Der Golem

Buch Der Golem

Leipzig, 1915
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Vision und Realität

Durch die Gassen des Prager Ghettos treibt sich ein sonderbarer Fremder; wer ihn sieht, glaubt sich selbst zu begegnen. Es ist der Golem, sagen die Menschen, jenes Kunstwesen aus Lehm, das im 16. Jahrhundert von Rabbi Löw erschaffen wurde und nun alle 33 Jahre wiederkehrt. Auch Athanasius Pernath trifft auf die geheimnisvolle Gestalt, und diese Begegnung führt ihn in die Tiefen seiner eigenen Seele und seiner längst vergessenen Ver­gan­gen­heit. Die Geschichte von Pernath stellt sich zunächst als Traum eines anonymen Ich-Erzählers heraus. Doch dann begegnet der Träumer niemand anderem als Athanasius Pernath – und der sieht aus wie er selbst. Ist die Geschichte nun Traum oder Realität? Sind Pernath und der Träumer vielleicht beide Verkörperungen des Golems? Gustav Meyrink spielt in seinem Roman meisterlich mit Realität und Fantasie und führt den Leser in eine geheimnisvolle, mystische Welt, die untrennbar mit der Wirk­lichkeit verwoben ist und der die Ro­man­fig­uren nicht entrinnen können. Ein rätselhaftes, tiefgründiges Buch, das zu den Klassikern der fan­tastis­chen Literatur zählt.

Take-aways

  • Gustav Meyrinks Der Golem ist einer der bekan­ntesten fan­tastis­chen Romane.
  • Inhalt: Der Erzähler träumt die Geschichte von Athanasius Pernath, der im Prager Ghetto lebt und einem geheimnisvollen Unbekannten begegnet, of­fen­sichtlich einem Golem, einem künstlichen Menschen. In der Folge hat Pernath mehrfach Visionen und wird als Mordverdächtiger festgenom­men, aber wieder freige­lassen. Kurz darauf begegnet der Erzähler seinen Traumgestal­ten in der Realität.
  • Mit der Figur des Golems bezieht sich Meyrink auf eine alte jüdische Sage, er gestaltet den Stoff jedoch völlig neu.
  • Im Text finden sich zahllose An­spielun­gen auf Sagen, Mythen, Religionen und Geheim­lehren.
  • Die Grenze zwischen Realität und Traum wird verwischt.
  • Meyrinks bildhafter, expressiver Stil mit seinen vielen kurzen, abgehackten Sätzen verstärkt die unheimliche Grund­stim­mung des Buchs.
  • Die Begegnung mit dem Golem wurde als Au­seinan­der­set­zung mit dem eigenen Ich in­ter­pretiert.
  • Außerdem hat man den Roman als Parabel auf Öster­re­ich-Un­garn gelesen, das zu jener Zeit bereits vom Zerfall bedroht war.
  • Der Roman, erschienen 1915, ist das er­fol­gre­ich­ste Werk Gustav Meyrinks.
  • Zitat: „Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel deutlicher. Und es rührte mein Herz an wie eine Frage.“
 

Zusammenfassung

Der Traum

Der Erzähler liegt nachts bei Mondlicht im Bett und grübelt über eine Geschichte nach, die er gelesen hat. Darin geht es um einen Stein, der glatt ist wie ein Stück Fett. Von diesem Bild kommen seine Gedanken nicht los, es verfolgt ihn bis in seine Träume ...

„Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller, flacher Stein.“ (S. 7)

Der Gem­men­schnei­der Athanasius Pernath lebt im Prager Judenghetto, einer düsteren und ärmlichen Umgebung. Gegenüber wohnt der alte, abstoßend hässliche Trödler Aaron Wassertrum mit seiner 14-jährigen Tochter Rosina. Das Mädchen ist hübsch, gerissen und verdreht den Männern die Köpfe. Auch die Zwillinge Loisa und Jaromir, 15 Jahre alt, sind verrückt nach ihr. Doch Rosina nimmt die beiden Jungen, ins­beson­dere den taubstummen Jaromir, nicht ernst. Als Pernath sein Appartement betritt, hört er in der Nach­bar­woh­nung Gelächter. Diese ist seit Neuestem an ein Liebespaar vermietet, das sich dort heimlich trifft.

