Technolution

Buch Technolution

Wie unsere Zukunft sich entwickelt

Campus,


Rezension

Die tech­nol­o­gis­che Entwicklung folgt den Gesetzen der Evolution. Das behauptet der Trend- und Zukun­fts­forscher Matthias Horx. Lustvoll versteigt er sich in kühne Zukun­ftsvi­sio­nen, um sie gleich darauf in einer „Floppologie“ wieder au­seinan­derzunehmen. Mit Beispielen wie dem in­tel­li­gen­ten Kühlschrank, der sich von selbst füllt, entlarvt er den Mythos, Technologie könne die Probleme der Menschheit lösen. Vor allem aber wird mit dem Märchen aufgeräumt, In­no­va­tio­nen verliefen linear und brächten automatisch Fortschritt. Stattdessen bettet Horx Schlüssel­tech­nolo­gien wie das Automobil in soziale und kulturelle Prozesse ein. Er begibt sich auf Zeitreise durch die Kultur- und Tech­nolo­giegeschichte und streift Evo­lu­tions­bi­olo­gie und Sys­temthe­o­rie ebenso wie Psychologie und Kom­mu­nika­tion­swis­senschaften – das allerdings nicht akademisch abgehoben, sondern durchaus mit Praxisbezug: Ob sich eine neue Technologie durchsetzt oder scheitert, und was ein er­fol­gre­iches Produkt außer innovativer Technologie sonst noch benötigt, lässt sich nach der Lektüre leichter abschätzen. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Pro­duk­ten­twick­lern, Un­ternehmensstrate­gen und tech­nolo­giein­ter­essierten Zeitgenossen.

Take-aways

  • Der tech­nol­o­gis­che Fortschritt lässt sich mit den Gesetzen der Evolution erklären.
  • Die „Tech­no­lu­tion“ verwendet das er­fol­gre­iche Muster der bi­ol­o­gis­chen Evolution: Kopieren und Anpassen.
  • Die tech­nol­o­gis­che Entwicklung verläuft nicht linear, sondern in Kaskaden.
  • Phasen der Nach­haltigkeit wechseln sich mit In­no­va­tion­sphasen und Rückschritten ab.
  • Weder Natur noch Menschheit entwickeln sich ständig. Nur wenn die Umwelt aus dem Gle­ichgewicht gerät, entsteht Neues.
  • Vier Faktoren sind entschei­dend: ökonomische und Forschungsin­ter­essen, kulturelle Systeme, geistige und materielle Ressourcen und kollektive Wünsche.
  • Neue Tech­nolo­gien ersetzen alte nicht, sie ergänzen sie.
  • Kultureller Austausch, Mobilität und Vielfalt fördern den En­twick­lung­sprozess.
  • Wenn man Technologie als lebendiges System betrachtet, kann man Veränderungen beobachten und künftige En­twick­lun­gen einschätzen.
  • Der Traum von der Un­sterblichkeit ist mit den Gesetzen der Evolution nicht vereinbar.
 

Zusammenfassung

Top oder Flop?

Regelmäßig scheitern vielver­sprechende tech­nol­o­gis­che In­no­va­tio­nen. Dabei möchten wir so gern den wunderbaren Versprechen glauben, die unsere Wünsche von einem glückseligen Leben auf die Technologie projizieren: In der Welt der Zukunft fliegen wir mit unseren Autos und haben galak­tis­chen Cybersex. Der Kühlschrank füllt sich selbstständig, und ein Roboter mit künstlicher Intelligenz ist unser persönlicher Assistent. Doch unsere Sci­ence-Fic­tion-Vi­sio­nen wollen einfach nicht wahr werden, obwohl einige davon heute längst möglich sind. Stattdessen finden wir sie einer von mehreren Flop-Kat­e­gorien:

  • Megaflops, z. B. Leben unter Wasser, sind un­re­al­is­tisch und entsprechen nicht wirklich einem Bedürfnis.
  • Running Gags verfolgen uns seit Jahren, und wir fallen immer wieder darauf herein, weil sie Befreiung versprechen, z. B. Roboter, die uns lästige Hausarbeit abnehmen.
  • Fehlanwen­dun­gen entstehen beim Versuch, eine er­fol­gre­iche Technologie auf eine andere zu übertragen. Ein Beispiel ist der Zeppelin.
  • Nis­chen-Hy­pes wie das E-Book funk­tion­ieren zwar, bleiben aber in einer stillen Ecke.
  • Geniale Stümpereien, die oft auf einer tollen Idee basieren, lassen eine solide Umsetzung vermissen.
  • Fu­ture-Fades schließlich haben sich auf dem Markt durchge­setzt, verlieren dort aber schnell ihren Reiz, so geschehen beim in­ter­ak­tiven TV.

