Die Tücken des Bewerbungsgesprächs
Das Interview mit Bewerbern ist eines der klassischen Instrumente der Personalauswahl. Gespräche führen kann eigentlich jeder, sollte man meinen. Es ist wenig aufwändig, und man bekommt leicht einen persönlichen Eindruck. Doch was auf den ersten Blick einfach und unkompliziert zu sein scheint, ist in Wirklichkeit sehr anspruchsvoll. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das Bewerbungsgespräch ein relativ unzuverlässiges Instrument zur Beurteilung von Kandidaten ist. Die Gefahr ist groß, sich bei der Besetzung einer offenen Stelle zu täuschen. Eine solche Fehlbesetzung ist für jedes Unternehmen ein teures Vergnügen und kann den Personaler im schlimmsten Fall sogar den Job kosten.
„Ziel des Gespräches ist es, Informationen über den Bewerber zu erhalten.“
Heutzutage sind die meisten Bewerber durch Bewerbungstrainings und Ratgeberliteratur bestens auf das Gespräch vorbereitet. Sie präsentieren sich von ihrer Schokoladenseite oder wenden sogar regelrechte Täuschungsmanöver an. Mit dem normalen, im Alltag angemessenen Gesprächsverhalten kommt man als Personalverantwortlicher deshalb nicht weiter. Ohne eine professionelle Fragetechnik finden Sie kaum heraus, was die Stärken und Schwächen des Bewerbers sind und ob er tatsächlich ins Unternehmen passt. Ein systematisches Training des richtigen Interviewverhaltens ist deshalb sinnvoll.
„Die ‚Warum-Frage‘ hat den Nachteil, dass sie einen Verhörstil erzeugt.“
Zentral für jedes gute Interview ist, dass der Bewerber − und nicht Sie selbst − die meiste Zeit redet. Schließlich wollen Sie den Kandidaten ja kennen lernen, sein Redeanteil sollte deshalb rund 80 % der Zeit in Anspruch nehmen. Für Sie als Personaler bedeutet das eine Doppelbelastung: Einerseits müssen Sie das Gespräch steuern, andererseits natürlich auch inhaltlich auf die Antworten Ihres Gegenübers reagieren.
Stellen Sie offene Fragen
Offene Fragen kann man nicht nur mit Ja, Nein oder einer Tatsache („Ich bin 26 Jahre alt“) beantworten, sondern sie fordern zu ausführlicheren Erklärungen auf. Oft fangen sie mit dem Buchstaben W an, etwa so: „Wie kommt es, dass ...“ Vorsicht mit zu vielen Warum-Fragen. Sie führen leicht dazu, dass der Bewerber sich wie in einem Verhör fühlt. Vermeiden Sie, zumindest zu Beginn, geschlossene Fragen bzw. versuchen Sie, die darin enthaltenen Einschränkungen zu entfernen. Also nicht: „Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit Spaß?“ Sondern: „Welche Vor- und Nachteile hat Ihr Job?“ Nimmt der Bewerber die offene Frageform nicht an, können Sie immer noch gezielt nachhaken. Die Reihenfolge lautet also: erst offene, dann geschlossene Fragen.
Werden Sie konkret
Viele Bewerber äußern sich auf ziemlich abstrakte Weise. Klar, je allgemeiner die Aussagen sind, desto leichter finden sie Zustimmung. Manche Kandidaten können sich auch einfach nicht präzise ausdrücken. Es ist daher wichtig, konsequent nachzufragen, was der Bewerber mit seinen Aussagen meint. Nur so gelangen Sie hinter die austauschbaren Standardantworten aus den Bewerbungsratgebern. Sinkt bei Ihren Nachfragen die Qualität der Antworten rapide, können Sie davon ausgehen, dass die Antwort auf die erste Frage antrainiert war. Manche Bewerber versuchen, sich dem Nachhaken des Interviewers zu entziehen, indem sie behaupten, eine bestimmte Situation sei ihnen noch nie widerfahren. In diesem Fall hilft es, entweder mit hypothetischen Fragen („Wie würden Sie reagieren, wenn XY einträte?“) oder mit Beobachtungen aus dem Umfeld („Sie haben doch sicher schon beobachtet, dass ... Wie beurteilen Sie das?“) zu arbeiten.
