Zeppelin.
- Nischen-Hypes wie das E-Book funktionieren zwar, bleiben aber in einer stillen Ecke.
- Geniale Stümpereien, die oft auf einer tollen Idee basieren, lassen eine solide Umsetzung vermissen.
- Future-Fades schließlich haben sich auf dem Markt durchgesetzt, verlieren dort aber schnell ihren Reiz, so geschehen beim interaktiven TV.
Technologie plus Evolution = Technolution
Die technologische Entwicklung ist weder ein linearer Prozess, noch läuft sie nach eigenen Gesetzen ab, unabhängig vom Menschen. Stattdessen stehen Innovation und Technologie in engem Zusammenhang mit evolutionären Prozessen, die über Werden oder Vergehen entscheiden. Technologie wird vom Menschen gemacht und drückt dessen Hoffnungen und Ängste aus. Vier Faktoren beeinflussen die technologische Evolution:
- ökonomische und Forschungsinteressen,
- kulturelle Systeme,
- geistige und materielle Ressourcen und
- kollektive Wünsche.
„Technologie ist kein zwangsläufiger, automatischer Prozess, auf dem wir ,unweigerlich‘ in die Zukunft getrieben werden.“
Wer Technologie als lebendiges System betrachtet – analog zur Evolution –, kann Veränderungen beobachten und künftige Entwicklungen einschätzen. Die biologische Evolution ist eine Folge von Sampling-Prozessen. Technolution folgt demselben Muster. Kultur und Technologie beeinflussen sich gegenseitig, angetrieben durch kulturellen Austausch, Konkurrenz, Konflikte und Kriege. Mobilität und Vielfalt fördern Innovationen. Mitunter ersetzen Maschinen menschliche Arbeitskraft, wodurch neue soziale Muster entstehen. Doch weder in der Natur noch im menschlichen Leben finden ständig Neuerungen statt. Nur wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät, entsteht neue Technologie und verändert die bestehende Ordnung. Unsere Geschichte ist geprägt von ausdauernden Phasen der Nachhaltigkeit, auf die intensive Phasen der Innovation folgen. Daneben kommt es immer wieder zu Rückschritten.
Kopieren und anpassen
Heute leben verschiedene Völker auf einem ganz unterschiedlichen Stand der Technologie. Einige Werkzeuge haben sich seit Jahrtausenden bewährt, z. B. der Wurfspeer. Ob eine Technologie primitiv ist, entscheidet nicht ihr Alter, sondern allein der Einsatzzweck – mit einem Handy lässt sich eben kein Raubtier erschlagen. Warum sich in einigen Regionen keine neuen Medien, Maschinen oder Musikinstrumente entwickelt haben, ist einfach zu erklären: Es war nicht nötig! Erst die Bedrängnis eines Lebewesens oder fortdauernder Mangel setzen technologische Entwicklungsprozesse in Gang.
„Technologie ist ein lebendiges System – eben eine Evolution.“
Evolution funktioniert nach dem simplen Schema von Kopieren und Anpassen, einem extrem langwierigen, genetischen Auswahlverfahren. Zu einem bedeutsamen Entwicklungsschub kam es, als der Mensch die Sprache „erfand“ und begann, Aufgaben arbeitsteilig auszuführen. Mittels Sprache lässt sich eine Technologie wesentlich schneller vermitteln als durch Nachahmen. Schreiben ermöglicht außerdem, Wissen unabhängig vom Empfänger zu dokumentieren. Sprache und Schrift waren deshalb grundlegend für alle Wissenschaften. Erst auf dieser symbolisch-kognitiven Basis konnten sich Technologien entwickeln, aus denen wiederum neue Technologien wuchsen.
„Technologie entsteht, wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten – und dabei zu neuen Ordnungen tendieren.“
Bestimmte Faktoren können den Pfad, auf dem sich eine Technologie entwickelt, ablenken. Die Technologie dient dann einem anderen Zweck als dem ursprünglich geplanten: Edison plante mit seinem Grammofon z. B., Telefonate aufzuzeichnen und Geschäfte zu dokumentieren. Seine Erfindung war dazu ungeeignet, erlebte aber später den Durchbruch als Unterhaltungsmedium.
Wasserfälle und Totgesagte
Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung beschleunigt sich die technologische Entwicklung nicht. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts saßen die Menschen diesem Irrglauben auf und verkündeten euphorisch ein immer besseres Zeitalter. Evolutionsbiologen haben die Vorstellung von einem „punctuated equilibrium“ entwickelt, einem unterbrochenen Gleichgewicht mit Phasen von reichem Artenwachstum und Phasen des gewaltigen Aussterbens. Auch Technologien entwickeln sich kaskaden- oder wasserfallartig. Alte Technologien haben oft noch lange neben neuen Bestand oder kehren sogar wieder zurück; z. B. erleben Füllfederhalter und Papier eine Renaissance. „Langsame“ Technologien wiederum entwickeln sich manchmal deutlich schneller als andere. Eine neue Technologie löscht die vorhergehende nicht vollständig aus – das Fernsehen hat das Kino nicht ersetzt. Damit sich eine Technologie möglichst schnell am Markt durchsetzt, muss sie für die Massenproduktion taugen, weitgehend unabhängig von teurer Infrastruktur sein und sich einfach benutzen lassen.
