Politik versus Wirtschaft
Innovationsbeschleunigung im Klimaschutz, Rio+20, Agenda 21 – die Politik gibt der Umweltproblematik endlich mehr Gewicht. Saubere Energietechnologien sind schon heute die Märkte, die weltweit am stärksten wachsen. Mittendrin ist Deutschland als eines der technisch führenden und exportintensivsten Industrieländer. Industriewachstum, Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung müssen dringend voneinander entkoppelt werden, wenn ein ökologischer Modernisierungsprozess erfolgreich sein soll. Das ist leichter gesagt als getan: Die Politik geht nicht immer intelligent vor. Auch der Umweltprimus Deutschland ist sowohl in der Automobilindustrie als auch in der Stromwirtschaft oder der Agrochemie dem Einfluss zahlreicher Lobbyisten ausgesetzt, die ökologischen Herausforderungen nicht ganz so aufgeschlossen gegenüberstehen, wie es interessenübergreifend notwendig wäre. Dabei ist Umweltinnovation ein internationaler Megatrend – schon heute und erst recht in Zukunft. Gut möglich, dass aufstrebende Länder wie Brasilien oder Indien die entwickelten Industrienationen auf ihrem Weg in Richtung grüne Elektrizität überholen. Die Umweltindustrie wird weiterhin unterschätzt.
Mehr Dynamik!
Die Argumente für einen Umweltinnovationsprozess ergeben sich praktisch von selbst: Externe Schäden des industriellen Wachstums sollen in gesellschaftlich tolerierbaren Grenzen gehalten werden. Dazu braucht es eine Steigerung der Ökoeffizienz. Das Zeitalter billiger Rohstoffe geht zu Ende, und daraus speist sich eine Dynamik, die nicht auf einmalige Verbesserungen hier und dort abzielt, sondern einen dauerhaften ökologiebasierten Innovationsprozess in Gang setzt und am Laufen hält. So weit die Theorie. In der Praxis werden allerdings viel zu häufig kleinere Umweltverbesserungen durch Mehrverbrauchseffekte ausgeglichen. „Green Growth“ ist gar nicht so einfach zu erreichen. Es gilt, die folgenden Vermeidungsregeln und Gestaltungsleitlinien gleichermaßen zu berücksichtigen:
- Die Ressourcenproduktivität (und damit die Wettbewerbsfähigkeit) muss gesteigert werden.
- Staatlich beauftragte Investitionen müssen sich refinanzieren.
- Umweltbezogene Zukunftsmärkte müssen identifiziert werden, die auf die Bedürfnisse der global wachsenden Mittelklasse eingehen.
- Es gilt, Beschäftigungseffekte im Auge zu behalten.
- Ökologische Risiken müssen verringert werden.
Deutschland auf dem Weg zum Umweltstaat
Das Besondere an Deutschland ist, dass es seit ungefähr einem Jahrzehnt zu einer Art Feldversuch in puncto Umweltpolitik avanciert ist. Bei einem jährlichen Durchschnittswachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1 % gelang von 1994 bis 2011 parallel der Ausbau der erneuerbaren Energien auf 20 % Stromanteil, die Reduktion der Treibhausgabe um 27 % und jene des Rohstoffverbrauchs um 17 %. Außerdem wurde beschlossen, alle Kernkraftwerke stillzulegen. Die Beschäftigungszunahme liegt deutlich über jener in anderen OECD-Ländern. Das alles entgegen der vorherrschenden Meinung der führenden Wirtschaftsinstitute und ohne Anleitung durch die „alte Wirtschaftsindustrie“. Deutschland hat sich so zu einer Art Vorreiterland aufgeschwungen und straft die oft wiederholte Behauptung Lügen, dass Umweltsensibilität wachstumshemmend sei. Interessanterweise sind es gerade die umweltpolitisch aktiven Staaten, die sich international als besonders wettbewerbsfähig erweisen. Ein großes Problem ist vielerorts die Korrumpierbarkeit demokratischer Institutionen, die von Lobbyisten althergebrachter Industrien untergraben werden.
Jeder will plötzlich Vorreiter sein
Erfreulich: Eine Art Deregulierungswettlauf auf Kosten der Umwelt ist allen Unkenrufen zum Trotz ausgeblieben. Länder, die ihre Industrien grüner machen, manövrieren sich nicht ins wettbewerbliche Abseits, im Gegenteil:
- Die EU-Kommission formulierte schon 2006 das Ziel, Weltmarktführer bei erneuerbaren Energien werden zu wollen.
- Praktisch das Gleiche gaben auch die zuständigen Ministerien (Wirtschaft/Umwelt) für Deutschland aus.