Ein geheimnisvoller Besucher

Ein Unbekannter bringt Pernath ein altes Buch zur Reparatur. Bei einem Kapitel ist eine goldene Initiale beschädigt, Pernath soll sie ausbessern. Er betrachtet den Schaden und beginnt unwillkürlich zu lesen. Da steigen vor seinem inneren Auge Visionen auf, und er spürt, dass sie mit ihm selbst zu tun haben. Er liest das Buch bis zum Ende, und als er aufblickt, ist der Fremde ver­schwun­den. Zu seiner Verblüffung stellt Pernath fest, dass er sich an das Gesicht des Fremden nicht erinnern kann. Trotz allen Grübelns hat er keine Vorstellung davon. Schließlich geht er vor die Tür, um selbst die Rolle des Besuchers einzunehmen. Da bemerkt er mit Schrecken, dass er jetzt so aussieht wie der geheimnisvolle Fremde und auch das Buch aus der Tasche holt. Plötzlich ist er wieder er selbst – und kann sich den Fremden abermals nicht vorstellen.

Die Menschen im Ghetto

Es regnet in Strömen. Pernath und der Medi­zin­stu­dent Charousek stehen unter einer Toreinfahrt und warten darauf, dass der Regen nachlässt. Pernath denkt über das Leben der Menschen in dieser freudlosen Umgebung nach. Charousek, der seine Gedanken zu erraten scheint, erklärt ihm, dass es im Ghetto durchaus auch Millionäre gebe, denen man den Reichtum allerdings nicht ansehe, z. B. den Trödler Wassertrum. Pernath kann das nicht glauben, doch Charousek erklärt ihm, der berühmte Augenarzt Dr. Wassory sei Wassertrums Sohn gewesen. Mit Betrügereien war Wassory reich geworden, doch Charousek kam ihm schließlich mithilfe eines Dr. Savioli auf die Schliche. Wassory nahm sich das Leben, und nun müssen Savioli und er Wassertrums Rache fürchten. Pernath erschrickt, als ihm auffällt, dass Savioli der Name des Mannes ist, der die Nach­bar­woh­nung gemietet hat. Auf der anderen Straßenseite bemüht sich der Ver­sicherungs­di­rek­tor Zottmann, ein älterer Herr, um Rosinas Aufmerk­samkeit und ver­schwindet dann mit ihr im Haus.

Eine Entdeckung

An seinem Geburtstag sitzt Pernath abends mit seinen Freunden zusammen. Er erzählt von seinem sonderbaren Gast mit dem Buch. Zwakh, der Pup­pen­spieler, hat eine Erklärung, wer der Fremde gewesen sein könnte: der Golem, jener künstliche Mensch, den einst Rabbi Löw aus Lehm formte und der nun der Legende nach alle 33 Jahre im Ghetto erscheint. Vor 66 Jahren habe man ihn mehrfach gesehen. Damals sei er immer in einem Haus nahe der Synagoge ver­schwun­den. Dort habe es ein Zimmer mit ver­git­tertem Fenster und ohne Tür gegeben. Ein Mann habe sich damals abgeseilt, um in das Fenster sehen zu können, und sei in die Tiefe gestürzt. Über dem Gespräch wird Pernath sehr müde. Die Freunde glauben, er sei eingeschlafen, und reden nun über ihn. Zwakh erzählt, Pernath habe einige Zeit im Irrenhaus verbracht. Um ihn ein schreck­liches Ereignis vergessen zu lassen, habe man ihm durch Hypnose die Erinnerung an seine Ver­gan­gen­heit genommen. Nun lebe er hier, wo ihn niemand kenne. Pernath hört das alles, und mit einem Schlag wird ihm bewusst, weshalb er sich nicht an seine Jugend erinnern kann: Ein Teil seiner Existenz ist von ihm abgespalten. Zu ihm gibt es – wie zu dem rätselhaften Zimmer, in dem der Golem verschwand – keinen Zugang.

