Betrachtungen eines Unpolitischen

Buch Betrachtungen eines Unpolitischen

Frankfurt am Main, 1918
Diese Ausgabe: S. Fischer,


Worum es geht

Thomas Manns es­say­is­tis­ches Schlüsselwerk

Thomas Mann wäre 1914 wohl am liebsten selbst in den Schützengraben gestiegen, hätte man ihn nicht aus­ge­mustert. So leistete er stattdessen Kriegs­di­enst mit der Feder. Die Arbeit am Zauberberg blieb liegen, und Mann verschrieb sich bis 1918 ganz den Be­tra­ch­tun­gen eines Un­poli­tis­chen. Wegen einiger kriegse­upho­rischer Aufsätze gemieden, wagte er sich in der Einsamkeit auf abwegige geistige Pfade. Die Be­tra­ch­tun­gen sind aufgrund ihrer Kriegsverklärung und der radikalen Ablehnung der Demokratie bis heute höchst umstritten. Das Werk enthält auch persönlichen Zündstoff. Äußerst stre­itlustig kritisiert Mann seinen Bruder Heinrich als op­por­tunis­tis­chen „Zivil­i­sa­tion­slit­er­aten“. Das führte zum Bruch der Brüder. Die Be­tra­ch­tun­gen sind aber mehr als eine kon­ser­v­a­tive Stre­itschrift. Das Werk wurde Mann, der nach 1918 vom Monar­chis­ten zum Re­pub­likaner mutierte, oft als Verirrung vorgeworfen. Wohl sind viele Ansichten, die er im Buch vertritt, überholt. Wenn das politisch Unkorrekte allerdings als lit­er­arische Polemik verstanden wird, erhält es selbst heute frap­pierende Aktualität. Das Vergnügen der Lektüre sollte keineswegs nur Germanisten vorbehalten sein.

Take-aways

  • Die Be­tra­ch­tun­gen eines Un­poli­tis­chen sind das weltan­schauliche Schlüsselwerk von Thomas Mann.
  • Inhalt: Auf 640 Seiten räsoniert Mann über Deutschland im Krieg und über seine eigene (un)politische Haltung als Künstler. Er recht­fer­tigt seine Kriegs­begeis­terung, kritisiert die dogmatische Haltung der Demokraten und den Radikalis­mus Frankreichs, er verteidigt das Deutschtum und greift seine Kritiker scharf an. Der ausufernde Essay gibt Auskunft über Manns Ansichten zu Politik, Kultur und Religion.
  • Das Werk gilt als the­o­retis­che Grundlage der „Kon­ser­v­a­tiven Revolution“ in der Weimarer Republik, von der sich Mann aber ab 1922 dis­tanzierte.
  • Wegen der an­ti­demokratis­chen Polemik und des Lobs der Monarchie sowie des Kriegs gelten die Be­tra­ch­tun­gen als Verirrung des Romanciers.
  • Als Künstler­schrift und lit­er­arischer Essay haben die dif­feren­zierten Gedanken jedoch bleibenden Wert.
  • Das Buch führte zum Bruch zwischen Thomas Mann und seinem demokratisch und paz­i­fistisch eingestell­ten Bruder Heinrich, der es nie las.
  • Mit rhetorischen Mitteln verquickt Mann in den Be­tra­ch­tun­gen ver­schieden­ste Themen und Stile auf einzi­gar­tige Weise.
  • Thomas Mann zelebriert das Zitieren, indem er mehr als 4000 Zitate einfügt – diese stammen vor allem von seinen Kritikern, aber auch von Nietzsche, Schopen­hauer, Goethe und Dostojewski.
  • Die Au­seinan­der­set­zung mit Krieg, Kunst, Religion und Vaterland war für Mann ein Weg, der Isolation und Einsamkeit zu begegnen.
  • Zitat: „(…) Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivil­i­sa­tion, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“
 