Technologie plus Evolution = Tech­no­lu­tion

Die tech­nol­o­gis­che Entwicklung ist weder ein linearer Prozess, noch läuft sie nach eigenen Gesetzen ab, unabhängig vom Menschen. Stattdessen stehen Innovation und Technologie in engem Zusam­men­hang mit evolutionären Prozessen, die über Werden oder Vergehen entscheiden. Technologie wird vom Menschen gemacht und drückt dessen Hoffnungen und Ängste aus. Vier Faktoren bee­in­flussen die tech­nol­o­gis­che Evolution:

  1. ökonomische und Forschungsin­ter­essen,
  2. kulturelle Systeme,
  3. geistige und materielle Ressourcen und
  4. kollektive Wünsche.
„Technologie ist kein zwangsläufiger, au­toma­tis­cher Prozess, auf dem wir ,un­weiger­lich‘ in die Zukunft getrieben werden.“

Wer Technologie als lebendiges System betrachtet – analog zur Evolution –, kann Veränderungen beobachten und künftige En­twick­lun­gen einschätzen. Die biologische Evolution ist eine Folge von Sam­pling-Prozessen. Tech­no­lu­tion folgt demselben Muster. Kultur und Technologie bee­in­flussen sich gegenseitig, angetrieben durch kulturellen Austausch, Konkurrenz, Konflikte und Kriege. Mobilität und Vielfalt fördern In­no­va­tio­nen. Mitunter ersetzen Maschinen menschliche Ar­beit­skraft, wodurch neue soziale Muster entstehen. Doch weder in der Natur noch im men­schlichen Leben finden ständig Neuerungen statt. Nur wenn etwas aus dem Gle­ichgewicht gerät, entsteht neue Technologie und verändert die bestehende Ordnung. Unsere Geschichte ist geprägt von aus­dauern­den Phasen der Nach­haltigkeit, auf die intensive Phasen der Innovation folgen. Daneben kommt es immer wieder zu Rückschritten.

Kopieren und anpassen

Heute leben ver­schiedene Völker auf einem ganz un­ter­schiedlichen Stand der Technologie. Einige Werkzeuge haben sich seit Jahrtausenden bewährt, z. B. der Wurfspeer. Ob eine Technologie primitiv ist, entscheidet nicht ihr Alter, sondern allein der Ein­satzz­weck – mit einem Handy lässt sich eben kein Raubtier erschlagen. Warum sich in einigen Regionen keine neuen Medien, Maschinen oder Musikin­stru­mente entwickelt haben, ist einfach zu erklären: Es war nicht nötig! Erst die Bedrängnis eines Lebewesens oder fort­dauern­der Mangel setzen tech­nol­o­gis­che En­twick­lung­sprozesse in Gang.

„Technologie ist ein lebendiges System – eben eine Evolution.“

Evolution funk­tion­iert nach dem simplen Schema von Kopieren und Anpassen, einem extrem lang­wieri­gen, genetischen Auswahlver­fahren. Zu einem bedeutsamen En­twick­lungss­chub kam es, als der Mensch die Sprache „erfand“ und begann, Aufgaben ar­beit­steilig auszuführen. Mittels Sprache lässt sich eine Technologie wesentlich schneller vermitteln als durch Nachahmen. Schreiben ermöglicht außerdem, Wissen unabhängig vom Empfänger zu doku­men­tieren. Sprache und Schrift waren deshalb grundlegend für alle Wis­senschaften. Erst auf dieser sym­bol­isch-kog­ni­tiven Basis konnten sich Tech­nolo­gien entwickeln, aus denen wiederum neue Tech­nolo­gien wuchsen.

„Technologie entsteht, wenn die Dinge aus dem Gle­ichgewicht geraten – und dabei zu neuen Ordnungen tendieren.“

Bestimmte Faktoren können den Pfad, auf dem sich eine Technologie entwickelt, ablenken. Die Technologie dient dann einem anderen Zweck als dem ursprünglich geplanten: Edison plante mit seinem Grammofon z. B., Telefonate aufzuze­ich­nen und Geschäfte zu doku­men­tieren. Seine Erfindung war dazu ungeeignet, erlebte aber später den Durchbruch als Un­ter­hal­tungsmedium.