Der Retter

Am Abend nehmen die Freunde Pernath mit in eine Spelunke, wo sich allerhand Gesindel versammelt. Plötzlich merkt er, wie ihn eine sonderbare Starre überfällt und er nicht einmal mehr sprechen kann. Die Freunde tragen ihn zu seinem Nachbarn, dem Archivar und Gelehrten Hillel. Als dieser eine Beschwörungsformel murmelt, fällt die Starre von Pernath ab. Hillel erklärt ihm, dass er durch sein Lesen im Buch des Fremden den Geist des Lebens in sich aufgenommen habe und nun nicht mehr sterben könne. Später liegt Pernath wach und grübelt über seine Ver­gan­gen­heit nach. Seine Erinnerung umfasst nur seine Zeit als Gem­men­schnei­der im Prager Ghetto. Krampfhaft versucht er, sich weiter zurückzutasten, aber es gelingt ihm nicht. Später nimmt die Frau von nebenan, Saviolis Geliebte, Kontakt zu Pernath auf und bittet ihn um Unterstützung: Sie fühlt sich von Wassertrum bedroht und fürchtet, er könne ihr und Savioli schaden. Dabei stellt sich heraus, dass sie Pernath von früher kennt, ein Umstand, der ihn in freudige Erregung versetzt: Vielleicht kommt er durch sie seiner Ver­gan­gen­heit näher. Gern sagt er ihr seine Hilfe zu.

Ein Weg in die Tiefe

Gemeinsam mit Charousek bringt Pernath in der folgenden Nacht Briefe von Savioli und seiner Geliebten aus der Nach­bar­woh­nung in Sicherheit. Dabei fällt ihm dort eine Falltür auf. Als Charousek gegangen ist, kehrt er zurück, öffnet die Falltür und steigt hinab in ein un­terirdis­ches Labyrinth, das das Ghetto durchzieht. Nach einem langen Irrgang durch die finsteren Tunnel findet Pernath schließlich eine Treppe nach oben. Durch eine weitere Falltür gelangt er in ein Zimmer, zu dem es sonst keinen Zugang gibt. Der Mond scheint durch ein ver­git­tertes Fenster und beleuchtet einen Haufen Gerümpel: altmodische Kleider, ein Tarockspiel. Pernath nimmt die Karten in die Hand und blättert sie durch. Da überfällt ihn eine solche Kälte, dass er sich kaum noch rühren kann. Um nicht zu erfrieren, zieht er die alten Kleider über seine eigenen. Nun wird ihm wärmer. Im Mondlicht steigt aus einer der Karten sein Ebenbild und wird größer und größer. Pernath begreift, wo er ist: in dem geheimnisvollen Zimmer, wo man den Golem suchte. Nun sitzt er der Erscheinung Auge in Auge gegenüber; bis zum Son­nenauf­gang will er die Begegnung aushalten. Einige Stunden muss er so verharren. Dann wird es langsam hell, und die Gestalt schrumpft wieder zu einer Spielkarte. Durch den un­terirdis­chen Gang sucht sich Pernath einen Weg nach draußen. Auf der Straße erschrecken die Leute vor ihm; wegen seiner alt­modis­chen Kleider halten sie ihn für den Golem.

Ein Mord

Zu Hause angekommen, nimmt Pernath die Briefe aus der Nach­bar­woh­nung zur Hand, um sie zu verstecken. Aus dem Stapel rutscht ein Foto der Frau, versehen mit ihrem Namen: Angelina. Mit einem Schlag wird Pernath von Erin­nerun­gen an seine Ver­gan­gen­heit überwältigt und braucht alle Kraft, um seine Gefühle im Zaum zu halten. Da stehen plötzlich Zwakh und Hillel in der Tür. Zwakh berichtet aufgeregt, dass der Golem sich wieder herumtreibe und ein Verbrechen geschehen sei: Zottmann ist ermordet worden, Rosina ist ver­schwun­den, Loisa verhaftet.

„Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel deutlicher. Und es rührte mein Herz an wie eine Frage.“ (S. 20)

Pernath ist immer mehr von Hillels Tochter Mirjam fasziniert und verewigt ihr Gesicht in einer Gemme. Inzwischen hat er auch die Initiale in dem geheimnisvollen Buch repariert und dabei fest­gestellt, dass es auf Hebräisch geschrieben ist – er kann es eigentlich gar nicht lesen.

Sonderbare Er­schei­n­un­gen

Als er eines Abends in seine Wohnung zurückkehrt, hat Pernath das starke Gefühl, dass noch jemand anwesend ist, obwohl er niemanden sehen kann. Eine unerträgliche Anspannung erfüllt ihn. Weil er keinen Schlaf findet, setzt er sich schließlich in einen Lehnstuhl und dämmert vor sich hin. Plötzlich sieht er, was er bisher nur fühlte: Vor ihm erscheint ein merkwürdiges Wesen, dessen Kopf aus Nebel besteht. Es hält ihm Körner entgegen. Pernath weiß nicht, was er tun soll, aber er spürt, dass viel von seiner Entschei­dung abhängt. Schließlich schlägt er dem Wesen die Körner aus der Hand. Die Erscheinung ver­schwindet. Irgendwann fällt Pernath in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen erfährt er, dass in der Nacht die steinerne Brücke über die Moldau eingestürzt ist. Später, an einem schönen Frühlingstag, holt Angelina Pernath zu einer Kutschfahrt ab. Sie ist lebhafter als sonst, verführerisch, und Pernath verfällt ihrem Charme. Schließlich nimmt sie ihn mit zu sich nach Hause. Auf dem Heimweg am späten Abend verläuft sich Pernath in der Prager Altstadt. Wo vorher eine Gasse war, steht plötzlich ein Haus. Pernath klopft an die Tür, um nach dem Weg zu fragen. Ein uralter Mann erscheint, der aber nicht auf ihn reagiert. Irgendwann findet Pernath den Rückweg, er schaut noch bei seinen Freunden in der Kneipe vorbei und erzählt ihnen von dem merkwürdigen Haus. Da erfährt er, dass er wieder einmal eine Erscheinung hatte: Das Haus taucht nur in der Nacht auf und zeigt sich nur auserwählten Personen.

Der Verdacht

Als Pernath erwacht, erscheint ihm alles so sinnlos, dass er ernsthaft an Selbstmord denkt. Doch vor diesem Schritt will er Mirjam noch sein ganzes Geld geben. Da taucht Wassertrum auf, der ihm eine goldene Uhr als Geschenk aufdrängt. Pernath geht zur Bank, um seine Ersparnisse abzuheben. Doch sein Konto hat eine Kündi­gungs­frist, er kann das Geld erst in einer Woche bekommen. Frustriert setzt er sich in eine Kneipe – und wird später dort festgenom­men. Die goldene Uhr gehörte dem ermordeten Zottmann, und nun ist Pernath verdächtig. Of­fen­sichtlich war das Wassertrums Absicht. Pernath streitet alles ab und kommt in Un­ter­suchung­shaft. Eines Tages wird ihm ein Brief von Charousek in die Zelle geschmuggelt: Der Student will Beweise für Pernaths Unschuld beschaffen. Ein neuer Gefangener kommt in die Zelle, der Lustmörder Laponder. Er macht einen fried­fer­ti­gen Eindruck, doch Pernath fürchtet sich vor ihm. Eines Nachts bei Vollmond hört er Laponder plötzlich im Schlaf sprechen – mit Mirjams Stimme. Laponder ist of­fen­sichtlich ein Medium. Pernath stellt Mirjam Fragen und bekommt Antwort. Dann sprechen die Stimmen von Hillel und Charousek. Pernath ist sehr aufgewühlt und teilt seine Erlebnisse am nächsten Tag Laponder mit. Doch der wird zur Hinrichtung abgeholt, und Pernath ist wieder allein. Erst einige Monate später wird er eines Abends plötzlich freige­lassen: Seine Unschuld ist erwiesen, Loisa hat Zottmann aus Eifersucht wegen Rosina ermordet.

