Sein statt Schein
Ellenbogenchecks, verbissener Karrierekampf und Zurschaustellung des eigenen Besitzes sind out. Eine neue, zurückhaltende Art der Repräsentation setzt sich durch: Understatement. Was man im englischsprachigen Raum darunter versteht, lässt sich nicht einfach mit „Bescheidenheit“ übersetzen. Understatement bedeutet, mit Zurückhaltung, Demut, Vernunft und im Wissen um seine Wurzeln aufzutreten. Es zeigt sich in der Wertschätzung von Menschen und Dingen. Wer „understated“ handelt, hat es nicht nötig zu protzen, denn er weiß, was er selbst wert ist. Echtes Understatement setzt voraus, dass Sie sich mit Ihren Werten und Überzeugungen, aber auch mit Ihren Wünschen und Ängsten ehrlich auseinandergesetzt haben. Dann erst sind Sie frei davon, Pseudozielen und vermeintlichen gesellschaftlichen Ansprüchen hinterherzurennen. Sie sind sich Ihrer Identität bewusst und können jene Ziele ins Auge fassen, die Ihnen tatsächlich wichtig sind – unabhängig von den Ansprüchen anderer. Das ist die beste Voraussetzung für authentisches Sprechen und Handeln.
Geschenke des Lebens
Susanne Klatten, geborene Quandt, ist ein Paradebeispiel für gelebtes Understatement. Als Tochter und Erbin des BMW-Mehrheitsaktionärs entschied sie sich, den ganz „normalen“ Weg einer Ausbildung zu gehen und begann ihn mit einem Praktikum im familieneigenen Unternehmen. Allerdings wusste damals keiner von ihrem familiären Hintergrund. Sie lehnte jede bevorzugte Behandlung aufgrund ihrer Herkunft ab. Nach Ausbildung, BWL-Studium, MBA und Berufserfahrung ist sie heute eine der größten deutschen Unternehmerinnen – und sieht noch immer davon ab, dies mit Statussymbolen zu unterstreichen.
„Understatement ist Stil. Der Stil des Erfolges.“
Auch die Unternehmerin Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung bei Trumpf, dem schwäbischen Werkzeugmaschinenhersteller, ist frei von jeglichen Jetset-Ambitionen. Sie führt das Familienunternehmen mit Bescheidenheit, Zurückhaltung und Integrität. Eigenschaften, die auf ihre familiäre Erziehung zurückgehen – geprägt von christlichen Werten, Freiheit, Disziplin und Verantwortung.
„Understatement bedeutet Sein statt Schein und damit Freiheit.“
Beide Frauen sind Beispiele dafür, dass es möglich ist, ein großes Erbe ohne Dünkel anzutreten und es verantwortungsbewusst sowie äußerst erfolgreich für die Zukunft zu bewahren – ohne Allüren, ohne Protz und Prunk. Beide haben ihr Lebensgeschenk verantwortungsvoll angenommen, ohne sich etwas darauf einzubilden. Sie setzen es sinnvoll ein und lassen andere daran teilhaben. So brüskieren sie niemanden mit ihrem Reichtum.
Gold glänzt, aber strahlen kann man auch ohne
Eine tief beeindruckende Persönlichkeit ist Marie-Luise Fürstin zu Castell-Castell, das Oberhaupt der bekannten Adelsfamilie. Worin liegt ihre Faszination? Sie begegnet einem unprätentiös, ohne Schmuck, aber sehr geschmackvoll gekleidet, pragmatisch und authentisch. Der Wohnsitz der fürstlichen Familie strahlt Beständigkeit und Qualität aus, gepaart mit einem Sinn für das Nützliche. Verschwendung, Überflüssiges oder falschen Glanz sucht man vergeblich. Wer von innen strahlt, braucht kein Goldgehänge, um zu glänzen.
„Menschen, die auf Understatement setzen, besitzen und benutzen nicht irgendwelche Dinge, bloß um anderen damit zu imponieren.“
Aufgesetzter Glanz erlischt im Vergleich zu echter Qualität. Wer seinen Blick dafür schärft, erkennt gute, d. h. hochwertige Produkte und Marken mit der Zeit sofort. Der Versandhandel Manufactum bietet Gebrauchsobjekte an, die aus hochwertigen und langlebigen Materialien gefertigt sind, jahrzehntelang erfolgreich verwendet wurden und ihren Preis wert sind. Die Ledermarke Bree stellt erstklassige, dauerhaft haltbare Taschen und Lederaccessoires her, die frei von jedem Trend oder Chichi sind. Über ihren Besitzer sagen solche Objekte aus, dass er Wert auf Qualität und Nutzen legt, zwar durchaus Sinn für Design hat, aber bester Verarbeitung und langlebigen Materialien den Vorzug vor hippen Designs und kurzatmigen Trends gibt. Auch Apple – obwohl selbst zur Trendmarke geworden – vereint brillantes Design weiterhin mit sinnvollen Funktionen, die sich von der Konkurrenz durch ihre Einfachheit abheben.