Zusammenfassung

Stre­itschrift eines Künstlers

Im Ersten Weltkrieg kämpft Thomas Mann am Schreibtisch, er leistet nach eigenem Verständnis pa­tri­o­tis­chen Wehrdienst, indem er eine „Künstler­schrift“ erstellt. Jedes lit­er­arische Kunstwerk wäre durch Be­tra­ch­tun­gen dieser Art überladen worden. Eine öffentliche Au­seinan­der­set­zung des Künstlers mit der Zeitenwende in Europa ist aber un­ver­mei­dlich. Der Weltkrieg der Entente-Mächte Frankreich, England und Russland gegen Deutschland ist auch ein Konflikt der Weltan­schau­un­gen. Die Ideale von Demokratie, Fortschritt und Freiheit werden als Deckmantel für eine deutschfeindliche Politik missbraucht. Der Krieg ist eine Verschwörung der Zivil­i­sa­tionsmächte gegen das Deutschtum. Das Pathos der Welt­demokratie entspricht nicht dem kon­ser­v­a­tiven und un­lit­er­arischen ger­man­is­chen Wesen. Die Demokratie kann Deutschland nicht mit Parolen einget­richtert werden. Zu stark ist hierzulande der Protes­tantismus, ein ewiger Protest gegen alles Lateinische und gegen den Geist des Westens. Der Krieg von 1914 ist nur ein weiterer Ausbruch des deutschen Trotzes gegen die Übermacht der Aufklärung und ihre geballte Rhetorik der Freiheit.

Literaten im un­lit­er­arischen Land

In Deutschland, dem geistigen Schlacht­feld Europas, finden sich trotz allem Anhänger der lit­er­arischen Zivil­i­sa­tion: Der „Zivil­i­sa­tion­slit­erat“ ist ein radikaler Freund Frankreichs, er kämpft für den Anschluss Deutsch­lands an das Imperium der Demokratie. Selbstekel und Bewunderung der Feinde sind typisch für ihn. Viele deutsche In­tellek­tuelle bejubeln den Fortschritt. Doch die Demokratisierung Deutsch­lands bedeutet seine „Ent­deutschung“. Die Philosophen Schopen­hauer und Nietzsche sowie der Komponist Wagner waren Künstler von europäischem Rang. Ihr Deutschtum und ihr Na­tion­al­is­mus un­ter­schei­den sich vom plumpen französischen Re­pub­likan­er­tum. Das Werk dieser drei Meister ist ein überdeutsches Geis­te­ser­leb­nis; gle­ichzeitig ernst und kritisch, ironisch und erotisch. Sie waren wahre Künstler – und nicht Literaten, deren Attitüde aufgesetzt ist.

Bürg­er­lichkeit und Bourgeoisie

Die deutsche Bürg­er­lichkeit ist anders als jene Frankreichs. Sie verbindet Gegensätzliches und ermöglicht so selbst bürgerliches Künstlertum. In der deutschen Kunst ist das Handwerk, das Wesen als Ausdruck des Lebens wichtiger als die Wirkung. Die deutsche Humanität wider­spricht der Poli­tisierung fundamental. Die Demokratie in Deutschland existiert nur in der Presse. Deutsche Künstler sind wohl national gesinnt, aber unpolitisch. Schopen­hauer und Nietzsche standen Staat und Politik stets skeptisch gegenüber, oft waren sie politisch unkorrekt. Schopen­hauer war zwar ein Aristokrat des Geistes und ein Chauvinist der Sprache, niemals aber staatsgläubig. Der deutsche Bürger entspricht nicht dem Bourgeois, der Losungen „à la lettre“ befolgt. Selbst im Mil­i­taris­mus Deutsch­lands stecken Seele und his­torisches Schicksal. Deshalb konnte sich Thomas Mann auch für den Krieg begeistern und ließ sich 1914 ganz menschlich – und deutsch – von der Welle mitreißen. Es gibt ein Recht auf Pa­tri­o­tismus. Obwohl es vielleicht ein Fehler war, sich vom Kriegs­geschrei anstecken zu lassen, ist dies doch dem rechthaberischen Moralismus der Literaten vorzuziehen, die stets auf der richtigen Seite der Geschichte sein wollen.

