Vom pflichtgemäßen Handeln

Buch Vom pflichtgemäßen Handeln

Rom, 44 v. Chr.
Diese Ausgabe: Artemis & Winkler,


Worum es geht

Das Vermächtnis eines Re­pub­likan­ers

Eigentlich kam Cicero wider Willen zur Moral­philoso­phie. Als die römische Machtelite um Cäsars Nachfolge stritt, sagte er dem aus­sicht­sre­ich­sten Kandidaten den Kampf an: Marcus Antonius sei ein kleiner Trinker und ein großer Tyrann. Der Gescholtene reagierte prompt und vertrieb den Kritiker aus der Stadt. Von der Tage­spoli­tik abgeschnit­ten suchte Cicero zähneknirschend sein Heil in der Philosophie. Mit seinem opulenten Mahnbrief Vom pflichtgemäßen Handeln wollte er Mitstreiter für die bedrohte Republik gewinnen. Zu ihrer Rettung empfahl er schlicht: Men­schlichkeit. Die Herrscher sollten von Macht­miss­brauch und Vorteils­denken lassen und stattdessen ein gerechtes und fürsorgliches Miteinander pflegen. Seine Ratschläge packte er in ein buntes Regelwerk, wobei er stark darauf achtete, die Fallgruben des Alltags und die Fehler des Menschen im Blick zu behalten. Doch die Politik ließ sich nicht belehren: Die römische Republik ging unaufhalt­sam ihrem Ende entgegen und die neuen Herrscher ließen den streitbaren Re­pub­likaner kurzerhand umbringen. Ciceros Ethik allerdings hat die Jahrhun­derte überstanden. Manche Norm mag heute befremdlich wirken, doch das konsequente Eintreten des Autors für ein gerechtes, menschenwürdiges Leben beeindruckt noch immer.

Take-aways

  • Vom pflichtgemäßen Handeln ist ein Schlüsselwerk der antiken Moral­philoso­phie.
  • Inhalt: Cicero schreibt einen mahnenden Brief an seinen Sohn Marcus und klärt ihn über dessen Pflichten auf. Cicero erörtert sie nach drei Aspekten: der Moral, der Nützlichkeit und dem Verhältnis zwischen beiden. Pflichtgemäß handelt, wer den vier Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung folgt, der men­schlichen Natur entspricht und dem Gemeinwohl dient.
  • Cicero orientiert seine Ethik an der Leben­spraxis.
  • Seine Leitsätze begründet er an­thro­pol­o­gisch: Die Natur des Menschen veranlasst diesen zum Gemein­schaft­sleben und zum tu­gend­haften Handeln.
  • Das Werk fußt auf der Lehre des Stoikers Panaitios von Rhodos, die Cicero mit römischen Wertvorstel­lun­gen anreicherte.
  • Er schrieb das Buch zurückgezogen auf seinem Landsitz, nachdem er aus der Politik verdrängt worden war.
  • Seine Kritik an Cäsar und dessen Nachfolgern kostete Cicero schließlich das Leben.
  • Ciceros Ethik bee­in­flusste die spätere Moral­philoso­phie: Im Mittelalter wurde sie ins christliche, in der Renaissance ins hu­man­is­tis­che Weltbild übertragen.
  • Voltaire und Friedrich der Große hielten das Werk für das beste Buch über Moral.
  • Zitat: „Denn kein Lebens­bere­ich (...) kann ohne Pflichten auskommen; und auf ihrer Erfüllung beruht jede Moral im Leben und auf ihrer Missachtung die Schande.“
 