Die Heimkehr

Pernath möchte zurück in seine Wohnung – doch das Ghetto gibt es nicht mehr. Die alten Häuser werden abgerissen; wo Pernath und seine Bekannten lebten, stehen nur noch Ruinen. Er irrt umher und fragt schließlich einen Arbeiter, was aus seinen Freunden geworden sei. Der kennt von den Personen, die Pernath nennt, niemanden, nur der taubstumme Jaromir ist ihm ein Begriff. Diesen trifft Pernath schließlich in einer Kneipe. Mühselig versucht er etwas über die anderen zu erfahren. Doch aus Jaromirs Zeichen kann er nur erraten, dass niemand mehr da ist. So mietet er sich eine Wohnung in dem Haus, in dem auch das Zimmer des Golems sein soll. Dieses Haus ist eines der wenigen im Viertel, das noch steht. An Weihnachten sitzt er allein in seiner Wohnung, da steht plötzlich sein Doppelgänger auf der Türschwelle. Im selben Moment bricht im Haus ein Feuer aus. Pernath rettet sich auf das Dach und seilt sich von dort ab. Dabei sieht er in das geheimnisvolle Zimmer. Es ist hell erleuchtet und Mirjam und Hillel sind darin. Außer sich vor Freude lässt Pernath das Seil los. Er will sich noch am Fenstersims festhalten, rutscht aber ab, denn der Stein ist glatt wie ein Stück Fett ...

„Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespen­stis­chen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Ghetto ein kab­bal­akundi­ger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedanken­losen au­toma­tis­chen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.“ (S. 28)