- Barack Obama verkündete 2009 das Ziel, die USA zur Heimat erneuerbarer Ressourcen und entsprechender Industrien zu machen.
- Auch China will dem nicht nachstehen: Führende Politiker sehen das Reich der Mitte künftig als den weltweit größten Markt für energiesparende und umweltfreundliche Produkte.
- Ähnliche Ziele formulierten Japan und Südkorea im Jahr 2010.
Bisherige Erfahrungen
Die ersten Erfahrungen mit den hehren Zielen zeigen:
- Starke Umweltinnovationen bewirken mehr als eine Vielzahl kleiner Verbesserungen.
- Anspruchsvolle Zielsetzungen haben auch einschneidende Maßnahmen zur Folge, die der Staat aktiv propagieren muss. Der gesamte Innovationsprozess von der Markteinführung bis zur globalen Verbreitung sollte gefördert werden.
- Kosten-Nutzen-Abwägungen müssen realistischer betrachtet werden als bisher. Die Vorteile höherer Ressourcenproduktivität werden regelmäßig ignoriert.
- Im Zuge einer schöpferischen Zerstörung wird es auch Modernisierungsverlierer geben, die der Staat in einen aktiven Dialog einbinden sollte.
Regulierung und Re-Regulierung
Eingriffe in etablierte Produktions-, Konsum- oder Transportvorgänge werden Schmerzen verursachen, besonders wenn die Beteiligten keine Win-win-Lösungen erkennen können. Ökologische Modernisierung braucht deshalb politische Unterstützung: Ohne diese endet das Vorhaben im bekannten Marktversagen. Die Aufnahme- und Ressourcenkapazität der Erde ist begrenzt. Deshalb hat die Suche nach ökologisch sinnvollen Konzepten eine globale Dimension – und damit globales Marktpotenzial. Die Steuerungsform der Politik heißt Regulierung: Ob tatsächlich oder nur angedroht, kann sie im Gegensatz zu freiwilligen Ansätzen Prozesse beschleunigen helfen, Unsicherheiten bei Marktrisiken reduzieren oder gar ganz neue heimische Industrien schaffen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist der japanische Top-Runner-Ansatz, der aktuell am weitesten entwickelt und als besonders anspruchsvoll gilt: Das umwelteffizienteste Produkt wird nach einer Übergangszeit zum Mindeststandard für alle anderen Hersteller. Weitere Beispiele sind Einspeisetarife für Strom oder der europäische Emissionshandel.
Erfolgsbeispiele gibt es
Neben Deutschland gelten Dänemark und Großbritannien als die ökologischen Vorreiterländer innerhalb Europas; sie haben die ambitioniertesten Klimaziele. In Deutschland wurde das Kyoto-Ziel – die Reduzierung der Treibhausgase bis 2012 um 21 % – schon fünf Jahre im Voraus erreicht. Der Wachstumseffekt in Folge der deutschen Klimapolitik ermöglichte es 2009, das Ziel für erneuerbare Energien – 20 % Anteil bis 2020 – auf mindestens 30 % zu erhöhen. Inzwischen liegt die Hürde bei knapp 39 %, während die Branche selbst gar von 47 % ausgeht. Die Dynamik des Innovationsprozesses wurde grob unterschätzt.
„Wir werden nicht dadurch unseren Wohlstand erhöhen, dass wir erst Vermögen, nämlich Naturvermögen, vernichten, um es dann wenigstens teilweise wieder aufzubauen.“
Ähnliches gilt im Reich der Mitte: China hat seine Ausbauziele für Solarenergie für das Jahr 2020 bereits fünfmal angehoben. Noch schneller wächst die Windenergie: Während China 2004 noch 20 Gigawatt plante, wurden schon sechs Jahre später 150 Gigawatt angepeilt. Die weitestgehenden Vorgaben macht übrigens Irland: Das Land will in seiner 25-Jahre-Vision nicht nur vollständig grün in Bezug auf seine Stromversorgung sein, sondern gar einen Stromexport etabliert haben.
„Die Tendenz zu einer umweltbezogenen Modernisierung von Staat und Wirtschaft ist bisher zwar ebenso unbefriedigend wie die ökologische Leistungsbilanz. Aber der eingeschlagene Pfad ist unter den systemkonformen Pfaden in der kapitalistischen Marktwirtschaft der einzig richtige.“
Gegenbeispiele gibt es allerdings auch: Gemäß dem niederländischen Umweltplan wollte das Land schon 2000 eine Reduktion der Treibhausgase um 20–25 % erreichen. Doch das Ziel erwies sich als zu ambitiös und musste aufgegeben werden. Sowohl zu schwache als auch zu ehrgeizige Umweltziele bieten keinen Innovationsanreiz, sondern sind zum Scheitern verurteilt. Zu bemängeln bleibt, dass sich die Green-Growth-Ziele der OECD und der Weltbank vorrangig auf die Krisenvermeidung fokussieren: Rohstoffengpässe umgehen, Bodenerträge erhalten oder ausbauen, hohe Energiekosten reduzieren oder dem Wassermangel vorbeugen. Nachhaltiges Wirtschaften sieht anders aus.