Zusammenfassung

Cicero schreibt an seinen Sohn

Kein Lebens­bere­ich kommt ohne Pflichten aus. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, steht am Anfang die Frage nach dem höchsten Gut und nach den Regeln, die es braucht, um ihm gerecht zu werden. Pflichten lassen sich nach drei Aspekten gliedern: der Moral, der Nützlichkeit und dem Verhältnis zwischen beiden. Alle drei Aspekte entspringen ein und derselben Quelle, nämlich den Grundtrieben des Menschen. Dieser strebt erstens nach der Erhaltung seiner Existenz und seiner Art, doch im Unterschied zum Tier geht er darüber hinaus: Ver­nun­ft­be­gabt, wie er ist, trachtet er zweitens nach Erkenntnis, nach einer sicheren Zukunft und nach freier Selb­st­bes­tim­mung. Dabei leitet ihn drittens ein starker sozialer Sinn, denn er lebt gemein­schaftlich. Viertens schließlich ist er zu sinnlicher Wahrnehmung fähig und weiß Schönheit und Ordnung zu schätzen. Diese vier Grundtriebe vollenden sich im Moralischen.

Was weise und was gerecht ist

Moralisch gesehen richtet sich das Handeln des Menschen nach vier Tugenden. Die erste ist die Weisheit. Sie klärt über das gute und glückliche Leben auf. Allerdings beschränkt sie sich nicht auf rein the­o­retis­ches Wissen, sondern wirkt in die Leben­spraxis hinein. Dort versucht sie sich zu bewähren, indem sie sich an die zweite Tugend bindet: die Gerechtigkeit. Deren Aufgabe liegt im Erhalt des sozialen Miteinan­ders. Zu diesem Zweck lässt sie sich von zwei Maximen leiten: Niemandem soll Schaden zugefügt werden, es sei denn, erlittenes Unrecht fordert dazu heraus. Und: Privates Eigentum darf nicht angetastet werden. Wer einem anderen Menschen schadet oder ihm benötigte Hilfe verweigert, handelt ungerecht. Dazu verleiten meist Trägheit, Habsucht oder Eigennutz, die Furcht also, sich Nachteile einzuhan­deln. Diese Maximen gelten nicht absolut, sondern sit­u­a­tion­sspez­i­fisch. Ein Versprechen verpflichtet z. B. nicht in jedem Fall: Wurde es mit Gewalt oder List erzwungen, darf es widerrufen werden. Den Gesetzen und Regeln zu folgen, heißt, auf ihren Geist und ihren Wortlaut zu achten. Spitzfind­ige Auslegungen richten Schaden an. Gilt etwa ein Waf­fen­still­stand für 30 Tage, dürfen die Feinde nicht über Nacht die Felder verwüsten, nur weil im Vertrag von Tagen die Rede ist.

Güte und Hil­fs­bere­itschaft

Hil­fs­bere­ite und großzügige Menschen handeln meistens gerecht. Aber auch richtiges Helfen will gelernt sein: Die Hilfe darf keinem Dritten schaden, soll die eigenen Möglichkeiten nicht übersteigen und muss jedem Bedürftigen zukommen – z. B. auch Sklaven. Der wahre Wohltäter folgt zunächst den allgemeinen Rechten: Zum Beispiel darf niemand von fließendem Wasser aus­geschlossen werden. Wer einen Ratschlag erbittet, soll ihn offen und ehrlich erhalten. Der Wohltätige passt seine Hilfe der jeweiligen Situation an: dem sozialen Bereich, dem Grad der Bedürftigkeit und den eigenen Möglichkeiten. Dem Vaterland und den Eltern gehört vorrangig geholfen, denn ihnen verdanken wir das meiste. Bei Konflikten sind die Bedürfnisse klug abzuwägen: Der Freund steht uns zwar näher als der Nachbar, doch u. U. kann es dringlicher sein, dem Nachbarn bei der Ernte zu helfen als dem Freund oder Bruder.