Replik an zwei Angreifer

Zwei Schrift­steller haben Mann nach dessen pa­tri­o­tis­chen Kriegsaufsätzen heftig kritisiert: Romain Rolland sowie Thomas Manns Bruder, der Zivil­i­sa­tion­slit­erat. Der französische Schrift­steller Rolland hat vom Deutschsein nichts begriffen. Die französische Zivil­i­sa­tion ist nicht per se besser als die deutsche Kultur. Die Vernunft mag auf der Seite der Franzosen sein, doch die Kunst bleibt frei. Sie darf sogar für Deutschland Partei ergreifen. Der Schrift­steller darf sich das Recht her­aus­nehmen, stets nach neuer Wahrheit zu suchen, witzig und provozierend. Für Deutschland ist der Krieg ein Be­freiungss­chlag aus purer Not. Als Kriegspartei ist Frankreich keineswegs so unschuldig wie die Ideale der Demokratie, die es ins Feld führt. Jeder europäische Krieg war stets ein Bruderkrieg. Die infame Kritik des Zivil­i­sa­tion­slit­er­aten, dessen Name nicht genannt werden soll, trifft schmerzlich, weil sie von einer Mann na­h­este­hen­den Person kommt. Doch Mann lässt sich nicht als früh verdorrter Streber und Schmarotzer betiteln, weil er selbst sein härtester Kritiker ist. Der verknöcherte Schul­meis­ter ist der Zivil­i­sa­tion­slit­erat. Es ist leicht, sich dem dominanten Fortschrittsop­ti­mis­mus anzuschließen und von der Kanzel herab Moral zu predigen. Die Ver­leum­dun­gen des Zivil­i­sa­tion­slit­er­aten haben dessen Men­schlichkeit mehr geschadet als Manns eigener.

Politik und Dichtung

Politik scheint das Gegenteil von Ästhetizis­mus zu sein. Dichter sind Ästheten, ihre Weltan­schau­ung ist von Skepsis und Ehrfurcht geprägt. Der Politiker dagegen ist ein Voluntarist des Geistes. Er will Wahrheit, Gleichheit und Glück um jeden Preis. Auch der Zivil­i­sa­tion­slit­erat ist ein Politiker, da er seine Kunst in den Dienst der Demokratie stellt. Sein Ziel ist der Triumph der Demokratie, die Glücksgarantie für alle. Doch das renitente Deutschland will sich zu diesem Glück nicht zwingen lassen. Der deutsche Volksstaat ist organisch gewachsen. Na­tion­alkul­tur ist mehr als bloße Zivil­i­sa­tion: Die Nation ist nicht nur sozial, sondern auch meta­ph­ysisch, so wie der Mensch nicht nur Individuum, sondern auch Persönlichkeit ist.

„(...) und nicht Staat und Wehrmacht waren es, die mich einzogen, sondern die Zeit selbst: zu mehr als zweijährigem Gedank­en­di­enst mit der Waffe (...)“ (S. 11)

Politische Meinungen sind wertlos. Sie liegen auf der Straße, wo sie sich jeder Trottel aneignen kann. Politik kann nicht die Probleme des Lebens lösen. Aufklärung und Freiheit sind kein Garant für persönliches Glück. Ein Deutscher kann Nationalist sein, bleibt aber im Grunde immer unpolitisch. Die Demokratie ist undeutsch, weil sie heute gle­ichbe­deu­tend mit der Politik selber ist. Was die Mehrheit will, muss nicht zwangsläufig gut für die Masse sein: Der Volkswille ist nicht automatisch das Volkswohl. Eine Demokratie kann ihrem eigenen Untergang zustimmen; Stimmenzählen ist daher nicht der allein selig machende Weg. Aris­tokratis­che Auslese und Volkstümlichkeit haben ihre Vorteile. Für die Demokraten bilden Geist und Macht eine Antithese. Der Zivil­i­sa­tion­slit­erat kritisiert die Macht und ruft zur Revolte auf. Deutsche Satire, also die Selb­stkri­tik der Nation durch ihre Schrift­steller, ist besonders schnöde, weil der Selbstekel in Deutschland so ausgeprägt ist.