Image-Ethik versus Werte-Ethik
Wer nur auf sein Image achtet und sich permanent darum sorgt, was andere über ihn denken, hat ein Problem mit seiner Identität. Um das Mangelgefühl des fehlenden Selbstvertrauens zu kompensieren, verfolgt er eine Image-Ethik. Welch seltsame Blüten diese treiben kann, zeigt die Anekdote einer Familie aus dem Schwäbischen: Sie hatte ein zusätzliches Set Bettdecken angeschafft, einzig in der Absicht, sie samstags früh demonstrativ und für alle sichtbar auf den Balkon zum Lüften zu hängen. Allein: Die Familie schlief noch, nur eines der Kinder wurde jeden Samstag reihum mit dem Raushängen der Bettdecken beauftragt, um den Nachbarn zu zeigen, dass man bereits am Arbeiten sei. Im Gegensatz zu einer solchen Image-Ethik stellt eine Werte-Ethik Werte und Überzeugungen in den Mittelpunkt des Handelns und der Selbstdefinition. Doch wie wird man sich über seine eigenen Werte klar? Fragen Sie sich, was in Ihrer Familie, bei Ihrer Erziehung wichtig war. Bei Produkten und Dienstleistungen hilft die Frage nach dem Nutzen und der Freude, die sie Ihnen verschaffen.
Heutige Statussymbole
Wie lange können Sie es sich leisten, auf eine E-Mail nicht zu antworten? Je größer der Zeitraum, bevor Sie Ärger bekommen, desto höher stehen Sie wohl in der Hierarchie. Wer in unserer Zeit der permanenten Erreichbarkeit einfach nicht verfügbar ist, bedient sich eines immateriellen Statussymbols. Als jemand, der Understatement pflegt, haben Sie dies aber gar nicht nötig. Wenn es sich um wichtige E-Mails handelt, bricht Ihnen kein Zacken aus der Krone, wenn Sie diese selbst und schnellstmöglich beantworten.
„Wer es nötig hat, mit Gold zu glänzen, dem fehlt für mich einfach das innere Strahlen.“
Gleiches gilt fürs Delegieren, das viele missbrauchen, um ihren Status zu demonstrieren. Wenn Sie Ihre Zugverbindungen im Internet selbst recherchieren, dann aber von einem Praktikanten buchen lassen, sagt das mehr über Sie aus, als Ihnen lieb ist – und es ist sicherlich nichts Positives dabei. Jemand, der Understatement lebt, tut so etwas auch mal selbst, statt seine Position zu demonstrieren. Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff z. B. ruft einen persönlich an, obwohl er sich jederzeit von seiner Sekretärin durchstellen lassen könnte. Er ist sich nicht zu schade, zehn Tasten zu tippen, und kommt dank solchen Kleinigkeiten als besonders menschlicher Politiker rüber – als einer, der es nicht nötig hat, seine Macht und seinen Status zur Schau zu stellen.
Wissen kann jeder
Früher war Bildung Herrschaftswissen und ein gesellschaftliches Unterscheidungsmerkmal. Heute ist sie uns allen zugänglich. Worauf es nun ankommt, ist die intelligente Verknüpfung vorhandener Informationen. Mit zur Schau gestelltem Wissen lässt sich keiner mehr beeindrucken oder „in Schach halten“. Menschen, die ihre Assoziationen einfach so hinausposaunen, ohne intelligente Verbindungen oder Interpretationen, wollen sich lediglich brüsten: „Ich weiß etwas, was du nicht weißt.“ Wissen aber ist nicht nur kein Machtfaktor mehr und für alle verfügbar, sondern es lässt sich durch Teilen sogar vermehren. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia, an der jeder unentgeltlich mitarbeiten kann, zeugt von dieser Entwicklung. Weisheit und Intelligenz werden in Zukunft wichtiger als pures Faktenwissen. Der Benediktinerpater Anselm Grün ist ein Beispiel für jemand, der sein immenses Wissen mit Verstand und Herz einsetzt, um Menschen zu helfen und ihnen zu nutzen – statt sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken.
