Abkehr von alten Werten
Seit den 1980er Jahren hat sich das Geschäftsfeld der Schweizer Bankiers gewandelt. Die mit der Marke Swiss Banking verknüpften Tugenden, wie Diskretion und Sicherheit, traten in den Hintergrund, die neuen Maximen hießen Wachstum und Gewinn. Schließlich muss eine Branche mit heute 200 000 Beschäftigten, die rund 12 % des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, mit den internationalen Spielern mithalten können. Die Schweiz wurde den Schweizer Großbanken zu klein, sie richteten sich international aus. Aus der Kernkompetenz, dem relativ risikoarmen Anlage- und Kreditgeschäft, wurde in den 80er Jahren das Private Banking, das schließlich vom sexy Investmentbanking abgelöst wurde. Wachstum sollten die Banken nun nicht mehr aus den guten Beziehungen zu vermögenden Privatkunden generieren, sondern aus Kapitalmarkttransaktionen, Fusionen und Börsenhandel.
„Das Bankgeschäft nach Schweizer Art musste nicht erst erfunden werden. Es gründete auf dem Ethos einer jahrhundertealten Tradition.“
Zu Beginn des Jahres 2008 stammten von 4700 Milliarden Franken Kundengeldern auf Schweizer Konten mehr als 50 % aus dem Ausland. Doch rasches Wachstum und die Abkehr von traditionellen Werten haben ihre Schattenseiten: Vor dem Hintergrund der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise konnte die Großbank UBS nicht umhin, 45 Milliarden Franken abschreiben zu müssen. Zudem muss sich die Schweiz finanzpolitisch mit der Europäischen Union herumschlagen: Immer wieder wird dort der Vorwurf erhoben, das Schweizer Bankgeheimnis leiste dem Steuerbetrug und der Finanzkriminalität Vorschub. Auch die USA haben den Druck auf die Schweiz erhöht, indem sie eine Untersuchung gegen die UBS einleiteten. Der Vorwurf: Die Bank soll Kunden beim Steuerbetrug geholfen haben. Die Schweizer fürchten um das Bankgeheimnis und um ihr Geld – endlich, dürfte man in der EU und in den USA denken. In Wahrheit leidet die Schweizer Finanzbranche aber nicht an einer zu laschen Regulierung, sondern an einem Imageproblem: Swiss Banking muss wieder eine Marke werden, die für Vertrauen steht.
Aus einfachen Ursprüngen zu unvermuteter Größe
Ende des 14. Jahrhunderts erlaubte der Bischof von Genf den Geldverleih gegen Zins. Das war europaweit einzigartig – und der Grundstein für das Schweizer Bankgewerbe. Zwar wurde das Geldgewerbe durch die Burgunderkriege und die Reformation beinahe vernichtet, doch der Reformator Jean Calvin verlieh ihm neuen Auftrieb. Calvin sah nichts Schlechtes im Profit – sofern er Arbeit und Fleiß entspringe. Im 18. Jahrhundert war dann zum ersten Mal vom Bankgeheimnis die Rede. Die aus Frankreich kommenden Hugenotten verwalteten in Genf die Gelder ihrer Glaubensgenossen. Dabei war höchste Diskretion gefragt – schließlich machte der französische König auf der Suche nach neuen Geldquellen Jagd auf die Vermögen der Hugenotten und ließ deren Besitzer kurzerhand töten.
„Beim Übergang in die 90er Jahre kam es zum entscheidenden Schritt: Das Schweizer Bankenkartell löste sich auf.“
Rechtlich festgeschrieben wurde das Schweizer Bankgeheimnis erst im Bankengesetz von 1935. Die Schutzvorkehrung geriet immer wieder unter Druck von außen – sei es am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Schweiz beschuldigt wurde, Nazigelder zu verstecken, oder in den 50er Jahren, als die Schweizer Banken von den USA den Vorwurf zu hören bekamen, sie würden kriminelle Geschäfte decken.
„Das Bankgeheimnis ist keineswegs eine rein schweizerische Erfindung. Bereits die Anfang des 18. Jahrhunderts aus Frankreich zugewanderten Hugenottenfamilien betreuten von Genf aus die Finanzen ihrer in der Heimat verbliebenen Glaubensgenossen mit größter Diskretion.“
Die klassischen Privatbanken der Schweiz waren als Partnerschaften organisiert, wobei die Partner unbeschränkt mit ihrem Privatvermögen hafteten. Diese private Haftung war einer der Gründe, warum sich die Schweizer Bankiers der Nachhaltigkeit und Kompetenz verschrieben. In der Nachkriegszeit wurden im Schweizer Bankensektor die ersten bedeutenden Firmenübernahmen verzeichnet. So akquirierte die 1862 gegründete Schweizerische Bankgesellschaft (SBG) zwischen 1945 und 1960 nicht weniger als 20 andere Banken und stieg damit zum mächtigsten Schweizer Institut auf. Die 50er Jahre waren goldene Zeiten: Auf der Bundesrepublik Deutschland lasteten die Vor- und Nachkriegsschulden; das gebeutelte Land musste sich Geld durch Anleihen beschaffen. Die Schweiz profitierte vom Geschäft mit den Auslandsanleihen, dem Goldhandel und der Vermögensverwaltung. Die Arbeiterrevolte in Berlin 1953 und der nationale Aufstand in Ungarn 1956 veranlassten zudem viele Westeuropäer, ihr Vermögen ins sichere Alpenland zu transferieren.