Dünkelhafter Irrglaube

Der politische Kampf des Zivil­i­sa­tion­slit­er­aten für die Demokratie ist eigennützig. Er verspricht sich vom Fortschritt Einkünfte, da der kommende Beamten­staat für Ro­man­schrift­steller wie geschaffen ist. Demokratie ist ein Glaube. Freiheit wird als Ziel nur vorgeschoben, in Wahrheit wird wie in einer Sekte „entschlossene Men­schen­liebe“ gefordert. Ein Opfer des demokratis­chen Feldzugs ist die Musik, eine typisch deutsche Kunstform. Sie ist eine Kunst, die der Geist allein nicht erfasst. Sie ermöglicht ein göttliches Erlebnis. Der Weg zum Glück ist kom­plizierter, als es die simplen Rezepte der Zivil­i­sa­tionsmächte vorgeben. Gewal­tentren­nung garantiert kein höheres moralisches Niveau.

„Man ist nicht ein ,demokratis­cher‘ oder etwa ein ,kon­ser­v­a­tiver‘ Politiker. Man ist Politiker oder man ist es nicht. Und ist man es, so ist man Demokrat.“ (S. 32)

Der Zivil­i­sa­tion­slit­erat fürchtet eine Fremd­herrschaft durch deutsche Herren. Doch es wäre zu einfach, die Schuld am Krieg Tyrannen zuzuschreiben. Freiheit hat in Deutschland auch vor dem Krieg existiert. Der Zivil­i­sa­tion­slit­erat ist ein Nest­beschmutzer, der die Weltmeinung über Deutschland übernimmt und blind verficht. Die demokratis­chen Mächte sind allerdings verlogen: Ihr Im­pe­ri­al­is­mus im Namen der Demokratie enthält die hässlichsten Kriegssünden. Unter dem Vorwand der Weltverbesserung ist ein Han­del­skrieg um die Weltherrschaft im Gang. Der moralische Ma­te­ri­al­is­mus der Demokratie ist einseitig und doktrinär. Die geforderte Gleichheit aller drückt das Niveau der Menschheit. Diener der Mehrheit sind gefordert, Genies werden nicht geduldet. Im Übrigen ist das herrschende Volk durchaus zu scheußlichen Taten fähig.

Tugend und Tod

Der deutsche Mensch ist ein Taugenichts: lebensfroh, romantisch und unpolitisch. Ganz anders und undeutsch ist dagegen der Zivil­i­sa­tion­slit­erat, der den Jakobinern nacheifert und mit der Wahrheit verheiratet ist. Er meint es gut, doch seine Radikalität ist immer vom Dünkel begleitet. Aus Prinzip folgt er der Tugend, was aber keineswegs moralisch ist. Der Tugendbold hat vor lauter Tu­gend­haftigkeit seine Seele verloren. Was er übersieht: In Fragen der Seele und der Sit­tlichkeit ist kein Fortschritt möglich. Denn jeder technische oder demokratis­che Fortschritt fördert neue menschliche Übel zutage. Der Pfad der Tugend ist das Gegenteil der Sympathie mit dem Tod. Der höchste Genuss des Künstlers ist es, dem Requiem der Nation zu lauschen. Wie verräterisch dagegen ist der blinde Optimismus der Demokraten.

Men­schlichkeit nach Belieben

Die re­pub­likanis­che Parole „Mehr Men­schlichkeit!“ ist perfid. Niemand ist gegen Men­schlichkeit. Menschlich denken heißt aber immer unpolitisch denken. Dass die Aufklärung mehr Men­schlichkeit bringt, ist ein Mythos. Ein englischer Minister kann privat nett sein und trotzdem an der Spitze einer bösen Macht stehen. Ebenso ist die Menschenwürde unabhängig vom politischen System – eine freie Existenz ist nicht unbedingt würdiger als ein Leben in Knechtschaft. Selbst die Gräuel des Krieges sind menschlich. Der Dichter ist ein Men­schen­fre­und. Sein Blick ist scho­nungs­los, er teilt die Existenzen nicht in Klassen ein und hofft nicht auf politische Verbesserun­gen. Die Kriegskul­tur der Demokraten ist nicht weniger grausam als die deutsche. In Frankreich und Amerika werden Scheußlichkeiten wie die Folter kultiviert. Das Humanitäre ist nicht überall gleich dem Humanen. Man kann völlig würdelos Pazifist oder Kriegstreiber sein. Der Krieg ist ein Erlebnis der Freiheit. Mancher Soldat hat im Lazarett die Literatur entdeckt – und der Tod wird nicht schlimmer, nur weil er massenhaft geschieht. Schließlich kann jeder Mensch nur einmal sterben. Die Welt birgt auch im Frieden viel menschenunwürdiges Elend. Das Leben ist voller Widrigkeiten: Zeugungsakt, Geburt und Sterben können er­schreck­end sein. Die schlimmsten Verstümmelungen sind aber jene der Seele. Mit dog­ma­tis­chen Forderungen ist diesem Elend nicht beizukommen.

