Nietzsche – ein Managementdenker
Haben Philosophen früherer Epochen irgendetwas zur wirtschaftlichen Situation des 21. Jahrhunderts zu sagen? Zunächst mag das unsinnig erscheinen. Bei näherem Hinsehen eröffnen vermeintlich antiquierte Denker jedoch oft tiefe Einsichten in den Managementalltag, wie wir ihn kennen. Das gilt für Friedrich Nietzsche ganz besonders. Wer sich mit dem deutschen Philosophen auseinandersetzt, erkennt schnell, dass Nietzsche seiner Zeit oft weit voraus war und viele Entwicklungen vorwegnahm, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. So erkannte er schon im 19. Jahrhundert die Bedeutung des Selbstmanagements: Erfolg hängt nie allein vom Talent ab, sagt Nietzsche. Vielmehr kann jeder Mensch sein Potenzial nur durch kontinuierliche Auseinandersetzung mit der eigenen Person entfalten. Voraussetzung dafür ist vor allem der Mut, sich den täglichen Herausforderungen zu stellen, und die Bereitschaft, sich überhaupt weiterentwickeln zu wollen.
Globale Herausforderungen
Die Wirtschaftswelt ist tief greifenden Veränderungen unterworfen. Nicht nur die aktuelle Finanzkrise verlangt, dass das altbewährte System der Marktwirtschaft überdacht wird. Auch die wirtschaftliche Macht verschiebt sich schneller als zuvor. Zunehmend treten Unternehmen aus Russland, China, Indien oder Brasilien als ernst zu nehmende Global Player auf. Langjährige Wettbewerbsvorteile werden durch die globale Konkurrenz infrage gestellt. Der weltweite Anstieg des Lebensstandards forciert den Kampf um Ressourcen. Und moderne Kommunikationsmittel, allen voran das Internet, beschleunigen die täglichen Prozesse enorm. Nichts ist mehr von langer Dauer.
„Nietzsche war ein scharfsinniger Menschenkenner, und er konnte bereits aus den Ansätzen seiner Zeit ablesen, dass die Machtbestrebungen der unterschiedlichen Nationen und Denkrichtungen in der Zukunft unweigerlich eine globale Dimension annehmen würden.“
Manager und Wirtschaftsbosse stehen unter erhöhtem Druck. Die Anforderung, einerseits Profit zu erwirtschaften und andererseits globale Verantwortung zu tragen, macht den Unternehmensalltag komplexer. Nietzsche hat viel von dieser Entwicklung vorausgesehen – schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts. So war er sich sicher, dass ein westeuropäisches Bündnis entstehen und die Wirtschaft der Motor der Globalisierung sein würde. Dem Kampf um natürliche und menschliche Ressourcen maß er in dieser Hinsicht zentrale Bedeutung bei. „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei“, erkannte er. Schon im nächsten Jahrhundert werde es „um die Erdherrschaft“ gehen.
Chaosmanagement
Nietzsche begrüßte chaotische Zustände nicht nur, sie waren für ihn geradezu eine Voraussetzung, um herausragende Leistungen erbringen, neue Strukturen entwickeln und sich mit Freude Herausforderungen stellen zu können. Eindeutig „richtige“ Entscheidungen gibt es nicht mehr, das war ihm klar. Man kann etwas durchaus zugleich richtig und falsch machen – je nach Sichtweise. Solche Widersprüche sind für Nietzsche ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und liefern erst den Samen der Kreativität. Ein prominentes Beispiel eines fruchtbaren Paradoxons ist China: Trotz seiner kommunistischen Staatsstruktur gelingt es dem Land eindrucksvoll, die eigene Wirtschaft kapitalistisch auszurichten.
„Überlegenheit entsteht laut Nietzsche nur aus einer überragenden persönlichen Leistung.“
Besonders weitblickend war Nietzsche in seinem Aufruf zu mehr Selbstständigkeit im Denken und Handeln. Die Betonung der Eigenverantwortung gehört zu den wesentlichen Merkmalen der heutigen Businesswelt. Für Nietzsche folgen die Menschen letztlich nur zwei bedeutenden Handlungsimpulsen: Sie wollen sich selbst verwirklichen, und sie haben das Bedürfnis, herausragende Persönlichkeiten bei ihrer Entwicklung zu unterstützen. Manche neigen stärker zum ersten Impuls, manche eher zum zweiten. Daraus ergibt sich eine Hierarchie: Wer selbst viel leistet, erwirbt sich damit auch das Recht, andere zu führen.