Vom Erfolg zur Entweihung
In den 60er Jahren wuchs der Finanzsektor rasant weiter. Die Großbanken warfen ein Auge auf die Kleinkunden und prosperierten zudem als enge Vertraute der Industriemagnaten. Die Bankiers vergaben nicht nur Kredite an große Unternehmen, sondern übernahmen immer öfter auch Funktionen in deren Aufsichtsräten. Anfang der 80er Jahre erreichten die Großbanken in der Schweiz einen Marktanteil von rund 50 %. Doch dieser Markt wurde bald zu klein, sodass die Institute Stützpunkte in London, New York, Südamerika und Ostasien eröffneten. Man folgte der betuchten Privatklientel, für die es als schick galt, die exzellenten Schweizer Finanzdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, und die in den 70er Jahren angesichts der Inflation im starken Schweizer Franken einen sicheren Hafen fanden.
„Aus den Fugen geriet die Finanzindustrie schließlich, als die Produktschöpfungen so komplex geworden waren, dass weder Banken noch Behörden die Risiken mehr berechnen konnten.“
Die eitle Wonne wurde erst im Frühjahr 1977 getrübt: von den dunklen Wolken des Chiasso-Skandals. Der im Grenzort Chiasso ansässige Filialleiter der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) gewährte Kunden Garantien im Ausmaß von Milliarden, ohne sie in der Bankbilanz zu verbuchen. Zum ersten Mal wurde am Image des Schweizer Finanzplatzes gekratzt.
Wie der Wettbewerb die Schweiz erreichte
Ab den 1980er Jahren veränderte sich die Schweizer Bankenszene stark. Bis dahin hatten sich die Schweizer Institute durch Preisabsprachen vom Wettbewerb abkoppeln können. Doch mit dem zunehmenden Einfluss der angelsächsischen Welt war das Bankenkartell nicht länger tragbar. In der Rezession der 80er Jahre mussten die Banken den Industrieunternehmen zudem mit kostspieligen Sanierungen unter die Arme greifen; sogar die Schweizer Uhrenbrache retteten sie vor dem Niedergang. In den 90er Jahren ging das Geschäft mit den großen Unternehmen zurück. Diese begannen, sich Geld zu beschaffen, indem sie an die Börse gingen, anstatt es sich bei den Banken zu leihen. Kapitalmarkttransaktionen und der Handel mit Wertpapieren, die unter dem Begriff Investmentbanking zusammengefasst werden, wurden neben dem Private Banking (der Vermögensverwaltung) ein wichtiges Standbein der Schweizer Banken. Die Börseneuphorie und das Kopieren angelsächsischer Geschäftsmodelle brachten eine Vielzahl von neuen Anlageinstrumenten mit sich, die nicht nur hohe Gewinne versprachen, sondern auch furchtbar kompliziert waren. Die Strategie des schnellen Geldes und überbordenden Wachstums führte dazu, dass sich die SKA 1978 die New Yorker Bank First Boston, die SBG 1987 die Londoner Phillips & Drew und der Schweizerische Bankverein (SBV) 1992 das Chicagoer Institut O’Connors sowie 1995 die Londoner S. G. Warburg einverleibten. Alles, was zählte, waren Größe und Expertenwissen im vielversprechenden Investmentbanking.
Die Schweiz wird amerikanisch
1998 wurde eine neue Ära in der Schweizer Bankbranche eingeleitet: Der SBV und die SBG fusionierten zum weltweit viertgrößten Finanzinstitut, der UBS. Im Jahr 2000 übernahm die UBS den Broker Paine Webber aus New York mit 8000 Mitarbeitern, die Credit Suisse die New Yorker Investmentbank Donaldson, Lufkin & Jenrette mit 11 500 Beschäftigten – für jeweils zweistellige Milliardenbeträge. Erklärtes Ziel war es, mit Branchengrößen wie Goldman Sachs oder Morgan Stanley mitzuhalten. Während die Großen immer größer wurden, ging die Zahl der kleineren Banken zwischen 1990 und 2000 von 495 auf 375 zurück.