Glaube und Politik

Der politische Glaube an eine bessere Welt ist unanständig und selbstgefällig. Der Zivil­i­sa­tion­slit­erat ist ein gotischer Mensch, der fanatisch nur an den Glauben glaubt. In Wahrheit glaubt er an nichts außer an sein Ziel. Wichtiger jedoch als Überzeu­gun­gen ist der Zweifel. Wahrer Glaube ohne Grundsätze ist nur der Glaube an Gott. Der renitente Geist der Reformation macht gegen die Doktrin der Revolution immun. Die Freiheit an sich ist nichts. Sogar Verzwei­flung ist besser als der schönred­ner­ische Optimismus der Revolution. Es gibt keine Bestimmung zum Glück für die Menschheit. Der Weg zur Erlösung führt nur über demütige Arbeit an sich selbst. Die Freiheit der Religiosität ist es, ohne Ziel zu glauben, zu zweifeln und zu suchen. Irren gehört dazu – eine einzige Wahrheit gibt es nicht.

„Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivil­i­sa­tion, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivil­i­sa­tion, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ (S. 35)

Der Radikalis­mus der Demokraten ist schick, oberflächlich und insofern plötzlich ästhetisch. Der Politiker ist also ein Erzästhet, der gewissenlos und wirkung­shun­grig seine Ziele verfolgt. Die Ästheten­poli­tik aber ist antideutsch und exotistisch: Man glaubt viel eher an die Überlegen­heit der Fremde und an das Schöne der Ferne. Dabei hat die Verklärung der Grande Nation nichts mit Frankreichs wahrer Fratze zu tun. Poli­tisierte Kunst ist nicht das Gegenteil von ästhetizis­tis­cher Kunst. Auch dem Satiriker gefallen die Zustände, die er kritisiert, da sie ihm Vergnügen bereiten.

Ironie und Radikalis­mus

Der Denker steht vor der Wahl, entweder Ironiker oder Radikalist zu sein. Dazwischen gibt es nichts. Ironie ist erotisch und konservativ und steht dem Leben nahe. Radikalis­mus ist ni­hilis­tis­che Vergeis­ti­gung und in der Realität zu nichts zu gebrauchen. Den Gegensatz und Widerspruch zwischen Geist und Leben kann nur die Kunst überwinden. Sie ist sowohl radikal als auch konservativ. Man darf von der Kunst aber keine Wirkung verlangen. Sie kann zwar durchaus etwas bewirken, aber sie geht kaputt, wenn sie zum politischen Instrument verkommt.

„Ich war begeistert, ja. Aber nicht wie ein Patriotard oder di­en­steifriger Mitläufer begeistert ist, sondern begeistert von Historie, von psy­chol­o­gis­chem Wieder­erken­nen – und von unendlicher Sympathie.“ (S. 162)