Ständiges Hinterfragen
Sind Manager nicht schon zu narzisstisch und egoistisch, um ihnen auch noch mit Nietzsche zu kommen? Tatsächlich begegnet man dem radikalen Philosophen heute oft mit Vorurteilen. Das mag daran liegen, dass in der Öffentlichkeit meist nur die extremsten Gedanken des Philosophen diskutiert werden. Ihm wird Nihilismus und eine alles verneinende Haltung unterstellt. Seine Schriften belegen jedoch etwas anderes: Nietzsche lehnt vor allem das ab, was bislang unhinterfragt übernommen wurde – um dann auf den Trümmern der alten Überzeugungen Neues entstehen zu lassen. Traditionen und althergebrachte Vorstellungen will er genauso überwinden wie scheinbar unerschütterliche Werte. Dies darum, weil geistige und moralische Weiterentwicklung in seinen Augen nur möglich ist, wenn man sich einen offenen Blick für die aktuellen Herausforderungen bewahrt. Die Dinge ändern sich laufend, also können auch die Antworten nicht dieselben bleiben. Diese kann jeder nur für sich selbst finden. Wahrheit ist für Nietzsche nichts Objektives, sondern hängt von der subjektiven Wahrnehmung des Einzelnen ab.
Wider das Mitläufer- und Anpassertum
Was Nietzsches Schriften wie ein roter Faden durchzieht, ist sein extremer Individualismus. Mitläufer und Anpasser sind für ihn „Herdenmenschen“ und das Hindernis jeder bedeutenden Entwicklung – egal, ob es sich um die Entwicklung einer einzelnen Persönlichkeit oder einer Gruppe handelt. Aus diesem Streben nach unbehinderter Entfaltung hat Nietzsche das Konzept des Übermenschen entworfen, womit er sich starker Kritik aussetzte. Was er damit aber vor allem zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass der Mensch sich selbst nicht als Endstufe der Evolution, sondern als Zwischenetappe in seinem persönlichen Entwicklungsprozess begreifen soll.
„Der Manager muss sich mit Paradoxien auseinandersetzen und muss seinen eigenen Weg durch dieses Gestrüpp aus widersprüchlichen Anforderungen, Werten und Prioritäten finden.“
Ebenfalls umstritten ist Nietzsches Ansicht, dass sich die Geschichte ständig wiederhole, wie man anhand der immergleichen Konflikte sehen könne. Daraus folgert er, dass die Förderung der wenigen herausragenden Persönlichkeiten, die eine Zeit kenne, oberste Priorität haben müsse. Diese Persönlichkeiten seien das eigentliche Produkt der Geschichte – nicht eine andere, bessere Zukunft.
„Ein stures Festhalten an alten Grundsätzen, selbst wenn sich für diese keine sinnvollen Begründungen in der Gegenwart finden lassen, war für Nietzsche im besten Fall ein Zeichen von Schwäche.“
Nietzsche sprach sich damit für eine Elite aus – aber für eine Elite, die ihre führende Stellung ausschließlich ihrer Leistung und nicht Machtspielen verdankt. Überhaupt fordert er dazu auf, Machtstrukturen radikal zu hinterfragen. Dort, wo sie nicht die Weiterentwicklung der Menschen fördern, sondern diese nur ausbeuten würden, seien sie abzuschaffen. Wahre Macht liegt für Nietzsche im Willen zur Selbstverantwortung und im Streben nach höheren Potenzialen. Das dient durchaus auch der Gemeinschaft: Erst der Respekt vor sich selbst ermöglicht das Zugehen auf andere Menschen und eine Zusammenarbeit, die nicht von Egoismus geprägt ist.
Offenheit und Experimentierfreude
Nietzsche erkannte schon früh, dass die Globalisierung das Zusammenleben ganz neu ordnet. Nichts ist mehr sicher. Die weltweiten Märkte, die Techniken und das Wissen ändern sich so rasant, dass es für traditionelle Wettbewerbsvorteile, für Unternehmensmodelle und damit für Arbeitsplätze keine Garantie mehr gibt. Selbst die beste Ausbildung sichert heute nicht mehr automatisch eine Karriere im Management.
„Für die Masse der Menschen gibt es kein Ende der primitiven Konflikte zwischen Ideologien oder Religionen.“
In diesem tief greifenden Wandel besitzt jeder Mensch die Entscheidungsfreiheit, entweder die altbekannten Strukturen und Gewohnheiten zu bewahren oder sich mutig der Herausforderung einer neuen, unbekannten Zukunft zu stellen. Letzteres setzt allerdings voraus, dass man jeder Situation völlig offen und unbelastet sowie mit spielerischer Experimentierfreude begegnet. Nietzsche vergleicht diese Haltung mit dem unschuldigen Blick eines Kindes, das das Leben erforschen möchte.
