Den Kapitalismus neu erfinden
Die Menschheit steht an einem Scheideweg. Die Weltbevölkerung explodiert und die Weltwirtschaft wächst viel zu langsam, um unzähligen jungen Menschen in den Entwicklungsländern Arbeit bieten zu können. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer mehr auseinander. Und wenn wir die Treibhausgasemissionen nicht bald um 70–80 % senken, wird die Klimakatastrophe mit Sicherheit kommen. Nur eine radikale Umkehr kann unseren Planeten retten, und keine Einrichtung ist dafür so gut geeignet wie die Privatwirtschaft. Lange Zeit sah es zwar nicht danach aus: Mit Gesetzen zwangen Regierungen widerstrebende Unternehmen zu mehr Umwelt- und Sozialverträglichkeit; diese sahen dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Dann begannen die Verantwortlichen zu erkennen, dass Prävention billiger ist als das große Aufräumen im Nachhinein. Unter dem Schlagwort „product stewardship“ (Produktbetreuung) übernehmen mittlerweile viele Unternehmen die Verantwortung für ihre Produkte über deren gesamten Lebenszyklus hinweg, von der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling. Doch gesteigertes Umweltbewusstsein allein genügt nicht. Wir müssen den Kapitalismus im ökologischen und sozialen Sinn ganz neu zu erfinden.
„Dieses Buch vertritt den unorthodoxen Standpunkt, dass privatwirtschaftliche Unternehmen, zum jetzigen Zeitpunkt in der Geschichte, auf einzigartige Weise dafür gerüstet sind, uns in eine nachhaltige Zukunft zu führen.“
Globale Nachhaltigkeit ist nur mithilfe von Produkten, Dienstleistungen und Technologien möglich, die heute noch weitgehend Zukunftsmusik sind. In den entwickelten Märkten kommt es vor allem darauf an, den ökologischen Fußabdruck zu verringern. In aufstrebenden Märkten können Unternehmen mit neuen Technologien Fehler vermeiden, die in den entwickelten Märkten gemacht wurden. Traditionelle Märkte, zu denen derzeit vier Milliarden Menschen am Fuß der Wohlstandspyramide (Bottom of the Pyramid, BoP) gehören, verlangen dagegen einen radikal neuen Ansatz. Denn die Probleme sind gewaltig: Eine Milliarde Menschen hat z. B. keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser, und 2,4 Milliarden leben ohne sanitäre Einrichtungen.
Nachhaltigen Mehrwert schaffen
Unternehmen von heute sollten folgende Nachhaltigkeitsstrategien verfolgen:
- Umweltverschmutzung verhindern: Indem Unternehmen Ressourcen effizienter nutzen, sparen sie Kosten für Material und Abfallentsorgung.
- Verantwortliche Produktbetreuung: Ein Beispiel ist die Kampagne von Nike, bei der alte Sportschuhe eingesammelt und für die Herstellung von Sportbelägen wiederverwendet werden. Durch die Einbeziehung aller wichtigen Stakeholder wird so auch das Image des Unternehmens deutlich verbessert.
- Entwicklung disruptiver Technologien: Damit sind radikale Erneuerungen gemeint, die Probleme von Grund auf lösen, statt nur negative Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit zu minimieren.
- BoP-Märkte bedienen: Die Grameen Bank in Bangladesch vergab erstmals Mikrokredite an die Ärmsten der Armen. Die Rückzahlrate liegt bei phänomenalen 98 %.
„Wo immer Menschen waren, gab es Märkte. Tatsächlich sind Märkte universell – sie sind nicht auf die Welt der Wohlhabenden beschränkt.“
In der Wirtschaftsgeschichte haben schon immer innovative Unternehmen solche verdrängt, die sich auf ihren Lorbeeren ausruhten. Der Ökonom Joseph Schumpeter prägte hierfür den Begriff „schöpferische Zerstörung“. Auch der Trend zur globalen Nachhaltigkeit wird viele gängige Produkte und Systeme obsolet machen. Vermutlich kennen wir heute drei Viertel der Unternehmen noch gar nicht, die 2020 den S&P-500-Index ausmachen werden. Nachhaltigkeit bedeutet, dass auch künftige Generationen ihre Bedürfnisse so befriedigen können, wie wir das heute tun. Schrittweise Verbesserungen reichen dafür nicht aus. Es nutzt beispielsweise wenig, nach der Fertigstellung eines Hausrohbaus in allerlei energiesparende Geräte, Heiz- und Kühlsysteme zu investieren. Disruptive Innovation bedeutet, von Anfang an ein ganz anderes Haus zu bauen, das passiv geheizt und gekühlt, gut isoliert und mit Solarenergie betrieben wird.