Der Krieg geht weiter, wenn auch ein Waf­fen­still­stand verhandelt wird. Das Buch aber ist zu Ende und hat erklärt, warum Mann sich gegen die Demokratie und hinter Deutschland stellen musste.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Be­tra­ch­tun­gen eines Un­poli­tis­chen fallen im Gesamtwerk von Thomas Mann aus dem Rahmen. Sie sind das einzige große philosophisch-the­o­retis­che Werk des Romanciers, das er vollendete. Die 640 Seiten sind in zwölf Kapitel gegliedert, denen eine nachträglich geschriebene Vorrede vo­r­angestellt ist. Der Großessay beginnt als persönliche Recht­fer­ti­gung einer pa­tri­o­tis­chen Haltung. In der für Mann typischen Aus­druck­sweise voller Ironie und Eleganz wuchert die Prosa in alle Richtungen. Neben Ab­hand­lun­gen über Moral und Ästhetik steht Au­to­bi­ografis­ches; auf konkrete Kunstkritik folgt eine Philosophie der Politik. Obwohl Mann die Rhetorik kritisiert, derer sich der „Zivil­i­sa­tion­slit­erat“ bedient, entspricht sein Stil selbst einer glänzenden Rede. In den Be­tra­ch­tun­gen erklärt Mann meisterlich seine Grun­dauf­fas­sun­gen des Lebens als Künstler. Charak­ter­is­tisch für das Werk ist die immense Zahl von Zitaten. Das Zitieren wird geradezu als Kunst zelebriert. Mehr als 4000 Aussagen von rund 400 ver­schiede­nen Personen der Zeit­geschichte flicht Mann ein. In keinem anderen Werk aus seiner Feder kommen so viele Fremdtexte vor. Besonders oft zitiert er Nietzsche, Schopen­hauer, Goethe und Dostojewski sowie seine Kritiker, etwa Romain Rolland oder seinen Bruder Heinrich, dessen Name er aber nie nennt.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Be­tra­ch­tun­gen eines Un­poli­tis­chen sind die Vertei­di­gungss­chrift eines kon­ser­v­a­tiven Kriegsbefürworters, der sich für seine Ansichten recht­fer­tigt und seine Gegner kampfes­lustig angreift.
  • Im Zentrum steht der behauptete Gegensatz von Kultur und Zivil­i­sa­tion: Erstere sieht Mann in Deutschland, Letztere in Frankreich beheimatet. Diese Ar­gu­men­ta­tion reicht bis in die Romantik zurück und wurde auch noch in der Nazizeit gepflegt.
  • Mann polemisiert in der Stre­itschrift vor allem gegen seinen Bruder Heinrich, dessen Namen niederzuschreiben er aber ausdrücklich vermeidet. In der Folge kam es zum vorübergehenden Bruch zwischen den Brüdern. Heinrich, Vertreter von Demokratie und Pazifismus, hat das Buch nach eigener Aussage nie gelesen.
  • Der Bruderkrieg ist ein Schat­ten­boxen. Der „Zivil­i­sa­tion­slit­erat“, den Mann angreift, findet sich nicht nur im Bruder, sondern auch in ihm selbst. Hinter der Maske des Bruders versteckt sich alles Widrige der eigenen Existenz.
  • Mit seinen Gedanken über Politik und Kunst führt Mann einen Stel­lvertreterkrieg. Persönliche Fragen, wie etwa Manns große Lebenslüge, die Ho­mo­sex­u­alität, werden aus­geklam­mert.
  • Angefangen bei der bösen Kritik der Demokratie bis hin zur Hymne auf den Krieg erscheint Mann als konservativ und reaktionär. Wörtlich genommen sind eine Menge Aussagen zweifellos unhaltbar. Im Kontext der politisch unkorrekten lit­er­arischen Provokation bleiben viele Gedanken aber reizvoll.
  • Die Schrift ist das ehrgeizige Experiment eines Einsamen. In der aufgezwun­genen Isolation erschreibt sich der Denker und Dichter sein philosophis­ches Fundament neu.
  • Ein grundsätzlicher Selb­st­wider­spruch besteht darin, dass Mann zwar die Position des Un­poli­tis­chen in Anspruch nimmt und von der Kunst fordert, unpolitisch zu sein, dass er aber dieser Position in seinen zahlreichen Angriffen gegen seine Gegner ebenso wie in seiner Bejahung des Kriegs und der Monarchie nicht gerecht wird.