Technik versus Soziotechnik
Viele technische Neuerungen verändern das soziale Verhalten. Wenn Technik aber soziale Probleme lösen will, kann sie genau daran scheitern. Löst der 100-$-Computer das Bildungsproblem armer Länder? Wie hoch ist der Nutzen von High-Tech-Medizin tatsächlich? Manchmal haben erst soziale Veränderungen wichtige technologische Errungenschaften zum „Hype“ gemacht, z. B. die Emanzipation die Antibabypille. Die E-Mail hingegen sabotiert sich oft selbst, weil die Nutzer die „Netiquette“ ignorieren und sich die vermeintliche Zeitersparnis ins Gegenteil verkehrt. Und die nahezu flächendeckende Verbreitung von Handys in den Wohlstandsländern läutet eine Trendwende zurück zum Schreiben ein, in Form von SMS und E-Mail.
„Der Fortschritt nimmt im 21. Jahrhundert einfach eine andere Gestalt an. Er wird mentaler, systemischer, geistiger als der naturwissenschaftliche Fortschritt des mechanischen Zeitalters.“
Jede neu entwickelte Technologie durchlebt einen techno-sozialen Zyklus, der sieben Phasen umfasst. Keine einzige lässt sich überspringen oder beliebig verkürzen. Bei Schlüsseltechnologien wie der Elektrifizierung oder der Computerisierung dauerte der Prozess rund 100 Jahre. In dieser Zeit gehen Mensch und Technologie eine enge Verbindung ein. So sieht der Prozess aus:
- Am Beginn steht die Prätechnologie, entsprungen aus fantastischen Visionen. Sie bereitet den Nährboden für Ideen und erste Verwirklichungen.
- Damit die eigentliche Erfindung das Licht der Welt erblicken kann, müssen technologische Grundlagen entwickelt und die Kultur bereit für Neues sein.
- In der Phase des Proto-Typing wirft die Industrie Modelle auf den Markt, von denen die meisten kurz darauf wieder verschwinden. Massenerzeugung senkt den Preis drastisch.
- Soziale Gewohnheiten während der Elite-Nutzung bestimmen den weiteren Gebrauch, eine Demokratisierung der Technologie setzt erst später ein.
- Adaptionskrisen können eine Technologie bis zum Ausstieg zurückdrängen (Beispiel Kernkraft) oder Verbesserungen erzwingen.
- Die massenhafte Verbreitung erfordert von den Anwendern einen kollektiven Lernprozess, z. B. in Fahrschulen, denn Autofahren ist eine Kulturleistung.
- Perfektionierung und Infrastrukturbildung machen die Technologie zum Lifestyle und bestimmen, wie wir damit leben und arbeiten.
„Die Menschen der Zukunft, so wage ich die Prognose, werden humaner sein als wir heutigen Menschen.“
Die Typologie des Autos liefert interessante Beispiele für die Artenvielfalt, die sich im Lauf der Technolution entwickelt. Zu Beginn blieb das Fahrzeug seinem Vorbild, der Kutsche, treu. Dank steigender Geschwindigkeit und besseren Straßen erhöhte sich das Reisetempo. Das Auto mutierte zum Statussymbol und öffnete sich einer neuen, weiblichen Nutzergruppe. Der Umweltschutz verlangte nach immer sparsameren Modellen. Aus den heutigen Fahrzeugtypen lassen sich die kommenden Evolutionsstränge ablesen: der gestylte Oberklassewagen mit Hybridantrieb, das kleine Billigfahrzeug ohne Schnickschnack für den Weltmarkt, der mit alternativen Antriebsstoffen betriebene Ökowagen und das kompakte Elektromobil für kurze Strecken. Parallel dazu könnte ein individueller, schienengeführter Verkehr aufkommen. Doch die Technolution lässt sich nicht präzise vorhersagen – es könnten auch nur zwei oder drei Varianten überleben.
Welche Technologien bleiben?
Auf dem Elektronikmarkt zählen iPod und iPhone zu den Schlüsselinnovationen der letzten Jahre. Beide Geräte sind bereits Kult und erfüllen alle Kriterien, die für die massenhafte Verbreitung neuer Technologien gelten: Probierbarkeit, d. h. man kann damit herumspielen, relativer Vorteil, d. h. sie verbessern Bisheriges; Kompatibilität, d. h. sie lassen sich in bekannte technische Zusammenhänge integrieren; geringe Komplexität, d. h. der technische Schwierigkeitsgrad für Anwender hält sich in Grenzen; und Beobachtbarkeit, d. h. die Besitzer können stolz darauf sein und ernten Bewunderung. Um zu prognostizieren, welche Technologien sich künftig durchsetzen werden, sollten Sie zusätzlich zu diesen Kriterien die gegenwärtigen Technotrends beobachten, z. B. Retro-Entwicklungen, Rückkehr zur Einfachheit oder Anbindung an vorhandene Systeme.
Zukunftsmusik
Werden wir unser Leben künftig als Mensch-Maschine-Symbiose in einer zweiten, virtuellen Realität verbringen? Oder erfüllt sich unser Wunsch nach Unsterblichkeit? Wohl kaum – um mit solchen Veränderungen umzugehen, fehlt uns die passende Soziotechnik. Außerdem ist der Tod Voraussetzung für jegliche Evolution. Denkbar wäre aber, dass die Menschheit sich in mehrere Spezies aufspaltet. So könnte z. B. der Immortalist entstehen, ein androgyner Überlebenskünstler mit verlangsamtem Stoffwechsel. Nanotechnologie, Gentechnologie, Informationstechnologie und Hirntechnologie könnten sich zu einer Meta-Technologie vereinigen, aus der wiederum „Moleculeering“ und „Mind-Engineering“ entstünden. Erstes würde ermöglichen, jegliche Moleküle aus Atomen zusammenzusetzen, um z. B. Materialien herzustellen. Letzteres bezeichnet unsere befreiten geistigen Kräfte, dank derer wir unsere Realität selbst produzieren. Der Mensch der Zukunft wird Technologie als Mittel zur Selbsterkenntnis anwenden.