Die Reflexivitätstheorie
Die Finanzkrise von 2008 stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Schuld an der Krise sind fundamentale Fehlannahmen über das Marktgeschehen. Anders als es das vorherrschende Paradigma besagt, tendieren Märkte im Allgemeinen und Finanzmärkte im Speziellen nämlich keineswegs zu einem Gleichgewicht.
„Die Sicht der Marktteilnehmer und -regulatoren entspricht nie dem tatsächlichen Stand der Dinge, d. h. Märkte erreichen nie das Gleichgewicht, das die ökonomische Theorie postuliert.“
Das Paradigma des sich selbst regulierenden Marktes wird von der impliziten Annahme getragen, dass die Marktteilnehmer über vollständiges Wissen verfügen. Diese Annahme ist falsch, denn sobald ein Mensch an der Situation, die er verstehen will, selbst beteiligt ist, ist sein Wissen nicht mehr neutral. Warum ist das so? Indem der Mensch den Markt verstehen will, übt er eine kognitive Funktion aus: Er nimmt ihn wahr und zieht daraus Wissen. Aber nicht nur. Die Akteure an den Finanzmärkten, die Profis ebenso wie die Privatanleger, wollen auf dem Markt agieren, indem sie beispielsweise Wertpapiere kaufen oder verkaufen. Damit nehmen sie teil und beeinflussen den Markt – eine manipulative Funktion. Wenn beide Funktionen zusammenkommen, entsteht eine reflexive Situation. Um objektives Wissen gewinnen zu können, müssen die beobachteten Phänomene unabhängig betrachtet werden. Nur dann kann man von Fakten sprechen. Im Zusammenwirken der kognitiven und der manipulativen Funktion ist das nicht mehr der Fall: Zu den Fakten gesellen sich die Erwartungen und die Absichten der Marktteilnehmer. Solche Eventualitäten haben nichts mit Wissen zu tun.
Die Kehrseite des Wissens ist der Irrtum
Mathematisch lässt sich der Sachverhalt so ausdrücken: Eine eindeutig bestimmte Funktion braucht eine unabhängige Variable, nach der sich der Wert der abhängigen Variable richtet. Bei der kognitiven Funktion ist die unabhängige Variable der Stand der Dinge und die abhängige Variable ist die Wahrnehmung. Bei der manipulativen Funktion verhält es sich genau andersherum, denn hier wird ja der Stand der Dinge durch die Entscheidung, die wiederum auf der Wahrnehmung basiert, verändert. In einer reflexiven Situation nimmt eine Funktion der anderen die unabhängige Variable weg. Die Wahrnehmung der Beteiligten stimmt nicht mit dem Stand der Dinge überein. Ihr Wissen ist unvollständig.
„Das Verstehen einer Situation und die Beteiligung an ihr sind zwei verschiedene Funktionen.“
Irrtümer gehören demnach zum Leben. Der Mensch kann wohl Erkenntnisse über die Realität gewinnen, aber je mehr Wissen er anhäuft, desto mehr erkennt er, wie viel Wissen ihm noch zur vollständigen Erkenntnis fehlt. Das Ding, auf das sich die Erkenntnisbemühungen richten, ist selten ein starres Objekt, schon gar nicht, wenn es sich um einen Markt handelt. Das Ziel bewegt sich, und das Wissen, um es zu erfassen, wird in Bereiche ausgedehnt, in denen es nicht mehr gilt. Aus richtigen Deutungen werden Fehldeutungen. So wurde beispielsweise die Denkweise der Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaften ausgedehnt. Das ist problematisch. Soziale Phänomene haben mit einem Aspekt zu kämpfen, den es bei der Naturwissenschaft nicht gibt: die Reflexivität. Unser Denken ist unsicher, der Lauf der Dinge unbestimmt. Die klassische ökonomische Theorie hat das Gleichgewichtsprinzip von Newton einfach übernommen, ohne zu erkennen, dass die Finanzmärkte sich nicht auf ein Gleichgewicht zu bewegen. Schließlich werden sie von Erwartungen beeinflusst und nicht von Handlungen, die auf Wissen basieren.
Konsolidierungsboom in den 60er Jahren
Ein typisches Beispiel dafür, dass die Finanzmärkte nicht zu einem Gleichgewicht tendieren und auf Unwissenheit und Unsicherheit basieren, liefert der Konsolidierungsboom in den 60er Jahren. Rüstungsunternehmen, die nach dem Ende des Vietnamkriegs ihre Felle davonschwimmen sahen, setzten ihre relativ hoch bewerteten Aktien ein, um Firmen mit schwächer bewerteten Aktien zu kaufen und auf diese Weise ihre Gewinne zu steigern. Es funktionierte, und schnell folgten erste Nachahmer. Immer mehr Unternehmen kauften neue Firmen auf und verbesserten so ihr Kurs-Gewinn-Verhältnis. Irgendwann genügte schon das Versprechen, eine Akquisition vornehmen zu wollen, um den eigenen Aktienkurs in die Höhe zu treiben.