Tapfere und große Seelen

Die dritte Tugend heißt: innere Größe oder Tapferkeit. Diese Tugend kämpft für die Gerechtigkeit, indem sie das Schicksal erträglich, die inneren Ängste wirkungslos und die äußeren Reichtümer unbedeutend macht. Der Tapfere handelt vernünftig, würdig und selb­st­sicher und eignet sich damit besonders für die Politik. Er vermag den Staat vor Gefahren zu schützen, indem er sie klug einzuschätzen und abzuwenden weiß. Doch Tapferkeit kann selbst zur Gefahr werden, dann nämlich, wenn sie sich von der Gerechtigkeit löst. Gaius Iulius Caesar z. B. besaß innere Größe, doch er miss­brauchte sie, indem er sie nicht fürs Gemeinwohl einsetzte. Auch der Privatmann sollte nach innerer Größe streben. Sie bewahrt ihn vor Profitgier und Ver­schwen­dungssucht und fördert den Mut und die Würde des wahren Men­schen­fre­un­des.

Maßvoll und angemessen handeln

Die vierte Tugend ist die Mäßigung. Das rechte Maß geben die vier Rollen vor, die der Mensch von Natur aus spielt. Die erste ist allgemeiner Natur und betrifft die beiden Seelenkräfte Vernunft und Antrieb­skraft. Der Maßvolle bringt sie ins rechte Verhältnis, nämlich in das von Befehl und Gehorsam: Die Vernunft lenkt, die Antrieb­skraft folgt. Die zweite Rolle variiert von Mensch zu Mensch und betrifft seine Eigen­schaften: die körperliche Kon­sti­tu­tion, die äußere Erscheinung, den Charakter. Die dritte Rolle ergibt sich aus der Berufswahl und ihren sozialen Folgen: Der Redner etwa spielt eine andere Rolle als der Jurist oder Staatsmann. Die vierte Rolle schließlich hat mit innerer Harmonie zu tun. Sie drückt sich im Taktgefühl und im Respekt für die situativen Umstände aus. Maßvoll und angemessen handelt, wer weder die Be­fehls­ge­walt der Vernunft noch die in­di­vidu­ellen Belange missachtet. Nicht jeder ist z. B. dafür geschaffen, fürs Vaterland in den Tod zu gehen. Dem Schwachen mangelt es an Körperkraft, also ist er von dieser Pflicht entbunden.

„Denn kein Lebens­bere­ich (...) kann ohne Pflichten auskommen; und auf ihrer Erfüllung beruht jede Moral im Leben und auf ihrer Missachtung die Schande.“ (S. 11)

Wer den vier Tugenden folgt, handelt pflichtgemäß: Er steht mit der men­schlichen Natur in Einklang und stellt den gemein­schaftlichen Nutzen über den eigenen. Dieser Vorrang erklärt sich aus der Geschichte: Der Mensch konnte sein Überleben nicht alleine sich­er­stellen, also tat er sich mit anderen zusammen. Gemeinsam waren die Menschen stark genug, um für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen. Dies kommt nun allen zugute.

Die Menschen schaden und nützen einander

Die Sorge ums Gemeinwohl genießt Priorität, denn den größten Nutzen haben die Menschen voneinander: Die Gruppe stellt die notwendige Ernährung sicher (durch Ackerbau), schützt das Leben jedes Einzelnen (durch Soldaten) oder leistet in der Politik Überragendes (durch den Entwurf einer Verfassung). Kein Volk wäre versorgt, keine Stadt sicher, keine Republik gegründet, wäre jeder Mensch auf sich allein gestellt. Allerdings gilt auch der Umkehrschluss: Die Menschen können einander Schaden zufügen. Dem ist vorzubeugen, indem wir versuchen die Zuneigung der anderen zu gewinnen. Denn erst die Zuneigung macht die Menschen tugendhaft, wahrhaft nützlich und selb­st­bes­timmt.