Die Sprache des Understatements
Wer auf Understatement setzt, kann auf Fachchinesisch, Fremdwörtereinsatz und Businessslang getrost verzichten. Nicht damit macht er sich bei seiner Zielgruppe wichtig, sondern indem er von ihr verstanden wird – dank einer klaren, angemessenen Sprache. Er ist sich außerdem der Macht bewusst, die Worte haben können und setzt sie besonnen ein; er zerschlägt kein Porzellan und stellt andere nicht bloß.
„Charisma statt Status – auch das ist eine Formel des Understatements.“
Unternehmen wären gut beraten, wenn sie in Sachen Sprachverwendung ein wenig Understatement walten ließen. Das bedeutet: nur Pressemitteilungen versenden, die inhaltlich auch etwas aussagen. Oder: mit den Mitarbeitern ebenso offen und ehrlich kommunizieren wie nach außen, in der Öffentlichkeit. Ein Unternehmen wie Wal-Mart, das knapp und ehrlich sein Scheitern auf dem deutschen Markt zugeben konnte, verdient Respekt. Man hatte es nicht nötig, sich hinter Pseudogründen und Worthülsen zu verstecken, sondern stand im Sommer 2006 zu seinem Scheitern, als 85 Filialen geschlossen und an den Wettbewerber Metro verkauft werden mussten.
Andere nicht dumm aussehen lassen
Es ist kein Zeugnis von Stil und Klasse, wenn man andere dumm aussehen lässt. Egal, ob man jemanden wegen eines falsch ausgesprochenen Namens scharf zurechtweist oder unnötig lange im Vorzimmer warten lässt – wer solche Erniedrigungen an den Tag legt, erweckt den Eindruck, sich selbst erhöhen zu müssen. Wer hingegen anderen zum Erfolg verhilft oder sie vor peinlichen Situationen bewahrt, der hat Anstand und Menschlichkeit begriffen.
„Wer nur ein Mandat für sich selbst wahrnimmt, der hat kein echtes.“
Unvergessen ist eine Episode der Tour de France 2003: Jan Ullrich, der auf Titelkurs war, hätte ein Missgeschick seines Kontrahenten Lance Armstrong (dieser verfing sich in einer Plastiktüte und stürzte) kalt ausnützen können. Er tat es nicht, hatte die Größe, auf Armstrong zu warten – und vergab damit den sicheren Sieg. Im selben Jahr wurde Ullrich mit der Fair-Play-Plakette der Deutschen Olympischen Gesellschaft ausgezeichnet und zum „Sportler des Jahres“ gewählt.
Qualität und Understatement
Ein Vorzeigeunternehmer alter Qualität und Klasse ist Claus Hipp, der durch Hipp-Babynahrung und seine Werbespots, in denen er selbst als Unternehmer und Qualitätsgarant auftritt, bekannt ist. Claus Hipp ist promovierter Jurist und führt seit 1967 das Unternehmen, das bereits 1997 komplett auf erneuerbare Energien umstellte. Hipp wirkt echt und ungekünstelt. Er benutzt das Fahrrad, wann immer es geht, und fährt ein Auto mit Pflanzenöl. Dass er überdies auf internationalem Niveau reitet, als renommierter Musiker Oboe spielt und unter seinem Künstlernamen Nikolaus Hipp weltweit seine Bilder verkauft, macht ihn noch kompletter und bewundernswerter. Er hat es nicht nötig, seine vielfältigen Talente und Fähigkeiten bei jeder Gelegenheit zu betonen. Er konzentriert sich auf die nachhaltige Entwicklung und Führung seines Unternehmens und macht kein Aufsehen um diese große Aufgabe. Er hat sie angenommen und füllt sie aus. Er geht behutsam mit den verfügbaren Ressourcen um und ist bestrebt, in allem das richtige Maß zu finden. Auch das ist Understatement. Er hat verstanden, dass es nicht primär um ihn als Person geht, sondern darum, wie er mit seinem „Mandat“ umgeht und was er für die Menschen in seinem Umfeld tun kann.
„Wo sind die Claus Hipps von morgen? Wer wird sich nicht scheuen, ein Vorbild zu sein? Wer wird bei Wind und Wetter auf der Brücke stehen und das Schiff auf Kurs halten? Wer wird das sein?“
Mit „Mandat“ ist eine Lebensaufgabe gemeint, die man erhält, ohne dass man sie sucht. Ob Ehrenamt, Erbe, Lebensprüfung – immer geht es um eine Herausforderung und darum, wie man sie bewältigt. Wer sich seiner Aufgabe stellt, wird dabei seine Identität finden – und jenen Erfolg, der es ihm ermöglicht, seiner Umwelt mit Understatement zu begegnen.