Mut: die Management-Tugend schlechthin
Unter Mut versteht Nietzsche ein Bündel von sieben Eigenschaften. Als wichtigste betrachtet er die bereits erwähnte Selbstverantwortung. Unter dem Begriff Selbstmanagement taucht dieser Aspekt heute häufig in der Wirtschaft auf. Für Nietzsche bedeutet Selbstverantwortung den Willen, herauszufinden, welches Potenzial in einem steckt, und dieses gegen alle möglichen Widerstände zum Ausdruck zu bringen. Wer sich darauf einlässt, erlangt nicht nur Zufriedenheit im Alltag, sondern kann auch andere Menschen ohne Aggressivität führen. Manager würden sich dann z. B. nicht in heuchlerischen Gebaren verlieren, sondern sich auf das konzentrieren, was den Erfolg ihrer Arbeit ausmacht: exzellente Leistungen.
„Der Mensch neigt dazu, die Gegenwart zu unterschätzen.“
Um Selbstverantwortung leben zu können, ist ein entsprechendes Arbeitsumfeld notwendig. Dazu gehören etwa die Möglichkeit des freien Denkens, das Zulassen von Fehlern oder die Gelegenheit, sich der persönlichen Entfaltung zu widmen. Auf die Fähigkeit zur mentalen Unabhängigkeit legt Nietzsche besonders viel Gewicht. Weiterentwicklung und das unerlässliche Eingehen von Risiken sind für ihn nur vor dem Hintergrund dieser Freiheit möglich.
„Nur wer Macht hat, weil er der Stärkere ist, hat wirklich Macht.“
Der zweite Aspekt von Nietzsches Mut-Verständnis ist das Vertrauen in die Intuition. Er geht davon aus, dass die Welt, die die Menschen erleben, nicht auf Fakten basiert. Realität ist für ihn vor allem eine subjektive Interpretation der gegebenen Situationen. Die Wirklichkeit lässt sich aus seiner Sicht weder logisch erklären noch durch Wertedefinitionen schaffen. Realität können die Menschen nur über die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und das Vertrauen in die persönliche Erfahrung erkennen. Für das moderne Management ergibt sich daraus die Aufforderung, eine Unternehmenskultur zu etablieren, in der alle Formen der menschlichen Wahrnehmung, nicht nur die rationale, gefördert werden.
Leistungsbereitschaft und Kritikfähigkeit
Die nächsten beiden Bestandteile des Mutes bedingen einander gegenseitig: das Bekenntnis zur Leistung und die Akzeptanz von Eliten. Nietzsche ist ein ausgesprochener Verfechter von Anstrengung und unermüdlichem Arbeiten. Dabei geht es ihm nicht einfach darum, beschäftigt zu sein. Das Streben nach Leistung ist für ihn vielmehr die einzige Möglichkeit des Menschen, sich aus seiner Neigung zur Trägheit zu lösen und brachliegendes Potenzial auszuschöpfen. Daher legt Nietzsche viel Wert auf geistige Arbeit, die eine Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten ermöglicht.
„Wer Missstände zumindest innerlich anerkennt und sich dann dazu entschließt, sie zu bekämpfen und zu überwinden, der braucht Mut.“
Auch die drei letzten Facetten von Nietzsches Mut-Begriff haben ihre Entsprechungen im heutigen Managementalltag. Es sind der kühne Entwurf radikaler Visionen, das Bekenntnis zu einer auf die Entfaltung von Potenzialen ausgerichteten Führung und der Wille zur Macht über sich selbst. Manager, die wirklich Neues schaffen wollen, also ihre bisherigen Sichtweisen auf den Prüfstand stellen und wenn nötig verwerfen, werden keine bloßen Jasager und Lakaien heranziehen. Sie werden Mitarbeiter fördern, die kritisch denken und die ihr Augenmerk ebenfalls auf noch unerreichte Ziele richten. Solche Manager wenden sich in ihrer Macht nicht gegen andere, sondern nutzen sie für sich selbst. Sie haben keine Angst, dass jemand besser sein könnte, denn sie haben sich dem bestmöglichen Ergebnis ihres Unternehmens verschrieben.
Dr. Andreas Drosdek ist freier Journalist, Unternehmensberater und Experte für die Verbindung von Philosophie und Management. Er hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben, darunter Hagakure für Führungskräfte.