Sich zum Guten motivieren

Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Angst und Schrecken wecken Hass, keine Zuneigung. Tyranneien sind beispiel­haft dafür. Wer Recht und Freiheit mit Füßen tritt, braucht für stille oder offene Rebellion nicht zu sorgen, sie kommt von selbst. Zuneigung dagegen basiert auf Sympathie, auf einer mit Achtung und Vertrauen gepaarten Liebe. Mit Sympathie begegnen uns die wahren Freunde. Also sollten wir unbedingt Fre­und­schaften schließen. Auch nach Ruhm und Ehre zu streben, erweist sich als nützlich: Wer beides erlangt hat, weiß sich geachtet oder bewundert. Wer seinen Ruhm allerdings erheuchelt, indem er falsche Tatsachen vorspiegelt, erzielt keinen Nutzen: Sobald der Betrug auffliegt, ist sein Ruf ruiniert. Deshalb sollten wir stets mit Tugend nach Ruhm oder Ehre streben, etwa indem wir uns hilfsbereit zeigen. Zu hil­fs­bere­iten Menschen fühlen wir uns hingezogen, denn wir erkennen die menschliche Natur in ihnen und bewundern die innere Würde. Vertrauen verdienen die Klugen und Gerechten: Ihnen trauen wir zu, drohende Gefahren abzuwenden. Ähnliches gilt für die Kaufleute: Wickeln sie ihre Geschäfte klug und gerecht ab, bleiben ihnen die Kunden treu. Und auch dem Redner nützt seine Eloquenz nur, wenn er sie mit Tugend verbindet: Wer einen Un­schuldigen vor Gericht verklagt, zerstört seinen Ruf.

Der Lohn der Tugend: öffentliche Anerkennung

Wohltaten, etwa wenn wir uns für Bedürftige einsetzen oder sie finanziell unterstützen, sind gemeinhin nützlich. Allerdings werden persönliche Bemühungen höher geschätzt als Geldspenden. Eine ähnliche Rangfolge gilt bei den Großzügigen: Einer übernimmt beispiel­sweise die Schulden eines Freundes, ein anderer richtet öffentliche Zirkusspiele aus. Wirklich nützlich handelt nur der Erste, der Freigebige. Er kann sich der Dankbarkeit sicher sein. Der Zweite hingegen, der Ver­schwen­der, beseitigt mit seinen Zirkusspie­len keine einzige Not. Im Idealfall kommen die Wohltaten allen zusammen und jedem Einzelnen gleichermaßen zugute. Wer etwa Getreide unters Volk bringen will, weil es Hunger leidet, sollte einerseits die Staatskasse schonen, an­der­er­seits dem Volk das Nötige geben. Staatsmänner richten großen Schaden an, wenn sie habsüchtig oder bestechlich werden. Sie gefährden den inneren Frieden der Republik. Mit Recht wurde prophezeit, Sparta werde nicht an den Feinden, sondern an der Bestech­lichkeit zugrunde gehen. Dieser Orakel­spruch sollte allen Völkern eine Warnung sein.

Niemandem schaden

Es gibt nichts Moralisches, das unnütz, und nichts Nützliches, das unmoralisch wäre. Nutzen und Moral sind niemals Gegensätze. Sie wider­sprechen einander nur scheinbar, dann nämlich, wenn etwas nützlich wirkt, ohne es in Wahrheit zu sein. Diese Täuschung lässt sich mithilfe des folgenden Maßstabs erkennen: Einem anderen etwas wegzunehmen oder sich auf Kosten anderer einen Vorteil zu verschaffen, geht stärker gegen die menschliche Natur als Tod, Armut oder Schmerz. Dieser Maßstab gilt für die absoluten wie auch für die mittleren oder angepassten Pflichten. Die absoluten befolgen nur weise Männer, denn sie sind vollkommen. Anständige Männer halten sich an die Pflichten zweiter Klasse, um dem Ideal der Weisen möglichst na­hezukom­men.

„Aber Gerechtigkeit wird erstens dadurch ver­wirk­licht, dass man niemandem Schaden zufügt, außer wenn man durch ein Unrecht her­aus­ge­fordert ist, zweitens, dass man gemeinsames Eigentum als gemeinsames und privates Eigentum als privates gelten lässt.“ (S. 25)