„Reflexive Situationen sind durch ein Fehlen von Übereinstimmung zwischen den Wahrnehmungen der Beteiligten und dem tatsächlichen Stand der Dinge gekennzeichnet.“
Irgendwann waren die Kurs-Gewinn-Verhältnisse so hoch, dass die Erwartungen nicht mehr erfüllt werden konnten. Langsam trat die Fehlannahme offen zutage, aber noch machten die meisten bei dem Spiel weiter mit. Mit dem Scheitern der Übernahme der Chemical Bank durch die Reliance Group war der Wendepunkt erreicht und die Talfahrt der Aktienkurse begann. Übernahmen waren immer weniger interessant, weil sie keine Überbewertungen mehr nach sich zogen. Interne Probleme der Konzerne kamen plötzlich zum Vorschein, es gab Gewinnwarnungen. Zu allem Übel setzte auch noch eine Rezession ein. Viele Unternehmen gingen Bankrott, und die Überlebenden mussten sich wieder mühsam hocharbeiten.
Das Boom-Bust-Modell
Der Konsolidierungsboom der 60er ist das Beispiel einer klassischen Boom-Bust-Sequenz, wie sie auch bei der Krise von 2008 zu beobachten ist: Am Anfang stehen ein Trend und eine allgemeine Voreingenommenheit. Zu Beginn ist der Trend noch nicht deutlich erkennbar. Er beschleunigt sich, sobald er erkannt und durch Voreingenommenheit verstärkt wird. Von einem Gleichgewicht entfernt man sich immer weiter. Es folgt eine Phase des Testens, in der die Kurse kurz sinken können. Ist dieser Test bestanden, festigen sich die gleichgewichtsfernen Bedingungen. Dann kommt irgendwann der Moment, in dem die Erwartungen nicht mehr erfüllt werden. Es folgt eine Zeit des Wankens: Das Spiel wird zwar noch mitgespielt, aber niemand traut der Sache mehr richtig. Schließlich ist der Scheitelpunkt erreicht: Trend und Voreingenommenheit schlagen die entgegengesetzte Richtung ein, es folgt der Absturz.
„Die Reflexivitätstheorie liefert keine determinierten Ergebnisse wie die Newton’sche Physik; sie identifiziert vielmehr ein inhärentes Element der Unbestimmtheit in Situationen mit Beteiligten, die auf der Basis des unvollkommenen Verstehens operieren.“
Märkte bewegen sich nicht auf ein Gleichgewicht zu. Deshalb brauchen sie Regulierung. Aber die staatlichen Behörden handeln auch auf der Basis unvollständigen Wissens, genauso wie die Marktteilnehmer. Darum gibt es auch für sie keine allgemeinen Regeln. Der Finanzmarkt folgt seinem individuellen Weg, der mit dem bisher Dagewesenen nichts zu tun hat. Die Marktpreise werden nicht nur durch die Prozesse und die Akteure beeinflusst, sondern sie können auch ihrerseits auf die Fundamentalbedingungen eines Marktes einwirken – obwohl sie diese laut gängiger Theorie nur widerspiegeln sollen. Die Blasen enden meist in Finanzkrisen, an deren Ende wieder eine Regulierung steht.
Die Immobilienblase
Die Immobilienblase ist nur ein Teil der Probleme, mit denen sich das weltweite Finanzsystem konfrontiert sieht. Sie nahm ihren Anfang, als die US-Notenbank nach dem Platzen der Internetblase und nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 die Leitzinsen auf 1 % senkte. Geld war billig. Die Menschen konnten alles kaufen, auch Immobilien, die nun wegen der plötzlich steigenden Nachfrage immer teurer wurden. Damit gab es einen Trend. Kredite wurden immer schneller gewährt. Dem lag die Fehlannahme zu Grunde, dass der Wert einer Sicherheit durch eine besonders großzügige Kreditvergabe nicht geschmälert würde. Hypothekendarlehen hatten Hochkonjunktur. Und weil die Finanzinstitute so gut damit verdienten, lockerten sie die Ansprüche an die Bonität der Kunden immer mehr. Am Ende konnten Häuser ohne Anzahlung gekauft werden. Selbst als die Zinssätze wieder stiegen, ging der Trend nicht gleich zurück. Erst als im Frühjahr 2007 die New Century Financial Corporation Konkurs anmelden musste, setzte die Kehrtwende ein.
