Einkäufer im Blindflug
Im Privatleben halten Sie es längst so: Beim Kauf eines Autos, eines Kühlschranks oder einer Waschmaschine schauen Sie nicht bloß auf den Kaufpreis. Vielmehr werden Sie auch kalkulieren, wie lange die Freude am Produkt dauern und wie viel es Sie später noch kosten wird: an Sprit-, Strom- oder Reparaturkosten etwa. Dass billig nicht unbedingt gleich preiswert ist, haben die meisten längst verinnerlicht. Doch im Handel zwischen Unternehmen ist dieses pragmatische Denken anscheinend nicht so selbstverständlich. Gerade bei den teuersten Investitionsgütern entscheiden Einkäufer vor allem mit Blick auf den Anschaffungspreis. Und lassen sich damit auf einen kalkulatorischen Blindflug ein, der gut gehen, aber auch in einer Bruchlandung enden kann.
„Nicht mehr die billigste Maschine sollte bei einem Angebotsvergleich den Zuschlag erhalten, sondern diejenige, die auch langfristig die beste Qualität und die niedrigsten Instandhaltungskosten garantiert.“
Klar, bei der Kalkulation reicht es nicht, wie bei Kühlschrank oder Auto Diesel- mit Benzinpreisen oder verschiedene Kilowattzahlen pro Jahr zu vergleichen und anhand des Unterschieds auszurechnen, wann sich das teurere Produkt amortisiert. Die Kalkulation aller Kosten ist bei einer Industriemaschine oder -anlage ungleich komplizierter. Doch die Mühe lohnt sich: Gerade qualitätsorientierten Maschinenbauern und ihren Kunden bringt es viel, sämtliche Kosten eines solchen Investments im Rahmen einer Lebenszykluskostenanalyse zu erheben.
TCO = LCC
Bei der Beschaffung von Traktoren hat der Controller des General Accounting Office der USA (vergleichbar mit dem deutschen Bundesrechnungshof) in den 1930er Jahren erstmals auch die Betriebs- und Wartungskosten ins Kalkül gezogen. Seither haben verschiedene Branchen das Konzept aufgegriffen. Mitte der 80er Jahre entwickelte die Unternehmensberatung Gartner eine unter dem Namen Total Cost of Ownership (TCO) bekannte Berechnungsmethode, um die direkten und indirekten Kosten von IT-Systemen transparent zu machen. In der Industrie setzte sich eher der Begriff der Lebenszykluskosten durch (Life Cycle Cost, LCC). TCO und LCC sind heute weitgehend synonym. Die damit gemeinten Berechnungsmodelle umfassen alle wesentlichen Kosten, die während eines Produktlebenszyklus anfallen.
Anforderungen an ein Lebenszykluskostenmodell
Ein Lebenszykluskostenmodell darf nicht zu komplex sein. Es muss die wesentlichen Kostentreiber erfassen, um aussagekräftig zu sein. Diese Kostentreiber müssen messbar – in Zeit, Menge oder Geld – und in ein Modell eingebettet sein, aus dem die Kostenstruktur und die Berechnungsweisen hervorgehen. Ein gutes Modell können Sie den verschiedensten Bedürfnissen anpassen. Ideal ist, wenn das Modell nicht nur die Kosten und den Nutzen aufzeigt, sondern auch das Optimierungspotenzial. Damit es sich wirklich als praxistauglich erweist, müssen Sie das Modell außerdem leicht in eine IT-Lösung übersetzen können. Nur so lässt sich die gewünschte Transparenz zeitnah herstellen und halten.
Die Mühe ist groß – der Nutzen aber auch
Sie können es sich denken: Ein solches Modell zur Berechnung der sichtbaren und unsichtbaren Kosten ist eine aufwändige Angelegenheit. Sie müssen nicht nur die Zeit für die Berechnung aufbringen. Selbst wenn Sie auf ein weitgehend fertiges Modell zurückgreifen, müssen Sie es mit relevanten Daten füttern, und dafür müssen Sie zuvor die wichtigen Kostentreiber identifiziert haben. Außerdem müssen Sie die Daten erheben und dürfen dann natürlich auch nicht mehr aufhören, Kosten zu messen und zu prognostizieren, Gründe für Abweichungen zu analysieren und immer weiter zu optimieren.
„Die Grundidee von Lebenszykluskosten ist, nicht nur die unmittelbaren Kosten, die mit dem Erwerb eines Investitionsgutes zusammenhängen, sondern auch die Kosten für den Betrieb, die Wartung und die Instandhaltung zu berücksichtigen.“
Dafür wissen Sie dann aber genau, an welcher Stelle Sie die Kostenschraube nach unten drehen können und wie Sie die Qualität – des Produkts ebenso wie der Prozesse – effektiv verbessern und so weiter Kosten senken können. Der Nutzen, den Sie aus dem Modell für die Berechnung der Lebenszykluskosten ziehen können, ist also ebenfalls immens.