Grüne und schmutzige Industrien
Das grüne Wirtschaftswachstum darf nicht nur darin bestehen, dass das bisherige Wirtschaftswachstum mit ökologischen Mitteln fortgesetzt wird. Dem Wachstumspotenzial einer umweltbezogenen Investitionspolitik steht ein natürlicher Schrumpfungsprozess bisheriger schmutziger Industrien gegenüber. McKinsey spricht gar von der Notwendigkeit einer „Resource Revolution“: Während bei der Energieeffizienz das Potenzial allmählich erkannt worden sei, könne davon beim Rohstoffverbrauch noch keine Rede sein.
„Nullwachstum bedeutet ökologisch nur die Umwandlung von Rohstoffen in Produkte, Abfälle und Schadstoffe auf dem – zu hohen – Niveau des Vorjahres. Nullwachstum ist insoweit eine zu harmlose Forderung.“
Eine oft gestellte Frage ist, wie sich grüne Wachstumsinvestitionen refinanzieren lassen. Die Antwort: über Effizienzgewinne. Dazu gehören auch vermiedene Schadenskosten – diese sind zwar schwer zu erfassen, aber oft bemerkenswert. Dazu kommt, dass Maßnahmen staatlicher Umweltpolitik innovative Reaktionen bewirken. Die Kosten dieser Maßnahmen fallen dadurch regelmäßig niedriger aus als in Modellrechnungen angenommen. Grundsätzlich gilt: Die Dynamik einer gezielten, nachhaltigen Investitionsstrategie wird stets unterschätzt, die Kosten dagegen werden überschätzt. Schließlich werden auch die Beschäftigungseffekte häufig falsch dargestellt. In Wahrheit haben gerade die „umweltintensiven“ Industrien eine im Vergleich geringe Beschäftigungswirkung, grüne Industrien dagegen eine tendenziell hohe – besonders dann, wenn nicht eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, sondern der Ressourceneffizienz Vorrang hat.
Wettbewerbsvorteil Umweltschutz
2012, im Jahr von Rio+20 (der Umweltgipfel fand 1992 in Rio de Janeiro statt), wird es Zeit für eine erste Bestandsaufnahme mit den Erfahrungen und Beschlüssen des UN-Gipfels. Formuliert wurde seinerzeit eine Strategie nachhaltigen Wirtschaftens mit langfristigen Zielen, konkreten Vorgaben und Ergebniskontrollen. Für das Jahr 1992 war das eine beachtliche Leistung – sie gilt heute als umfassendstes Experiment neuer umweltpolitischer Steuerungskonzepte. Viele EU-Länder haben seither ihre Vorgaben nicht nur umgesetzt, sondern sogar weiterentwickelt. Während diese Leuchtturmwirkung größtenteils positiv ausfällt, wurden gleichzeitig Mängel offenkundig, wenn es um konkrete Durchsetzungsmöglichkeiten gegen widerstrebende Teilinteressen geht.
„Es ist leichter, die 20 wichtigsten Regierungen der Welt unter Druck zu setzen, als 7 Milliarden Menschen von den unbestreitbaren Vorzügen eines ökologisch sinnvollen Lebens zu überzeugen.“
Das Potenzial des Rio-Ansatzes wurde im Großen und Ganzen nur unzureichend ausgeschöpft. Das weiß man jedoch erst in der Rückschau. Die Probleme reichen von fehlender Meinungsführerschaft bis zu unzulänglicher institutioneller Abstützung, namentlich in der EU. Einschränkungen nationaler Handlungsfähigkeit durch globalen Wettbewerb nehmen viele ansonsten ambitioniert auftretende Länder nur ungern in Kauf. Gleichzeitig wird verkannt, dass kollektives Handeln von Staaten die Fähigkeit, Umweltprobleme zu lösen, erhöhen kann. Denn offenbar gehen anspruchsvolle Umweltpolitik und globale Wettbewerbsfähigkeit Hand in Hand. Um Zweiflern zuvorzukommen, könnte man auch sagen: Eine negative Korrelation zwischen anspruchsvoller Umweltpolitik und Wettbewerbsfähigkeit existiert definitiv nicht.