Alle Natur- und Rechtsverhältnisse bestätigen den Maßstab der Men­schlichkeit. Er entspricht auch dem Wesen von Gemein­schaften; sie gleichen einem Organismus, der aus gesunden Einzel­gliedern besteht. Wer sich auf Kosten anderer bereichert, zerstört die organischen Bande und handelt naturwidrig. Die Gesetze ver­schieden­ster Völker bestätigen dies, indem sie die Todesstrafe, Ver­ban­nun­gen und willkürliche Ver­haf­tun­gen erheblich einschränken. Das Gewohn­heit­srecht schätzt entsprechend Fre­und­schaften höher als äußere Reichtümer, die innere Größe höher als die Lüste. Selbst die Naturge­setze weisen in diese Richtung: Sie halten die Menschen zu gegen­seit­iger Hilfe an. Diese universelle Pflicht schweißt sie zu einer natürlichen Einheit zusammen. Einem Menschen zu schaden, wider­spricht also der Natur und ist schlichtweg verboten.

Moral geht vor Eigennutz

Einige Theoretiker trennen das Moralische vom Nützlichen und richten damit großen Schaden an. Sie öffnen Mord, Diebstahl und Profitgier Tür und Tor. Schon der Zweifel wirkt sich verheerend aus: als hätten wir die Wahl, entweder das moralisch Richtige zu tun oder eigennützig ein Verbrechen zu begehen. Wer diese Wahl propagiert, schadet dem Gemeinwesen und gehört ausgegrenzt. Andere glauben, wir zögen einen Vorteil daraus, wenn wir ein Unrecht verbergen. Mit diesem Glauben sitzen sie einem großen Irrtum auf. Nicht ohne Grund erzählt Platon die Geschichte vom Hirten Gyges. Dieser fand einen Ring, der ihn unsichtbar machte, und er nutzte den Zauber, um den König von Lydien zu ermorden und dessen Thron zu besteigen. Weise und anständige Männer hätten keinesfalls so gehandelt, denn sie ve­r­ab­scheuen alle Heim­lichtuerei. Dank ihrer Klugheit haben sie nichts zu verbergen. Unrecht handelt auch ein Hausverkäufer, der die verborgenen Mängel seines Hauses kennt, sie aber dem Käufer verschweigt. Dank dieser Heimtücke erzielt er einen höheren Verkauf­spreis, doch er verstößt gegen die Zusammengehörigkeit der Menschen, indem er den persönlichen Vorteil über alles stellt. Was für unlautere Geschäfte gilt, lässt sich auch auf die Politik übertragen. Caesar wurde König aller Römer und Völker, er zerstörte jedoch Gesetz und Freiheit, indem er Macht und Moral voneinander trennte.

„Das hat gerade die Skru­pel­losigkeit des Gaius Caesar gezeigt, der alle göttlichen und men­schlichen Rechte außer Kraft gesetzt hat, um die Macht­po­si­tion zu erlangen, die er sich selbst in einem Anfall von Wahnsinn vorgestellt hatte.“ (S. 29)

Der Maßstab „niemandem schaden“ soll indes nicht dogmatisch, sondern fall­spez­i­fisch angewendet werden. Einen Freund zu töten, wäre ein schweres Verbrechen. Der Tyran­nen­mord dagegen ist gerecht­fer­tigt, weil er dem Gemeinwohl dient. Auch ein Eid bindet nicht in jedem Fall. Wer etwa Seeräubern ver­sproch­enes Lösegeld verweigert, bricht seinen Eid nicht, denn Seeräuber sind keine Feinde im Sinne des Kriegsrechts; ihnen ist man daher zu keinem Eid verpflichtet.

„(...) alle, die großzügiger sein wollen, als es ihre Mittel erlauben, handeln zunächst darin nicht richtig, dass sie ihre nächsten Angehörigen schädigen. Denn sie überlassen die Mittel, die diesen mit größerem Recht zustehen, fremden Menschen.“ (S. 43)