Die Superblase
Die Immobilienkrise ist eingebettet in eine bedeutend größere und komplexere Boom-Bust-Sequenz. Auch diese Superblase entwickelte sich durch ausufernde Methoden der Kreditschöpfung. Hinzu kam die Fehlannahme, dass Märkte sich selbst regulieren können. Dieser Marktfundamentalismus, der auf der Theorie des vollkommenen Wettbewerbs fußt, konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und erst recht nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme besonders gut entfalten. Im Sozialismus hatte sich gezeigt, dass staatliche Einmischung durchaus fehlerbehaftet sein kann. Dass das aber keineswegs ein Beweis dafür ist, dass unregulierte Märkte perfekt sind, wollte niemand sehen. Märkte sind Konstrukte der Menschen und damit unterliegen sie auch Fehlern. Deswegen bewegen sie sich auch nicht auf ein Gleichgewicht zu, sondern eher hin zu Extremen.
„Es gab eine symbiotische Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten, die liebend gern mehr konsumierten, als sie produzierten, und China und anderen Exporteuren aus dem asiatischen Raum, die sich darüber freuten, mehr zu produzieren, als sie konsumierten.“
Wurden die Märkte nach der Großen Depression in den 1930er Jahren erfolgreich reguliert, so kehrte in den 80er Jahren der Marktfundamentalismus zurück. Drei Trends leiteten dann die Superblase ein: die wachsende Kreditexpansion, die Globalisierung der Finanzmärkte und das Zurückfahren von Finanzvorschriften. Dank der Globalisierung kann sich das Kapital ungehindert bewegen. Ein Staat hat wenige Möglichkeiten der Regulierung, wenn das Geld einfach wieder abgezogen und woandershin verschoben werden kann. Zwar gibt es ein Konsortium internationaler Finanzbehörden, jedoch nimmt niemand dessen Regeln so richtig ernst, die USA am allerwenigsten. Der Dollar als wichtigste Reservewährung sorgte dafür, dass Finanzwerte in die USA gepumpt wurden. Dank dem billigen Geld konsumierten die Amerikaner auf Teufel komm raus, sodass mehr importiert als exportiert wurde. Die Güter kamen vor allem aus den weniger entwickelten Ländern. Die wiederum investierten das so verdiente Geld in US-Anleihen und sonstige US-Schuldtitel. Leistungsbilanzdefizit und Haushaltsdefizit stiegen in den USA gleichzeitig an.
„Der Glaube, dass Märkte zum Gleichgewicht tendieren, ist direkt für die gegenwärtigen Turbulenzen verantwortlich.“
Die damit einhergehende Kreditexpansion wurde durch immer neue Finanzinstrumente sowie Fremdkapital u. a. von Hedge-Fonds getragen und beflügelt. Solange es Kreditnehmer und Kreditgeber gab, erfreute sich das Ungleichgewicht eines schnellen Wachstums. Dann kam die Immobilienblase dazu und mit ihr Finanzprodukte, die darauf setzten, dass der Markt zum Gleichgewicht tendiert. Deren Einfluss auf den Markt ließen die Erfinder aber außer Acht. Die Leute lebten im Irrglauben, dass der Wert ihrer Häuser immer weiter um zweistellige Prozentsätze steigen würde. Durch neue Hypotheken wurde der Konsum finanziert. Die Sparquote lag bei null. Der Trend machte kehrt, als die Immobilienpreise nicht mehr stiegen. Die Haushalte erwiesen sich als maßlos überschuldet. Der Konsum ging zurück. Investoren flüchteten aus dem Dollar.
Was können wir daraus lernen?
Wir stehen an einem Wendepunkt (Anmerkung von BooksInShort: Das Buch wurde im Frühjahr 2008 veröffentlicht). Sämtliche Kontrollversuche der Finanzbehörden sind gescheitert. Das von den Notenbanken in den Markt gepumpte Geld kann den gestörten Kreditfluss nicht wieder beleben. Viele der neuen Finanzprodukte fallen in sich zusammen, der Rest der Welt flieht aus dem Dollar, und die Kapitalbasis der Banken hat derart gelitten, dass diese ihre Engagements zurückfahren.
„Das Boom-Bust-Muster ist ein überzeugendes Beispiel für die Reflexivität.“
Schuld ist wiederum die nicht beachtete Reflexivität: Die Marktteilnehmer unterlagen dem Irrglauben, die Märkte würden sich auf ein Gleichgewicht zu bewegen. Auch die Behörden vertrauten fälschlicherweise auf die Selbstregulierung des Marktes. Der Fehlannahme, verrückt spielende Kurse würden sich von allein wieder beruhigen, unterlagen auch die Entwickler der zahlreichen synthetischen Finanzprodukte.
„Die Vergangenheit ist eindeutig determiniert, die Zukunft dagegen ungewiss. Entsprechend ist es leichter zu erklären, wie es zu der gegenwärtigen Situation gekommen ist, als vorherzusagen, wohin sie führt.“
Prognosen darüber, was uns an den Finanzmärkten noch bevorstehen wird, lassen sich auch mit der Reflexivitätstheorie nicht stellen. Wohl aber zeigt sie, von welcher Annahme sich die Politik künftig leiten lassen muss: Märkte dürfen nicht sich selbst überlassen werden.