His­torischer Hintergrund

Deutsche Kriegs­begeis­terung vor dem Ersten Weltkrieg

Thomas Mann war nicht der einzige In­tellek­tuelle, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs von der Idee des Krieges begeistert war. Die Ide­al­isierung des Krieges war 1914 sowohl in Deutschland als auch in Frankreich weit verbreitet. Diese Begeis­terung wird in der Regel als Reaktion auf die Periode der Dekadenz gesehen. Der Krieg wurde als „läuternder Urkampf“ romantisch verklärt. Heroismus und Männlichkeitswahn erfuhren eine Blüte. In Deutschland, das seit 1871 unter Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. ein Obrigkeitsstaat war, wurde die Kriegse­uphorie durch die Isolation auf in­ter­na­tionalem Parkett und durch das Gefühl der Be­nachteili­gung verstärkt. Das Deutsche Reich hatte im im­pe­ri­al­is­tis­chen Wettrennen den Start verpasst. Vielen Deutschen galt der ersehnte und erwartete Sieg über Frankreich als einzige Chance für das scheinbar zu kurz gekommene Land, seinen Platz an der Sonne zu erkämpfen. Die Kriegs­begeis­terung erreichte in Deutschland im so genannten „Au­guster­leb­nis“ 1914 ihren Höhepunkt. Ganze Schulk­lassen meldeten sich freiwillig, um auf dem Feld der Ehre fürs Vaterland zu sterben. Mit blu­mengeschmückten Bajonetten rückten die Soldaten ein und wurden dabei von Men­schen­massen bejubelt. Umstritten ist, wie viel von dieser Kriegse­uphorie inszeniert war und wie stark tatsächlich breite Bevölkerungskreise von ihr erfasst wurden.

Entstehung

Im August 1914 stimmte Thomas Mann in das immer lauter werdende Lied der Kriegs­begeis­terung ein. Als Aus­ge­musterter wollte er wenigstens Kriegs­di­enst mit der Feder leisten und schrieb im Herbst 1914 mehrere Aufsätze: Gedanken im Kriege, Gute Feldpost und Friedrich und die große Koalition. Mit diesen Schriften machte er sich bei paz­i­fistis­chen Beruf­skol­le­gen unbeliebt. Sein älterer Bruder Heinrich Mann stellte sich in seinem Essay Zola gegen Thomas. Den zuvor un­ter­schwelli­gen Bruderzwist trugen die beiden fortan in aller Öffentlichkeit aus.

Die Be­tra­ch­tun­gen eines Un­poli­tis­chen entstanden in der Zeit von Herbst 1914 bis Frühjahr 1918, also quasi während der gesamten Kriegsdauer. Mann wollte nicht von Anfang an ein so dickes Buch schreiben, doch das Projekt begann ihn mehr und mehr zu vere­in­nah­men, sodass ein mon­u­men­tales politisches Grund­satzw­erk entstand. 1915 mühte sich Mann ab, die Arbeit am Zauberberg vo­ranzutreiben – vergeblich. Weil seine Kritiker harsche Briefe an seine Adresse verfassten, blieb sein Bedürfnis nach Recht­fer­ti­gung zu den Kriegs­fra­gen lebendig. Thomas Mann war während des Krieges einsam. Gerade 40 geworden, fesselte ihn zudem sein Ehrgeiz, deutscher Na­tionaldichter zu werden, an die Be­tra­ch­tun­gen, sodass er bis 1918 fast ausschließlich an dem Werk arbeitete. Das Konzept wurde mehrmals verändert, Fassungen un­ter­schiedlich­sten Stils überlagerten einander. Obwohl Mann immer wieder von Krankheiten und Ner­venkrisen behindert wurde, war Ende 1917 der größte Teil der Be­tra­ch­tun­gen fertig. Die letzten Ergänzungen fügte er im Februar 1918 ein. Mitte März schickte er das Werk an den Verlag und Ende September hielt der Autor die ersten gedruckten Exemplare in Händen, wenige Wochen vor dem Ende des Kriegs.

Wirkungs­geschichte

Als Deutschland am 11. November 1918 ka­pit­ulierte, waren die Be­tra­ch­tun­gen bereits erschienen. Thomas Mann spielte in einer schlaflosen Nacht mit dem Gedanken, das Werk erst posthum zu publizieren, doch der Verlag schmetterte dieses Ansinnen klar ab. Der Absatz war nicht berauschend, aber konstant. Bis Mitte der 1920er Jahre wurden in 24 Auflagen knapp 25 000 Exemplare aus­geliefert. Während der Weimarer Republik und der Nazizeit wurde das Buch nicht neu aufgelegt und geriet fast in Vergessen­heit. Mann selbst kam die Vernachlässigung seines „Stiefkinds“ wohl gelegen. Er billigte jedoch kurz vor seinem Tod eine Neuauflage. Übersetzt wurden die Be­tra­ch­tun­gen zu Manns Lebzeiten nie. Bis heute werden sie hauptsächlich von bekennenden Thomas-Mann-Fans und von Germanisten gelesen. Nach dem Erscheinen wurde das Buch im re­pub­likanis­chen Frankreich, mit dem Mann hart ins Gericht geht, natürlich sehr feindselig besprochen. In Großbritannien war die Stimmung weniger ablehnend, die Rezeption konzen­tri­erte sich jedoch auf wenige Sätze zur Frage der Kriegss­chuld.