Der große Sprung nach unten
Das technische Potenzial ist vorhanden: Biowissenschaften, Nanotechnologie, Solartechnik, Brennstoffzellen und neue Materialien sind nur einige Beispiele. Dennoch ist die Einführung disruptiver Technologien in den Industrieländern wiederholt gescheitert. Der Grund: zu teuer, zu unbequem oder kein dringender Bedarf. Multinationale Konzerne richten ihre Aufmerksamkeit traditionellerweise auf die Spitze der Wohlstandspyramide (ca. 800 Millionen Menschen) oder auf die aufstrebende Mittelschicht (ca. 1,5 Milliarden) – und wundern sich, dass ihre Wachstumschancen gering bleiben. Dabei übersehen sie vier Milliarden Arme, die bisher von der Globalisierung übergangen oder sogar geschädigt wurden.
„Wenn die gesamte Welt so materialintensiv vorgehen würde wie Nordamerika, bräuchte man die Erde in dreifacher Ausführung, um den Materialbedarf der derzeitigen Weltbevölkerung zu befriedigen.“
Die Herausforderung der dezentralen Energieversorgung ist ein gutes Beispiel. In den Industrieländern hat jedermann Zugang zu relativ günstigem Strom aus dem Netz. Nur wenige sind bereit, für dezentral gewonnene Solar- oder Windenergie tiefer in die Tasche zu greifen. In den ländlichen Gegenden der Entwicklungsländer gibt es hingegen kein Stromnetz, und die Menschen müssen einen großen Teil ihres Einkommens für teure, ineffiziente und umweltschädliche Energieträger aufwenden. Die Non-Profit-Organisation Light up the World hat nun erfolgreich ein mit Solarenergie und LED-Lampen betriebenes ländliches Beleuchtungssystem für 50 $ entwickelt und dieses mit der Möglichkeit der Mikrofinanzierung verbunden – ein Geschäftsmodell mit immensem Wachstumspotenzial. Sobald sich ein solches Produkt auf den BoP-Märkten etabliert hat, die Kosten gesunken sind und die Technologie ausgereift ist, kann sein Siegeszug in wohlhabenderen Bevölkerungsschichten beginnen.
Ein neues Geschäftsmodell
Um an den BoP-Märkten Erfolg zu haben, müssen multinationale Konzerne ihr Geschäftsmodell radikal umstellen:
- Versetzen Sie sich in die Lage Ihrer potenziellen Kundschaft: Welche Hindernisse gilt es zu beseitigen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können? Beispiele hierfür sind Wucherzinsen und -preise, minderwertige Produkte und die Ausbeutung durch lokale Machthaber.
- Erhöhen Sie die Ertragskraft: Viele Arme zahlen viel zu viel für die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse. Helfen Sie ihnen, Geld zu sparen und welches zu verdienen. So wurde es etwa beim Village Phone Program in Bangladesch gehandhabt, das ein dörfliches Mobilfunknetz aufbaute und den Telefonvermittlerinnen, die Handys vermieteten, ein regelmäßiges Einkommen einbrachte.
- Schaffen Sie neues Potenzial: Ein Beispiel ist die Bereitstellung von Internetkiosken im ländlichen Indien. Diese bilden die Grundlage für unzählige weitere Geschäftsmodelle, darunter die Gründung eines Netzwerks lokaler Rohstoffbörsen für landwirtschaftliche Produkte, die den Bauern bessere Preise einbringen.
„Fakt ist, dass es im wahrsten Sinne des Wortes schon ein ,ganzes Dorf‘ braucht, um den organisierten Terrorismus tatkräftig zu unterstützen.“
Die Geldwirtschaft ist nur die Spitze der globalen Wirtschaftspyramide. In vielen Ländern werden in den Familien und im informellen Sektor Vermögen geschaffen, die in keiner Bilanz auftauchen. Multinationale Konzerne verfügen über die nötigen Ressourcen, um diese Vermögen zu nutzen, und sie können ihre gewonnenen Erfahrungen auf BoP-Märkte in unterschiedlichen Ländern ausweiten.