Wasserfälle und Totgesagte

Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung beschle­u­nigt sich die tech­nol­o­gis­che Entwicklung nicht. Schon zu Beginn des 19. Jahrhun­derts saßen die Menschen diesem Irrglauben auf und verkündeten euphorisch ein immer besseres Zeitalter. Evo­lu­tions­bi­olo­gen haben die Vorstellung von einem „punctuated equilibrium“ entwickelt, einem un­ter­broch­enen Gle­ichgewicht mit Phasen von reichem Artenwach­s­tum und Phasen des gewaltigen Aussterbens. Auch Tech­nolo­gien entwickeln sich kaskaden- oder wasser­fal­lar­tig. Alte Tech­nolo­gien haben oft noch lange neben neuen Bestand oder kehren sogar wieder zurück; z. B. erleben Füllfeder­hal­ter und Papier eine Renaissance. „Langsame“ Tech­nolo­gien wiederum entwickeln sich manchmal deutlich schneller als andere. Eine neue Technologie löscht die vorherge­hende nicht vollständig aus – das Fernsehen hat das Kino nicht ersetzt. Damit sich eine Technologie möglichst schnell am Markt durchsetzt, muss sie für die Massen­pro­duk­tion taugen, weitgehend unabhängig von teurer In­fra­struk­tur sein und sich einfach benutzen lassen.

Technik versus Soziotech­nik

Viele technische Neuerungen verändern das soziale Verhalten. Wenn Technik aber soziale Probleme lösen will, kann sie genau daran scheitern. Löst der 100-$-Computer das Bil­dung­sprob­lem armer Länder? Wie hoch ist der Nutzen von High-Tech-Medi­zin tatsächlich? Manchmal haben erst soziale Veränderungen wichtige tech­nol­o­gis­che Er­run­gen­schaften zum „Hype“ gemacht, z. B. die Emanzi­pa­tion die An­tibabyp­ille. Die E-Mail hingegen sabotiert sich oft selbst, weil die Nutzer die „Netiquette“ ignorieren und sich die ver­meintliche Zeit­erspar­nis ins Gegenteil verkehrt. Und die nahezu flächen­deck­ende Verbreitung von Handys in den Wohlstandsländern läutet eine Trendwende zurück zum Schreiben ein, in Form von SMS und E-Mail.

„Der Fortschritt nimmt im 21. Jahrhundert einfach eine andere Gestalt an. Er wird mentaler, sys­temis­cher, geistiger als der natur­wis­senschaftliche Fortschritt des mech­a­nis­chen Zeitalters.“

Jede neu entwickelte Technologie durchlebt einen techno-sozialen Zyklus, der sieben Phasen umfasst. Keine einzige lässt sich überspringen oder beliebig verkürzen. Bei Schlüssel­tech­nolo­gien wie der Elek­tri­fizierung oder der Com­put­er­isierung dauerte der Prozess rund 100 Jahre. In dieser Zeit gehen Mensch und Technologie eine enge Verbindung ein. So sieht der Prozess aus:

  1. Am Beginn steht die Prätechnologie, entsprungen aus fan­tastis­chen Visionen. Sie bereitet den Nährboden für Ideen und erste Ver­wirk­lichun­gen.
  2. Damit die eigentliche Erfindung das Licht der Welt erblicken kann, müssen tech­nol­o­gis­che Grundlagen entwickelt und die Kultur bereit für Neues sein.
  3. In der Phase des Proto-Typ­ing wirft die Industrie Modelle auf den Markt, von denen die meisten kurz darauf wieder ver­schwinden. Massen­erzeu­gung senkt den Preis drastisch.
  4. Soziale Gewohn­heiten während der Elite-Nutzung bestimmen den weiteren Gebrauch, eine Demokratisierung der Technologie setzt erst später ein.
  5. Adap­tion­skrisen können eine Technologie bis zum Ausstieg zurückdrängen (Beispiel Kernkraft) oder Verbesserun­gen erzwingen.
  6. Die massenhafte Verbreitung erfordert von den Anwendern einen kollektiven Lernprozess, z. B. in Fahrschulen, denn Autofahren ist eine Kul­turleis­tung.
  7. Per­fek­tion­ierung und In­fra­struk­tur­bil­dung machen die Technologie zum Lifestyle und bestimmen, wie wir damit leben und arbeiten.
„Die Menschen der Zukunft, so wage ich die Prognose, werden humaner sein als wir heutigen Menschen.“