Auf alle Fälle gilt: Das wahrhaft Nützliche liegt weder im Lustgewinn noch im persönlichen Vorteil, sondern in der Anerkennung, die wir für vernünftiges und tu­gend­haftes Handeln erhalten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Vom pflichtgemäßen Handeln ist in drei Bücher eingeteilt. Jedes behandelt die Pflicht unter einem anderen Aspekt: Das erste fragt nach dem moralischen und ehrenvollen Verhalten, das zweite nach dem Nützlichen und das dritte nach möglichen Konflikten zwischen beiden. Cicero behandelt das Thema nicht – wie etwa Platon – in Dialogen, sondern wählt die Briefform. Adressat ist sein Sohn Marcus, dem er praktische Anweisungen gibt. Entsprechend verknüpft Cicero philosophis­che Ar­gu­men­ta­tion mit rhetorischer Belehrung und achtet immer auf die praktische An­wend­barkeit der pos­tulierten Normen. Seine Gedanken entwickelt er weniger streng logisch oder sys­tem­a­tisch als vielmehr pädagogisch. Um sie zu bekräftigen, zieht er auf­schlussre­iche Fall­beispiele aus der griechis­chen und römischen Kul­turgeschichte heran.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Ciceros Leitbegriff „officium“ geht auf das griechische „kathēkon“ zurück, was wörtlich „das Her­abk­om­mende“ bedeutet, im übertragenen Sinn auch „die Pflicht“. „Officium“ teilt diesen Doppelsinn. Anfangs bezeichnete es das bloße Tun, in der Folge wurde es ins Sittliche umgewertet. Ciceros Verwendung des Begriffs verbindet drei Ebenen miteinander: die Handlung, ihre Wirkung und ihre Bewertung. Seine Analyse rollt das Handeln von hinten auf: von seinem moralischen Wert her.
  • Das Augenmerk des Autors gilt der konkreten Leben­spraxis. Sein Regelwerk passt er deren Unschärfe an und richtet es an wahrschein­lichen Konflikten aus. Die moralischen Normen selbst sollen stets fall­spez­i­fisch und sit­u­a­tion­s­gerecht angewendet werden.
  • Ciceros Ethik fußt auf einer wert­set­zen­den An­thro­polo­gie. Die Natur des Menschen schreibt demnach die angemesse­nen Ver­hal­tensregeln vor. Als soziales Wesen ist der Mensch zu sozialer Ve­r­ant­wor­tung verpflichtet. Sein Selb­ster­hal­tungstrieb nötigt ihm den Dienst am Gemeinwohl auf, da er allein nicht überleben könnte. Und auch sein Streben nach Autonomie mündet in tu­gend­haftes Handeln: Es verschafft ihm öffentliche Anerkennung und damit den Freiraum zur Selb­st­bes­tim­mung.
  • Die Republik begreift Cicero als sozialen Rechtsstaat. Dessen Fortbestand sichern nicht allein die Gesetze, sondern auch die gegen­seit­ige Sorge der Bürger um Wohlwollen und Wohlergehen.
  • Cicero vertritt einen verengten Frei­heits­be­griff. Freiheit steht nicht allen zu, sondern lediglich der römischen Machtelite. Nur deren Mitglieder haben die Potenz und den Stand, ihre Egoismen wech­sel­seitig und für ihren eigenen Vorteil einzuschränken.
  • Ciceros Plädoyer für die Republik lebt vom Hass auf die Tyrannei. Er geht sogar so weit, den un­poli­tis­chen Menschen als wertlos zu diskred­i­tieren, und stellt den politisch Aktiven über alles. An­der­s­denk­enden droht er die Ausgrenzung an. In dieser „Herrenmoral“ liegt der neu­ral­gis­che Punkt seiner Ethik: Im Namen der Men­schlichkeit nimmt Cicero selbst eine gewisse politische Willkür in Kauf.