Werden Sie einheimisch
Das Entwicklungsmodell, das der Westen den armen Ländern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgezwungen hat, ist in weiten Teilen gescheitert. Traditionelle Gesellschaften wurden zerstört, Landflucht, Massenarbeitslosigkeit und extreme Armut nahmen überhand. Um an BoP-Märkten Erfolg zu haben, sollten Sie neue Wege beschreiten: Identifizieren Sie Stakeholder, die bisher nur als Randgruppen wahrgenommen wurden, z. B. radikale Umweltschützer, Obdachlose, Slumbewohner oder die arme Landbevölkerung. Finden Sie Lebensbereiche, in denen ein neues, nachhaltiges Geschäftsmodell einen wirklichen Gewinn für die betroffenen Menschen darstellt. Schicken Sie interkulturell geschulte Manager für längere Zeit dorthin, wo diese Menschen leben, damit sie sich ein Bild von deren Bedürfnissen machen und die Geschäftsidee auf ihre Machbarkeit überprüfen. Nach einer ersten Orientierung strukturieren Sie den Entwicklungsprozess: Organisieren Sie Dialoge mit den Stakeholdern, bilden Sie Arbeitsgruppen aus Geschäftsführern, F&E-Ingenieuren und Personalleitern und gründen Sie Organisationskomitees, an denen sämtliche Unternehmensbereiche beteiligt sind.
Vom Verbraucher zum Produzenten
Ob Portionsverpackungen, Mikrokredite oder NGO-Partnerschaften – schon eine ganze Reihe von Unternehmen hat die BoP-Märkte entdeckt und verkauft dort erfolgreich Produkte. Doch damit ist es nicht getan. Wir dürfen die Armen nicht nur als Kunden sehen, sondern müssen sie zu Partnern und Produzenten machen. Das gelingt nur, wenn wir ihre Lebensverhältnisse und ihre Kultur von Grund auf verstehen: Oft sind in indigenen Traditionen Produktideen zu finden, die den lokalen Ökosystemen perfekt angepasst sind. Zusammen mit den Menschen, Händlern und NGOs vor Ort müssen individuelle Lösungen erarbeitet werden, anstatt zu versuchen, bestehende einfach anzupassen. Es gilt, im Kleinen mit preiswerten Produkten für den Endverbraucher zu experimentieren, anstatt sich mit großen Plänen korrupten Institutionen und Politikern auszuliefern. Setzen Sie auf soziales Kapital und Vertrauen, nicht auf rechtliche Verträge und Markenschutz: Letztere sind in BoP-Märkten nichts wert, während Erstere im Übermaß vorhanden sind.
„Die Nachhaltigkeit ist die Kirche des 21. Jahrhunderts, die wir gemeinsam errichten müssen. Es gibt kein wichtigeres Ziel, keine noblere Gesinnung und keine bessere Geschäftschance.“
Multinationale Konzerne sollten ihre Kräfte nicht mit dem Kampf gegen Produktpiraterie verschwenden, sondern Produkte anbieten, die die Menschen sich leisten können. Schlechte Infrastruktur und mangelhafte zentrale Institutionen oder Rechtsgrundsätze sind nur bei einer konventionellen Geschäftsexpansion von Nachteil. Wenn Sie aber Vertrauen zu lokalen Gemeinden aufbauen, können Sie diese Rahmenbedingungen zu einem Wettbewerbsvorteil ausbauen, der sich nicht so leicht kopieren lässt.
So erschließen Sie die BoP-Märkte
In der Eröffnungsphase eines Projekts lebt ein Team aus fünf bis sieben Mitarbeitern und Entwicklungsexperten vor Ort und identifiziert die Bedürfnisse der dortigen Bevölkerung. Anschließend wird in Verbindung mit lokalen Partnern das Geschäftskonzept entwickelt. Erste Pilottests mit einem Schwerpunkt auf der gegenseitigen Wertschöpfung werden durchgeführt und langsam erweitert. Das Ergebnis ist ein Netzwerk aus lokal integrierten Unternehmen, das auch auf BoP-Märkte in anderen Ländern ausgeweitet werden kann.
„Sollte die Wirtschaft wirklich versagen und ihr Ziel nicht erreichen, dann stehen uns ein ökologischer Zusammenbruch, globaler Terrorismus und ein geopolitischer Super-GAU bevor.“
Gründen Sie einen separaten Investmentfonds für BoP-Märkte, der sich unabhängig von den Kosten- und Gewinnvorgaben Ihres Unternehmens entwickeln darf. Überdenken Sie die Kostenstruktur: Damit arme Menschen sich Ihre Produkte leisten können, müssen Sie Ihre Kosten um ca. 10 % senken. Das gelingt, indem Sie in personalintensive statt in kapitalintensive Unternehmungen investieren. Formulieren Sie neue und außergewöhnliche Ziele, legen Sie die Strategie fest, entwerfen Sie die notwendigen Strukturen und Prozesse und integrieren Sie ganzheitliches, nachhaltiges Denken auf sämtlichen Unternehmensebenen. An Nachhaltigkeit orientierte Mitarbeiter sollten alle Freiheiten und Ressourcen erhalten, die nötig sind, um diese wichtigste Aufgabe der Menschheit zu erfüllen.