Beide Seiten profitieren
Dem qualitätsbewussten Anwender von Industriemaschinen und -anlagen bietet die Nutzung eines Lebenszykluskostenmodells Planungssicherheit. Teure Fehlentscheidungen werden vermieden, die Qualität der Prozesse verbessert und die Ausfallzeiten der Anlagen gesenkt. Das spart Geld, erhöht die Qualität der Produkte und deren Zuverlässigkeit. Durch eine Kooperation zwischen Anwender und Hersteller kann ein Teil des Risikos auf Letzteren verlagert werden.
„Oft zeigt sich, dass die Kosten in der Nutzungsphase diejenigen der Anfangsinvestition in einer Mehrjahresbetrachtung durchaus bereits nach wenigen Jahren übersteigen können.“
Auch dem Hersteller bringt ein Lebenszykluskostenmodell Vorteile. Beim Verkauf kann er die Qualität seiner Produkte fundierter hervorheben. Die enge Kooperation mit dem Kunden steigert dessen Bindung an sein Unternehmen. Dank der Daten der Lebenszykluskostenanalyse kann das Produkt gezielt verbessert werden. Dienstleistungen lassen sich maßschneidern. Haben die Kunden beispielsweise Schwierigkeiten beim Wiederverkauf oder bei der Entsorgung, könnte eine Rücknahmegarantie die Kaufhürde senken. Binden die Maschinen viel Liquidität, freuen sich Kunden über Angebote in den Bereichen Leasing, Finanzierung oder Versicherung. Bei technisch komplexen Produkten ist eine 24-Stunden-Hotline empfehlenswert. Mit solchen Strategien können Sie als Hersteller den Abstand zu Niedrigpreisanbietern vergrößern.
Welche Kosten sind relevant?
Ein Berechnungsmodell, das alle Folgekosten einbezieht, ist bei einer Industrieanlage viel komplexer als etwa bei einem Auto oder einem Kühlschrank. Es reicht nicht, ein oder zwei Faktoren isoliert zu betrachten. Neben den Energiekosten – für die verschiedenen Komponenten, bei Bedarf bis zum letzten Bauteil aufgedröselt – können zusätzlich Kosten für Reparatur, Stillstandszeiten, Qualitätsverlust, Personal- oder Raumkosten und vieles mehr von Bedeutung sein. Welche Faktoren die Kosten am stärksten treiben, variiert von Maschine zu Maschine.
„Eine herkömmliche Investitionsplanung und -entscheidung betrachtet oft nur die Spitze des Kosteneisbergs. Eine Reihe der relevanten Kostenpositionen wird bei dieser Betrachtung selektiv ausgeblendet, was zu signifikant falschen Entscheidungen führen kann.“
So ist es beispielsweise bei weitgehend wartungsfreien Pumpensystemen nicht sinnvoll, die Wartungskosten einzubeziehen. Hier schlagen neben den Anschaffungskosten vielmehr die Energiekosten zu Buche. Bei Werkzeugmaschinen lohnt dagegen ein genauer Blick auf die Kosten für Wartung und Instandhaltung. Bei Kunststoffspritzmaschinen wiederum sind die Materialkosten besonders wichtig.
Jenseits der Kosten
Ein praxistaugliches Lebenszykluskostenmodell unterteilt die Lebensdauer einer Maschine in drei Phasen:
- Anschaffungsphase,
- Nutzungsphase,
- Nachnutzungsphase.
„Die Lebenszykluskosten einer Werkzeugmaschine spielen bei Investitionsentscheidungen derzeit eher eine untergeordnete Rolle, obwohl die Kosten der Betriebs- und Entsorgungsphase die Beschaffungskosten um ein Vielfaches übersteigen können.“
Für diese drei Phasen erheben Sie die kostentreibenden Faktoren. Neben den Anschaffungs- und Einführungskosten sind das die Kosten für den Betrieb, die Qualitätssicherung, für Wartung und Instandhaltung, Ersatzteile, Schulung und zu guter Letzt für die Entsorgung. Vorteilhaft ist es, wenn Ihr Lebenszykluskostenmodell nicht nur Kosten aufzeigt, sondern auch, was sich verbessern lässt. Außerdem kann es sich lohnen, den Nutzen gleich mitzukalkulieren. Um das Modell nicht zu komplex werden zu lassen, sollten Sie aber im Zweifel nur die am stärksten kostentreibenden Faktoren berechnen. Diese zu reduzieren ist oft lohnend genug.
„Um die Ergebnisse von Lebenszykluskostenberechnungen vergleichen zu können, müssen sie auf den gleichen Annahmen beruhen, aber auch nach dem gleichen Verfahren ermittelt worden sein.“
Wenn Sie die Folgekosten kontrollieren wollen, brauchen Sie das Rad nicht neu zu erfinden. Orientieren Sie sich an technischen Vorgaben wie etwa der DIN-Norm 60300-3-3 oder an den Modellen verschiedener Verbände. Für Industriemaschinen und Anlagen haben Sie ein gutes halbes Dutzend tauglicher Modelle zur Auswahl.