„Ein einfaches und sehr effizientes Mittel, um den Gesprächsfluss aufrechtzuerhalten, ist das Zusammenfassen.“
Es ist sehr nützlich, aber oft auch ziemlich schwierig, vom Bewerber Beispiele für einen Sachverhalt zu bekommen. Am besten fragen Sie gar nicht erst, ob es überhaupt Beispiele gibt, sondern fordern diese direkt ein, am besten gleich mehrere. Wenn der Bewerber sagt, ihm falle im Moment nichts Konkretes ein, hilft nur konsequentes Nachhaken, um die Zügel nicht aus der Hand zu geben.
„Häufig ist es schwierig, dem Bewerber ein konkretes Beispiel abzuringen.“
Zusammenfassungen sind ein bewährtes Mittel, um ein ins Stocken geratenes Gespräch wieder in Gang zu bringen. Zudem können Sie sich so das Gesagte besser merken. Entweder fassen Sie selbst das bislang Gesagte knapp zusammen oder der Kandidat tut es, oder aber Sie wiederholen den letzten Satz des Bewerbers in Frageform. Eine Variante ist das bewusst falsche Zusammenfassen, womit der Bewerber zu Klarstellungen und Korrekturen gezwungen wird.
Erkennen Sie individuelle Bedeutungen
Auch wenn man sich im Gespräch scheinbar bestens versteht, muss dies nicht zwingend wirklich so sein. Selbst wenn beide Seiten dieselben Wörter verwenden, meint möglicherweise jeder etwas anderes. Das gilt ganz besonders, wenn es um Abstraktes, um persönliche Einstellungen oder Bewertungen geht, und genau das sind ja zentrale Themen jedes Jobinterviews. Es ist also keineswegs selbstverständlich, dass Ihr Gesprächspartner dasselbe meint wie Sie, wenn von „kollegialem Verhalten“ oder „kooperativem Führungsstil“ die Rede ist. Leider hat unser Gehirn die Tendenz, eigentlich fragliche Sachverhalte vorschnell in die Kategorien Richtig oder Falsch einzuordnen. Notwendiges Nachfragen unterbleibt, weil das Gehirn das Thema abhaken möchte. Gewiefte Bewerber versuchen zudem gezielt, mit eher allgemeinen Aussagen Übereinstimmung zu erzielen, um keine „falschen“ Antworten zu geben. Daher müssen Sie herausfinden, was der Bewerber mit bestimmten Begriffen meint, Sie müssen die individuelle Bedeutung der Worte entschlüsseln. Solche Gespräche können zwar zeitaufwändig, zäh und mühsam sein, doch lernen Sie nur so den Bewerber wirklich kennen. Dies ist letztlich auch in seinem Interesse, denn es verbessert die Grundlagen Ihrer Entscheidung.
Hören Sie gut zu
Der erste Schritt zu diesem individuellen Verständnis ist das sensorisch genaue Zuhören. Versuchen Sie wortwörtlich zu wiederholen, was der Bewerber gesagt hat. Das ist oft nicht einfach; speziell vom ersten Teil des Gesagten bleiben oft nur ein paar Schlagworte hängen, und das führt genau zum oben beschriebenen Scheinverständnis. Prüfen Sie, an welchen Stellen der Bewerber mit schwammigen Ausdrücken eine Nichtinformation gegeben hat, und fragen Sie gezielt nach. Normalerweise klärt sich die individuelle Bedeutung der Begriffe erst beim zweiten oder dritten Nachfragen. Allerdings müssen Sie aufpassen, nicht vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen; Sie dürfen den Überblick über den Gesprächsverlauf nicht verlieren. Übrigens neigen nicht nur Bewerber, sondern auch Personaler selbst zur Verwendung schwammiger Worthülsen. Darum ist eine gewisse Vorsicht bei der internen Abstimmung durchaus angebracht.
Identifizieren Sie die Signalwörter
Natürlich können Sie nicht bei jedem zweiten Wort nachhaken, sondern nur gezielt, bei den wichtigen Signalwörtern. Doch wie findet man die? Achten Sie besonders auf Folgendes:
- Universalquantifizierungen: Das sind Formulierungen, die kein konkretes Einzelphänomen, sondern eine unbestimmte Menge bezeichnen, etwa „die Fachwelt“, „wir“ oder „nirgends“. Gegenmittel: Fragen Sie nach Namen oder Beispielen.