His­torischer Hintergrund

Das Ende der römischen Republik

450 Jahre nach ihrer Gründung näherte sich die römische Republik mit dem Aufstieg von Julius Cäsar ihrem Ende. Die Krise kam vor allem darin zum Ausdruck, dass nun Feldherren statt Politiker den Ton angaben und damit die re­pub­likanis­chen Organe empfindlich schwächten. Im Jahr 60 v. Chr. schlossen sich Cäsar, Gnaeus Pompeius und Marcus Licinius Crassus zum ersten Triumvirat zusammen. Dabei handelte es sich um ein informelles Bündnis, das den drei Feldherren Einfluss sichern sollte – und zwar auf den römischen Senat. Der Versuch, auch Cicero auf ihre Seite zu ziehen, scheiterte, denn dieser sah die Republik in Gefahr. Nach Crassus’ Tod im Jahr 53 v. Chr. wurden aus den beiden übrigen Verbündeten Rivalen: 49 v. Chr. kam es zum offenen Kampf und Bürgerkrieg. Pompeius wusste die kon­ser­v­a­tiven Kreise des Senats hinter sich, was ihm aber wenig half: Ein Jahr nach Ausbruch des Krieges wurde er von der Armee Cäsars in Griechen­land geschlagen und kam in Ägypten ums Leben. Cäsar kehrte nach mehreren Feldzügen nach Rom zurück und ließ sich zum Diktator auf Lebenszeit ernennen. Seine Gegner befürchteten, er würde sogar nach der Königswürde streben. Darum bildete sich im Senat eine Verschwörung unter der Führung von Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus. Wie Plutarch berichtet, soll Cäsar wenige Tage vor seiner Ermordung von einem Wahrsager gewarnt worden sein: „Hüte dich vor den Iden des März!“ Genau an diesem Datum, dem 15. Tag des römischen Monats Martius im Jahr 44 v. Chr., fielen die Verschwörer in einer Sen­atssitzung über Cäsar her und töteten ihn mit 23 Dolch­stichen. Cicero war Zeuge der Tat und bezeichnete sie im Nachhinein als gerechten Tyran­nen­mord. Er hegte die Hoffnung, dass sich die Republik jetzt festigen würde, was sich aber spätestens mit der Machtübernahme durch Octavian als Irrtum erwies.

Entstehung

Als Cicero im Herbst oder Winter des Jahres 44 v. Chr. mit der Nieder­schrift seines moral­philosophis­chen Werks begann, studierte sein Sohn Marcus bei dem Philosophen Kratippos in Athen. Cicero hielt den Lebenswan­del des Teenagers und die Philosophie von dessen Lehrer offenbar für stark verbesserungswürdig. Das Werk Vom pflichtgemäßen Handeln entstand aber auch unter dem Eindruck der Machtkämpfe, die auf Cäsars Ermordung folgten. Cicero hatte gegen Antonius polemisiert und musste daraufhin auf sein Landgut fliehen. Die Flucht veranlasste ihn, auch eine Abrechnung mit den Feinden der Republik zu schreiben.

Überdies wollte Cicero den Stoiker Panaitios von Rhodos in Rom bekannt machen. Dessen Werk Über die Pflichten war seine wichtigste Quelle. Cicero übersetzte Panaitios Schrift aber nicht einfach ins Lateinische, sondern reicherte sie mit römischen Wertvorstel­lun­gen an. Für das dritte Buch griff er zu den Werken von Poseidonios, einem Schüler des Panaitios. Bei ihm fand er, was Panaitios zwar angekündigt, aber offenbar nicht ausgeführt hatte: ein Buch über die Konfliktfälle von Moral und Nutzen. Die vier Kar­dinal­tugen­den indessen gehen auf Platon zurück. Den Terminus der Pflicht soll der Altstoiker Zenon in die philosophis­che Debatte eingeführt haben.

Wirkungs­geschichte

Die Abhandlung erschien wohl bereits im Jahr 44. v. Chr. und stieß auf großes Interesse. Dies nicht nur zum Guten für den Autor: Seine Polemik gegen Cäsar und die Tyrannei veranlasste Antonius, Ciceros Ermordung zu betreiben; im Folgejahr wurde er tatsächlich getötet. Allerdings ist unklar, ob die Schrift überhaupt mit Ein­willi­gung des Autors erschien. Das dritte Buch lässt Mängel in der Darstellung erkennen, die darauf hinweisen könnten, dass das Werk unvollendet ist.