„Wenn die Banken bewährte Tugenden wie Vertrauen, Diskretion und Sicherheit vernachlässigen, verliert das Swiss Banking seinen Qualitätsanspruch.“
Die Amerikanisierung der Schweizer Banken kam in kleinen Schritten. Erst verwandelten sich Generaldirektoren in „CEOs“, dann wurden Prospekte z. T. nur in englischer Sprache verfasst. Bei den Kunden hinterließ das einen schalen Nachgeschmack. Loyalität war bei den Mitarbeitern bald weniger gefragt als Ehrgeiz und Verkaufstalent. Von der Schweizer Bescheidenheit wollte man nichts mehr wissen. Die Banken begannen, ihren Mitarbeitern neben ihrem Fixgehalt auch eine leistungsabhängige Lohnkomponente in Form von Aktien oder Optionen zu zahlen. Diese Praxis trug dazu bei, dass die Bankiers – mittlerweile Banker genannt – höhere Risiken eingingen und die Langfristigkeit ihrer Entscheidungen aus den Augen verloren. Als 2001 die Technologieblase an den Börsen platzte und die Aktienkurse nach unten rasselten, blieb nur eines hoch: das Gehalt der Manager. So verdiente etwa der UBS-Präsident Marcel Ospel im Jahr 2001 stolze 12,5 Millionen Franken.
Tektonische Verschiebungen
Um sich dem Druck der EU hinsichtlich des Bankgeheimnisses zu entziehen, willigte die Schweiz in ein Zinsbesteuerungsabkommen ein. Seit Mitte 2005 werden von den Zinserträgen auf Schweizer Konten, die EU-Bürgern gehören, 15 % abgezogen und automatisch an die EU-Mitgliedstaaten überwiesen. Und obwohl im Jahr 2007 bereits 490 Millionen Franken daraus bezahlt wurden, begann die europäische Politik bald schon wieder über die „Steueroase Schweiz“ zu klagen. Noch schwerere Geschütze fuhren die USA auf: Sie leiteten gegen die UBS Untersuchungen wegen Beihilfe zum Steuerbetrug ein. Dies, obwohl die Schweiz über die härtesten und konsequentesten Gesetze zur Vermeidung von Finanzkriminalität verfügt. Anonyme Konten sind nicht viel mehr als eine weit verbreitete Mär.
„Die Schweizer Finanzbranche wird auf das Bankgeheimnis reduziert, weil sie es versäumt hat, ihre Vorzüge herauszustreichen.“
Vom Frühjahr 2003 bis 2007 genossen die Schweizer Banken das Börsenhoch. Die UBS etwa steigerte in dieser Zeit ihren Börsenwert um mehr als 100 %. Nachdem man nach der Fusion im Sommer 1998 festgestellt hatte, dass die vormalige Bankgesellschaft mit dem Derivatehandel einen Verlust in Höhe von 100 Millionen Franken eingefahren hatte, war man vorsichtig geworden. Das stabile Vermögensverwaltungsgeschäft rückte wieder in den Fokus des Managements. Alles schien richtig – bis sich die UBS entschloss, den Hedgefonds Dillon Read Capital Management (DRCM) zu gründen. Mit komplexen Finanzprodukten und einem „A-Team“ in New York sollte der Gewinn gesteigert werden. Dem „B-Team“, das zu Hause bleiben musste, gefiel dies offenbar gar nicht: Es begann, mit amerikanischen Hypotheken zu spekulieren. Noch zu Beginn des Jahres 2007 kauften die Banker hochriskante Hypothekenprodukte, die sonst niemand mehr haben wollte. Als schließlich im Sommer der Immobilienmarkt kollabierte und DRCM längst geschlossen war, musste die UBS fast 45 Milliarden Franken abschreiben.
Swiss Banking am Wendepunkt
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Schweizer Banken von ihrer Kernkompetenz, der Vermögensverwaltung, abgewendet. Die Marke Swiss Banking wurde verwässert. Die UBS und die Credit Suisse haben sich in austauschbare internationale Konzerne verwandelt, die wie alle anderen Finanzprodukte verkauften, die sie selber nicht mehr verstanden und deren Risiko sie nicht einschätzen konnten. Dies schadete nicht nur dem Ansehen der Institute, sondern auch den Anlegern: Hat ein Investor sein Geld 1998 in die frisch gegründete UBS investiert, so hat er bis heute rund 60 % davon verloren. Wie kann das Swiss Banking wieder aus der Krise finden? Zum einen müssen sich die Banken von der Strategie der kurzfristigen Gewinnmaximierung lösen. Sie müssen auf frühere Tugenden wie Stabilität und Diskretion setzen. Zudem braucht die Branche Führungspersönlichkeiten, die wieder als Vorbilder agieren – und schließlich eine gute PR-Strategie, damit sie nicht nur auf das Bankgeheimnis reduziert wird.