Die Typologie des Autos liefert in­ter­es­sante Beispiele für die Arten­vielfalt, die sich im Lauf der Tech­no­lu­tion entwickelt. Zu Beginn blieb das Fahrzeug seinem Vorbild, der Kutsche, treu. Dank steigender Geschwindigkeit und besseren Straßen erhöhte sich das Reisetempo. Das Auto mutierte zum Sta­tussym­bol und öffnete sich einer neuen, weiblichen Nutzer­gruppe. Der Umweltschutz verlangte nach immer sparsameren Modellen. Aus den heutigen Fahrzeug­typen lassen sich die kommenden Evo­lu­tion­sstränge ablesen: der gestylte Oberk­lassewa­gen mit Hy­bri­dantrieb, das kleine Bil­lig­fahrzeug ohne Schnickschnack für den Weltmarkt, der mit al­ter­na­tiven Antrieb­sstof­fen betriebene Ökowagen und das kompakte Elek­tro­mo­bil für kurze Strecken. Parallel dazu könnte ein in­di­vidu­eller, schienengeführter Verkehr aufkommen. Doch die Tech­no­lu­tion lässt sich nicht präzise vorhersagen – es könnten auch nur zwei oder drei Varianten überleben.

Welche Tech­nolo­gien bleiben?

Auf dem Elek­tron­ikmarkt zählen iPod und iPhone zu den Schlüsselin­no­va­tio­nen der letzten Jahre. Beide Geräte sind bereits Kult und erfüllen alle Kriterien, die für die massenhafte Verbreitung neuer Tech­nolo­gien gelten: Pro­bier­barkeit, d. h. man kann damit herum­spie­len, relativer Vorteil, d. h. sie verbessern Bisheriges; Kom­pat­i­bilität, d. h. sie lassen sich in bekannte technische Zusammenhänge integrieren; geringe Komplexität, d. h. der technische Schwierigkeits­grad für Anwender hält sich in Grenzen; und Beobacht­barkeit, d. h. die Besitzer können stolz darauf sein und ernten Bewunderung. Um zu prog­nos­tizieren, welche Tech­nolo­gien sich künftig durchsetzen werden, sollten Sie zusätzlich zu diesen Kriterien die gegenwärtigen Tech­notrends beobachten, z. B. Retro-En­twick­lun­gen, Rückkehr zur Einfachheit oder Anbindung an vorhandene Systeme.

Zukun­ftsmusik

Werden wir unser Leben künftig als Men­sch-Mas­chine-Sym­biose in einer zweiten, virtuellen Realität verbringen? Oder erfüllt sich unser Wunsch nach Un­sterblichkeit? Wohl kaum – um mit solchen Veränderungen umzugehen, fehlt uns die passende Soziotech­nik. Außerdem ist der Tod Vo­raus­set­zung für jegliche Evolution. Denkbar wäre aber, dass die Menschheit sich in mehrere Spezies aufspaltet. So könnte z. B. der Immortalist entstehen, ein androgyner Überlebenskünstler mit ver­langsamtem Stof­fwech­sel. Nan­otech­nolo­gie, Gen­tech­nolo­gie, In­for­ma­tion­stech­nolo­gie und Hirn­tech­nolo­gie könnten sich zu einer Meta-Tech­nolo­gie vereinigen, aus der wiederum „Mol­e­culeer­ing“ und „Mind-En­gi­neer­ing“ entstünden. Erstes würde ermöglichen, jegliche Moleküle aus Atomen zusam­men­zuset­zen, um z. B. Materialien herzustellen. Letzteres bezeichnet unsere befreiten geistigen Kräfte, dank derer wir unsere Realität selbst produzieren. Der Mensch der Zukunft wird Technologie als Mittel zur Selb­sterken­nt­nis anwenden.

Über den Autor

Matthias Horx ist Trend- und Zukun­fts­forscher und Gründer des Zukun­ftsin­sti­tuts, das Trend­stu­dien herausgibt und Unternehmen berät. Er hat mehrere Bücher verfasst, darunter Future Fitness, Smart Capitalism und Zukunft machen.