Mit diesem Satz kommt der Erzähler wieder zu sich. Of­fen­sichtlich hat er alles nur geträumt. Er betrachtet einen Hut, den er an diesem Tag im Dom verse­hentlich mitgenommen hat. Darin steht ein Name: Athanasius Pernath. Nun ist der Erzähler hellwach und macht sich mitten in der Nacht auf die Suche nach den Spuren seines Traums. Das Ju­den­vier­tel ist inzwischen neu aufgebaut. In einer Kneipe erzählt ihm die Kellnerin, dass die steinerne Brücke vor 33 Jahren eingestürzt sei. Dann findet er auch noch zwei Männer, denen der Name Pernath etwas sagt. Der eine meint, Pernath sei ein Verrückter gewesen. Der andere fährt dazwischen: Pernath sei eine Sagengestalt, es habe ihn nie gegeben. Doch manche würden behaupten, er lebe immer noch, und zwar in dem gespen­stis­chen Haus in der Altstadt. Der Erzähler macht sich erneut auf die Suche. Er findet die Stelle, wo das Haus stand; dort befindet sich nun ein prächtiges Bauwerk. Mirjam und Pernath stehen auf den Stufen. Als Pernath sich zu ihm dreht, erschrickt der Erzähler: Der Mann ist sein exaktes Ebenbild. Ein Diener kommt zum Tor, nimmt ihm den ver­tauschten Hut ab und gibt ihm dafür seinen eigenen zurück.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Golem besteht aus 20 Kapiteln, die teilweise wiederum durch Trennlinien in Abschnitte un­ter­gliedert sind. Jedes Kapitel trägt einen einsilbigen Titel, z. B. „Schlaf“, „Prag“, „Spuk“, „Not“ oder „Mond“. Die zentrale Handlung spielt in Prag um das Jahr 1890 und wird von Athanasius Pernath aus der Ich-Per­spek­tive dargestellt. Sie ist eingebettet in den Bericht eines namenlosen Ich-Erzählers, der die Haupthand­lung träumt, anschließend seiner Traumfigur Pernath begegnet – und sich selbst in ihr erkennt. Die Rah­men­hand­lung spielt etwa 33 Jahre später, also zu einem Zeitpunkt, der bei Erscheinen des Romans noch in der Zukunft lag. Zu Beginn wechseln die beiden Erzählebenen mehrfach, dann liegt der Schwerpunkt auf der Haupthand­lung und wechselt erst am Schluss wieder zur Rah­men­hand­lung. Neben Hochdeutsch sprechen die Figuren auch Jiddisch, Tschechisch oder Prager Dialekt. Der Text wimmelt von An­spielun­gen auf Mythen, Gottheiten und Fabelwesen aus den un­ter­schiedlich­sten Religionen und Kulturen. Zitate aus dem Alten Testament tauchen ebenso auf wie unverständliche Worte einer Geheim­sprache. Der un­heim­lichen Grund­stim­mung entspricht der bildhafte, expressive Stil mit oft kurzen, abgehackten Sätzen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Golem spielt in einer unheilen Welt: Die Umgebung ist düster und ärmlich, die zwis­chen­men­schlichen Beziehungen sind bis auf wenige Ausnahmen geprägt von Hass, Verbrechen und Gier. Manche Interpreten deuten den Roman als Bildnis des unaufhalt­samen Zerfalls der Monarchie Öster­re­ich-Un­garn. Ein Gegengewicht zu dieser traurigen Welt bildet das mystische Geheimwis­sen, wie es z. B. Hillel besitzt. Es verleiht dem Dasein einen tieferen Sinn.
  • Die Realität des Romans ist durchzogen von geheimnisvollen Zusammenhängen, die sich dem Leser nur allmählich und stückweise enthüllen. Die Grenze zwischen Realität und Illusion verwischt: Was zunächst wie ein Traum erscheint, wird am Ende Teil der Wirk­lichkeit. Meyrink lässt den Leser im Unklaren darüber, inwieweit den Wahrnehmungen der Pro­tag­o­nis­ten zu trauen ist – immerhin war Pernath dem Wahnsinn verfallen. Manches wird bewusst of­fen­ge­lassen, z. B. erfährt der Leser nie, welche schlimmen Erin­nerun­gen bei Pernath ausgelöscht wurden und dann wieder zurückkehren.
  • Die Figur des Golems und das Zimmer ohne Zugang stehen für die seelischen Aspekte, die die Menschen verdrängen und denen sie doch auf Dauer nicht entrinnen können. Die Begegnung mit dem Golem ist letztlich eine Begegnung mit dem eigenen Ich. Sie bietet die Chance, das Abges­pal­tene zu integrieren und dadurch heil zu werden. Auch das Umfeld, die Prager Altstadt mit ihren düsteren Gassen und un­terirdis­chen Gängen, lässt sich als Bild für das Unbewusste in­ter­pretieren.
  • Ein zentrales Motiv des Romans ist die Frage der Identität. Jede Begegnung mit dem Golem als Doppelgänger ist eine Au­seinan­der­set­zung mit sich selbst. Unklar bleibt sowohl die Identität des namenlosen Ich-Erzählers als auch die des Golems selbst: Letztlich könnten Pernath und der namenlose Erzähler selbst der Golem sein, da sie einander im Abstand von 33 Jahren begegnen und identisch aussehen.
  • Man hat dem Roman an­ti­semi­tis­che Tendenzen vorgeworfen: Vor allem der hässliche, geldgierige Trödler Aaron Wassertrum bedient alle negativen Klischees.