Partnerschaftlich kooperieren
Für den Erfolg der Lebenszykluskostenbetrachtung kommt es wesentlich darauf an, welche Leistungen Hersteller und Nutzer einer Anlage erbringen wollen und welche Daten sie rauszugeben bereit sind. Welche Lösung auch immer zwischen ihnen vereinbart wird – eine sinnvolle Steuerung der Lebenszykluskosten funktioniert nur, wenn Hersteller und Anwender einer Maschine wirklich partnerschaftlich kooperieren. Keiner darf benachteiligt sein, etwa durch Haftungsklauseln im Vertrag.
„Vor dem Abschluss von TCO-Verträgen sollten Maschinenhersteller beachten, dass das Haftungsrisiko möglichst umfassend auf die Lieferanten übertragen wird.“
Die Anreize sind das wichtigste. Sie müssen im Vertrag sinnvoll gesetzt werden. Grundsätzlich sind die Anforderungen ja einfach: Der Nutzer einer Maschine muss sich auf die vom Hersteller zugesicherten Eigenschaften verlassen können, und der wiederum muss sicher sein, dass sein Kunde die Maschine bestimmungsgemäß einsetzt und wartet. Wer was macht, muss ausgehandelt werden. Aber es muss sich für beide lohnen. Damit das der Fall ist, müssen die Anreize den Hersteller zu wahrheitsgemäßen Angaben und den Nutzer zu pflichtgemäßem Betrieb animieren. Zusätzliche Kosten sollen von beiden Seiten anteilweise beglichen werden müssen. Um die Balance zu finden, braucht es Fingerspitzengefühl. Gelingt dies, bemüht sich der Hersteller um treffsichere Prognosen und der Nutzer der Anlage wird nicht dazu verführt, zu schludern, um finanzielle Vorteile aus Störfällen zu ziehen.
„Die Schwierigkeit besteht darin, ein Modell zu entwickeln, mit dem objektiv entschieden werden kann, ob durch Änderungen am Bearbeitungsprozess die Beanspruchung der Maschine und ihrer LCC-Komponenten entscheidend erhöht wurde.“
Es ist z. B. sinnvoll, dem Hersteller einen Teil der vom Lebenszykluskostenmodell nicht erfassten Mehrkosten aufzubürden. Der Autobauer Daimler etwa nutzt hierfür ein Bonus-Malus-System. Je nach Art und Häufigkeit der Störung muss der Hersteller einen Anteil der zusätzlichen Kosten tragen. Eine zu diesem Zweck entwickelte Ampel zeigt an, ob die Werte für die verschiedenen Kostenblöcke im grünen Bereich liegen oder aber der Vertrag verletzt wurde. Der Autozulieferer ZF Friedrichshafen hat mit seinen Zulieferern ebenfalls gute Erfahrungen mit einem entsprechenden Anreizsystem gemacht.
Abschied vom Verursacherprinzip
Ein für den Hersteller nachteiliges Anreizsystem wird ihn dazu bringen, einen Sicherheitsaufschlag für evtl. fällig werdende Malus-Forderungen in einem höheren Kaufpreis zu verstecken. Versteckte Kosten wollen Sie aber ja gerade sichtbar machen. Nur ein wirklich einvernehmlich und fair ausgehandelter Vertrag wird darum zu den erhofften Zielen führen. Auch wenn die Verhandlungsmacht auf einer Seite liegt – es ist nicht im Interesse der Vertragspartner, einander über den Tisch zu ziehen oder haftbar zu machen.
„Während in die Entwicklung neuer Maschinen regelmäßig nennenswerte Beträge investiert werden, erfolgt die Entwicklung von Dienstleistungspaketen eher reaktiv, zufallsgetrieben und tendenziell zu spät.“
Der Vertrag sollte den Beteiligten den Kopf so weit freihalten, dass es im Störfall nicht um Schuldzuweisung geht, sondern in erster Linie darum, den Fehler zu beheben, zu analysieren und ihn in die Berechnungen einfließen zu lassen. Kompensation darf mit Blick auf den langfristigen Erfolg nicht das Hauptziel sein. Das sollte vielmehr eine verbesserte Qualität und als deren Folge eine geringere Zahl von Störungen sein. Also: weiter sinkende Kosten. Sich bei der Haftung vom Verursacherprinzip zu lösen, ist der – übrigens stetig sinkende – Preis dafür.
Prof. Dr.-Ing. Stefan Schweiger ist Herausgeber dieses Buches, das Fachbeiträge verschiedener Autoren publiziert. Er ist seit 2003 Professor für industrielle Projektplanung und Projektmanagement an der Hochschule Konstanz. Daneben ist er als Unternehmensberater, Coach und Referent tätig.