Heinrich Mann schrieb im Januar 1918 an seinen Bruder, dass er das Buch nicht lesen werde. Die Be­tra­ch­tun­gen gelten als eine Art Grund­la­gen­werk für die so genannte „Kon­ser­v­a­tive Revolution“ während der Weimarer Republik, die als Alternative zur Demokratie einen autoritären Obrigkeitsstaat forderte. Mit der Kehrtwende, die Mann vollzog, als er sich 1922 in seiner Rede Von deutscher Republik zu selbiger bekannte, dis­tanzierte er sich von der „Kon­ser­v­a­tiven Revolution“, stellte jedoch die Be­tra­ch­tun­gen als Ganzes nicht infrage. Für die zweite Auflage von 1922 nahm Mann eine Reihe von Kürzungen vor, schönte dabei allerdings nicht etwa die an­ti­demokratis­chen Passagen, sondern ließ vielmehr eine Portion Polemik gegen Romain Rolland und seinen Bruder Heinrich weg.

Über den Autor

Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Er ist der zweite Sohn einer großbürgerlichen Kauf­manns­fam­i­lie, sein älterer Bruder Heinrich wird ebenfalls Schrift­steller. Thomas hasst die Schule und verlässt das Gymnasium ohne Abitur. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1894 nach München, dort arbeitet Mann kurzfristig als Volontär bei einer Feuerver­sicherung. Als er mit 21 Jahren volljährig ist und aus dem Erbe des Vaters genug Geld zum Leben erhält, beschließt er, freier Schrift­steller zu werden. Er reist mit Heinrich nach Italien, arbeitet in der Redaktion der Satirezeitschrift Sim­pli­cis­simus und schreibt an seinem ersten Roman Bud­den­brooks, der 1901 erscheint und ihn sofort berühmt macht. Der Lit­er­aturnobel­preis, den er 1929 erhält, beruht vor allem auf diesem ersten Buch – Mann, nicht uneitel, erwartet die Ausze­ich­nung allerdings schon 1927. Trotz seiner ho­mo­ero­tis­chen Neigungen heiratet er 1905 die reiche Jüdin Katia Pringsheim. Sie haben sechs Kinder, darunter Klaus, Erika und Golo Mann, die ebenfalls als Schrift­steller bekannt werden. Weil Thomas den Ersten Weltkrieg zunächst befürwortet, kommt es zwischen ihm und seinem Bruder Heinrich zum Bruch, der mehrere Jahre andauert. 1912 erscheint die Novelle Der Tod in Venedig, 1924 der Roman Der Zauberberg. In den 1930er Jahren gerät er ins Visier der Na­tion­al­sozial­is­ten, gegen die er sich in öffentlichen Reden ausspricht; seine Schriften werden verboten. Nach der Machter­grei­fung Hitlers kehrt er von einer Vor­tragsreise nicht mehr nach Deutschland zurück. Zunächst leben die Manns in der Schweiz, 1938 emigrieren sie in die USA, 1944 nimmt Mann die amerikanis­che Staatsbürgerschaft an. 1947 erscheint Doktor Faustus, eine lit­er­arische Au­seinan­der­set­zung mit der Naz­i­herrschaft. Nach dem Krieg besucht Thomas Mann Deutschland nur noch sporadisch; die von ihm vertretene Kollek­tivschuldthese verschafft ihm nicht nur Anhänger. Als die Manns 1952 nach Europa zurückkehren, gehen sie wieder in die Schweiz. Thomas Mann stirbt am 12. August 1955 in Zürich.