His­torischer Hintergrund

Ein unruhiger Vielvölkerstaat: Öster­re­ich-Un­garn um 1900

Tschechien, das damals noch Böhmen hieß, gehörte zu Beginn des 20. Jahrhun­derts zur Monarchie Öster­re­ich-Un­garn. Diese vereinte innerhalb ihrer Grenzen zahlreiche Nationen in Ost- und Südosteuropa, ein buntes Gemisch von Völkern und Kulturen, deren Zusam­men­leben sich schwierig gestaltete. Schon die zweite Hälfte des 19. Jahrhun­derts war in ganz Europa vom Aufkommen na­tion­al­is­tis­cher Strömungen geprägt. In den meisten Staaten führte dies zu wachsendem Pa­tri­o­tismus, in Öster­re­ich-Un­garn dagegen zu zunehmenden Spal­tung­s­ten­den­zen. Die einzelnen Volks­grup­pen pochten mehr und mehr auf Gle­ich­berech­ti­gung und Selb­st­bes­tim­mung. Vor allem in Serbien, Böhmen und Ungarn kam es immer wieder zu Unruhen. In Wien hatte man für solche Be­stre­bun­gen wenig Verständnis und versuchte sie nach Möglichkeit zu unterdrücken.

Einzelne zaghafte Re­for­mver­suche führten eher zu noch größeren Problemen: 1897 ging die Regierung auf Forderungen tschechis­cher Na­tion­al­is­ten ein und verfügte, dass alle Behörden in Böhmen zukünftig zweis­prachig sein sollten. Diese Maßnahme wiederum rief na­tion­al­is­tis­che Deutsche auf den Plan. Sie weigerten sich, Tschechisch zu lernen, wollten aber auch das Beamtentum nicht den Tschechen überlassen. Nach massiven Protesten wurde die Verordnung wieder zurückgenommen, was die Tschechen in Aufruhr brachte. Aus Angst vor dauerhafter Instabilität handelte die Regierung zunehmend autoritär und regierte über Jahre hinweg hauptsächlich mit Not­standsverord­nun­gen. Unter den politischen Spannungen dieser Zeit hatten besonders die Juden zu leiden, denn der Na­tion­al­is­mus der einzelnen Volks­grup­pen machte sich oft in offenem An­ti­semitismus Luft. Die Spannungen zwischen den Nationalitäten führten schließlich zur Ermordung des Thron­fol­gers Franz Ferdinand, zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und zum Zerfall der Donau­monar­chie.

Entstehung

Gustav Meyrink begann etwa 1907 mit der Nieder­schrift des Romans und saß mehrere Jahre daran. Der ursprüngliche Entwurf war so umfangreich, dass Meyrink erheblich kürzen musste, um überhaupt zu einem Ende zu kommen. Die Grundlage des Romans bildet die alte Sage des Golems, eines künstlichen Menschen aus Lehm, den der Prager Rabbi Löw im 16. Jahrhundert erschaffen haben soll. Der Sage nach erwachte der Golem zum Leben, wenn man ihm einen Zettel mit dem wahren Namen Gottes unter die Zunge legte. Er war ein Diener des Rabbi und beschützte die Juden. Doch jeden Abend musste der Rabbi den Zettel wieder entfernen. Als er es einmal vergaß, zerschlug der Golem alles, was ihm in den Weg kam – bis der Rabbi sein Geschöpf zerstörte. Bei Meyrink ist der Golem kein Diener, sondern eine unheimliche Gestalt, die mit ihrem pe­ri­odis­chen Auftauchen im Ghetto an Ahasver erinnert, den Ewigen Juden, der immer umher­wan­dern muss, weil er nicht sterben kann.

Meyrink, der sich ein Leben lang intensiv mit Geheim­lehren aller Art befasste, ve­r­ar­beit­ete in seinem Roman die un­ter­schiedlich­sten Religionen und Mythen. So finden sich An­spielun­gen auf die jüdische Mystik ebenso wie auf den Isis-Kult. Daneben enthält Der Golem Elemente des klassischen Schauer­ro­mans, etwa die Motive des Doppelgängers, des geheimnisvollen Zimmers oder des im Schlaf sprechenden Mediums. Damit steht Meyrink in der Tradition von Autoren wie Edgar Allan Poe oder E. T. A. Hoffmann. Zugleich kann Der Golem auch als Krim­i­nal­ro­man oder als Liebesgeschichte gelesen werden. Außerdem verweist er an manchen Stellen auf historische Ereignisse und auf Meyrinks eigene Biografie: Wie Pernath saß der Autor einige Zeit unschuldig im Gefängnis, und dass Pernath anschließend seine Wohnung und seine Freunde nicht mehr finden kann, entspricht der Zerstörung von Meyrinks Existenz als Bankier nach den An­schuldigun­gen.