Auch nach Ciceros Tod wurde die Schrift rege rezipiert. Ovid ließ einige Gedanken daraus in sein lit­er­arisches Werk einfließen. Der Naturgeschichtler Plinius der Ältere legte sogar nahe, das Buch auswendig zu lernen und es als Ratgeber für alle Fälle präsent zu haben. Ambrosius, spätantiker Bischof von Mailand, passte es dem christlichen Weltbild an und begründete damit die starke Wirkung des Werks auf die mit­te­lal­ter­liche Moral­philoso­phie. Thomas von Aquin zog Cicero als Autorität heran, um seine Vorstel­lun­gen von Tapferkeit abzusichern. Augustinus griff die vier Kar­dinal­tugen­den auf und setzte sie in Verbindung zur Gnade Gottes: Von ihr rühre alle Vol­lkom­men­heit her. Die Renaissance schätzte die Schrift als Leitfaden hu­man­is­tis­cher Gesinnung. Voltaire und Friedrich der Große erklärten sie sogar zum besten Werk ethischer Philosophie, und der König befahl die Übersetzung ins Deutsche.

In der Moderne brachte der Historiker Theodor Mommsen Cicero in Verruf, indem er ihn einen „Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht“ nannte. Das brutale Verdikt konnte die Rezeption von Ciceros Werken allerdings nicht bremsen. Von allen seinen Büchern wurde Vom pflichtgemäßen Handeln am häufigsten übersetzt und kommentiert und als erstes gedruckt.

Über den Autor

Marcus Tullius Cicero wird am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum geboren. Sein Vater gehört zur zweithöchsten römischen Gesellschaftss­chicht. Verbindun­gen zu Angehörigen der Sen­at­saris­tokratie ermöglichen Cicero eine gute Ausbildung. Er studiert Recht, Rhetorik, Literatur und Philosophie in Rom, Griechen­land und Kleinasien. Im Jahr 77 v. Chr. kehrt er nach Rom zurück und beginnt seine Laufbahn als Recht­san­walt und Politiker. Es folgt eine Blitzkar­riere. Bereits im Jahr 63 v. Chr. bekleidet Cicero das Amt des Konsuls. Sein Wahlkampfgeg­ner Catilina lanciert eine Verschwörung, die allerdings im Ansatz erstickt wird. Doch Ciceros zahlreiche Gegner erwirken 58 v. Chr. seine Verbannung aus Rom: Er sei schuld an der Beseitigung der Catili­nar­ier, die ohne Verhandlung getötet wurden. 57 v. Chr. darf er zurückkehren. In den folgenden fünf Jahren entstehen seine wichtigsten politischen und philosophis­chen Schriften, darunter De oratore (Über den Redner, 55 v. Chr.) und De re publica (Vom Staat, 51 v. Chr.). Cicero setzt zunächst Hoffnungen auf den in­tel­li­gen­ten Cäsar, wendet sich aber von ihm ab, nachdem dieser mit Pompeius und Crassus ein Triumvirat eingeht. Im Bürgerkrieg schließt Cicero sich Pompeius an. An der Verschwörung gegen Cäsar ist er nicht beteiligt, doch äußert er seine Freude über dessen Tod 44 v. Chr. Als Cäsars Mitkonsul Marcus Antonius die Nachfolge des Allein­herrsch­ers anstrebt, tritt Cicero ihm mit seinen 14 Philip­pis­chen Reden entgegen und gewinnt im Senat wieder hohes Ansehen. Er bemüht sich erfolgreich, Octavian zum Krieg gegen Antonius zu bewegen. Octavian siegt zunächst, schließt sich danach aber mit dem wieder erstarkten Antonius und Marcus Lepidus zum zweiten Triumvirat zusammen. Die Triumvirn verfolgen ihre politischen Gegner, und Cicero steht ganz oben auf Antonius’ schwarzer Liste. Am 7. Dezember 43 v. Chr. wird er auf der Flucht ermordet, sein zerstückelter Leichnam wird auf der Redebühne des Forums zur Schau gestellt.