- Nominalisierungen: Hierbei handelt es sich um so genannte „falsche“ Hauptwörter – abstrakte Substantive, die aus Verben gebildet werden und im Gegensatz zu den „richtigen“ Hauptwörtern nicht gesehen oder angefasst werden können, z. B. „Zusammenarbeit“. Wenn der Bewerber Nominalisierungen verwendet, fragen Sie nach, indem Sie den Begriff zurück in die Verbform bringen: „Wie arbeiten Sie mit Ihren Kollegen zusammen?“
- Tilgungen: Keine Aussage ist bekanntlich auch eine Aussage, und das gilt besonders im Bewerbungsgespräch. Achten Sie deshalb darauf, was der Kandidat nicht sagt, und haken Sie nach. Fällt also z. B. der Satz „Ich bin neugierig“, dann fragen Sie: „Worauf?“
„Zentral ist, dass zuerst die Person des Bewerbers im Fokus steht und erst danach die zu besetzende Stelle.“
Weitere Fragetechniken
- Um spontane, nicht einstudierte Antworten zu erhalten, können Sie z. B. konträre Fragen stellen, die gängigen Stereotypen zuwiderlaufen. Nehmen Sie einen üblicherweise positiv besetzten Begriff und fragen Sie nach seinen negativen Aspekten, etwa: „Wo sehen Sie die Nachteile der Teamarbeit?“
- Hilfreich sind auch sehr allgemeine Fragen, z. B.: „Wie lautet Ihr Lebensmotto?“
- Auf zirkuläre Fragen, in denen Sie nicht nach der Selbsteinschätzung, sondern nach der Einschätzung durch andere fragen, erhalten Sie oft interessante Antworten. Fragen Sie also nicht: „Wo sehen Sie Ihre Stärken?“, sondern: „Welche Pluspunkte haben Sie aus der Sicht Ihrer Kollegen?“
- Projektive Fragen geben Aufschluss über die Werte des Bewerbers. Bitten Sie ihn z. B., andere Personen zu beschreiben. Achten Sie auf die nonverbalen Signale. Kommt eine Antwort wie aus der Pistole geschossen und wird sie von relativ wenig Gestik und Mimik begleitet, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einstudiert ist, groß.
- Eine spezielle Technik sind mehrgliedrige Fragen. Daran, ob der Bewerber nur die erste Teilfrage oder alle beantwortet, erkennen Sie, wie komplex er denkt.
Der Verlauf des Gesprächs
Achten Sie bei der Gesprächsvorbereitung auf praktische Aspekte wie die richtige Sitzordnung oder die optimale Zeitplanung, und machen Sie sich Notizen, zumal man gerade bei mehreren Bewerbern viele Informationen schnell wieder vergisst. Nach der Begrüßung und ein paar allgemeinen Worten, die den Bewerber zum Sprechen bringen sollen, z. B. über die Anreise oder das Wetter, erklären Sie ihm den Ablauf des Gesprächs. Im ersten Teil geht es vor allem darum, die Vorstellungen und Erwartungen des Aspiranten zu erfassen. Am besten sprechen Sie über die folgenden Punkte:
- wichtige Faktoren der Arbeitszufriedenheit wie Arbeitsinhalte oder Arbeitsbedingungen,
- eventuelle Mitwirkung des Kandidaten an Entscheidungen,
- typische Führungsdilemmata (nur bei Führungspositionen),
- Wünsche an die Unternehmenskultur,
- Vorstellungen des Bewerbers von idealer Gruppenarbeit.
„Es ist unbedingt ratsam, sich während des Gesprächs Notizen zu machen.“
Sinnvoll ist es außerdem, den Kandidaten zu seinem wahrscheinlichen Verhalten in Situationen zu befragen, die charakteristisch für die zu besetzende Stelle sind. Oft ist es auch aufschlussreich, den Bewerber eine kleine Präsentation durchführen zu lassen, da auf diese Weise sein situatives Verhalten beurteilt werden kann.
„Zentral ist es, beide Seiten, die rationale und die intuitive, intensiv zu nutzen und das Bauchgefühl transparent zu machen sowie mehrere Bäuche zu beteiligen.“
Erst wenn die Vorstellungen und Wünsche des Bewerbers hinreichend geklärt sind, geben Sie ihm Ihrerseits Informationen zum Unternehmen und zu seinem konkreten Aufgabenbereich. Selbstverständlich muss der Bewerber noch Gelegenheit bekommen, Fragen zu stellen. Rekapitulieren Sie das Gespräch kurz, bevor Sie sich dem nächsten Kandidaten widmen. Bei der endgültigen Stellenbesetzung sollte neben der Auswertung von Fakten auch das Bauchgefühl eine Rolle spielen. Gespräche sollten idealerweise von mehreren Interviewern geführt werden, die ihre Eindrücke austauschen und die Entscheidung damit auf eine rationalere Grundlage stellen.