Wirkungs­geschichte

Der Golem ist Gustav Meyrinks erster Roman. 1911 erschien ein Kapitel daraus in der Zeitschrift Pan. Daraufhin äußerte der Verleger Kurt Wolff, der auch die Werke Franz Kafkas herausgab, sein Interesse. Eine Veröffentlichung war für 1914 geplant, verzögerte sich jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mitte November 1915 war es dann so weit, Der Golem erschien rechtzeitig zum Wei­h­nachts­geschäft, begleitet von einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Wer­bekam­pagne. Sie zeigte rasch Wirkung: Bereits vier Wochen später war die erste Auflage ausverkauft. Bis Mai 1916 wurden 100 000 Exemplare gedruckt, Der Golem war in dieser Zeit der er­fol­gre­ich­ste deutsche Roman und auch in den 1920er Jahren noch beliebt. Unter den Na­tion­al­sozial­is­ten war Meyrink verfemt, seine Bücher wurden verbrannt, der Autor geriet in Vergessen­heit und wurde erst nach 1945 wieder­ent­deckt. Heute gilt Der Golem als einer der wichtigsten fan­tastis­chen Romane in deutscher Sprache, der mit seiner Mischung aus Vision und Realität En­twick­lun­gen der modernen Literatur vorwegnimmt.

Über den Autor

Gustav Meyrink (eigentlich Meyer) wird am 19. Januar 1868 in Wien als unehelicher Sohn eines Ministers und einer Schaus­pielerin geboren. Der Vater kümmert sich nicht um seinen Sohn, finanziert ihm jedoch eine Ausbildung. Der junge Mann besucht die Han­del­sakademie in Prag und gründet 1888 seine eigene Bank. Als Bankier kommt er zu Wohlstand und ist bald berüchtigt wegen seines exzen­trischen Lebensstils: Als Dandy und Lebemann treibt er sich in Nachtklubs herum und in­ter­essiert sich zudem für Okkultismus und Geheim­lehren. Er ist Mitglied mehrerer Geheimorden, beschäftigt sich mit Spiritismus und al­chemistis­chen Ex­per­i­menten. Seine provokante Art bringt ihn bald in Schwierigkeiten: Nach einigen Au­seinan­der­set­zun­gen mit Offizieren wird er Anfang 1902 wegen Betrugs angeklagt und kommt in Un­ter­suchung­shaft. Die An­schuldigun­gen erweisen sich als haltlos, doch als er aus dem Gefängnis entlassen wird, ist sein Ruf als Bankier und damit seine Existenz ruiniert. Da er unter dem Pseudonym Meyrink bereits satirische Texte im Sim­pli­cis­simus veröffentlicht hat, entscheidet er sich, als Schrift­steller zu leben. Sein Pseudonym verwendet er weiterhin und nimmt es 1917 schließlich als Fam­i­li­en­na­men an. Meyrink veröffentlicht Erzählungen, doch der Erfolg ist mäßig. Aus Geldnot übersetzt er die Werke von Charles Dickens ins Deutsche. 1911 zieht er nach Starnberg. Der Roman Der Golem bringt ihm 1915 den Durchbruch, doch bereits die folgenden Romane wie Das grüne Gesicht (1916) oder Der weiße Dominikaner (1921) können an diesen Erfolg nicht anknüpfen. Nachdem er als Schrift­steller bekannt geworden ist, möchte ihn die Familie seines Vaters 1919 le­git­imieren, doch Meyrink lehnt ab. 1927 tritt er zum Buddhismus über. Fünf Jahre später nimmt sich sein Sohn nach einer schweren Wirbelsäulen­ver­let­zung das Leben. Gustav Meyrink stirbt einige Monate danach, am 4. Dezember 1932.