Die Geheimnisse von Paris

Buch Die Geheimnisse von Paris

Paris, 1842/43
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Der Dschungel der Großstadt

Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris entführt den Leser in die elenden Ar­beit­er­vier­tel von Paris in der Mitte des 19. Jahrhun­derts: in die schicken Salons der adligen Oberschicht, wo sich familiäre Dramen abspielen, während um jeden Preis die Fassade gewahrt werden muss, und in die schmutzigen Spelunken, wo sich die Verbrecher der Stadt treffen, um finstere Pläne zu schmieden. Dem Autor war daran gelegen, seinen Lesern die Barbarei direkt vor ihren Augen, im Dschungel der Großstadt, zu zeigen und zugleich auf die him­melschreien­den Un­gerechtigkeiten hinzuweisen, mit denen die Pariser Un­ter­schicht tagtäglich kon­fron­tiert war. Dieser Notlage begegnet er im Roman zum einen mit praktischen Vorschlägen, wie das Leid der Arbeiter gemindert und das Strafrecht verbessert werden könnte. Zum anderen lässt er seinen beinahe gottgle­ichen Helden Rudolf das Los der Armen lindern und die Bösen strafen. Sues Engagement für die Schwachen, aber auch die facetten­re­ichen Einblicke in eine Gesellschaft zu Beginn der In­dus­tri­al­isierung, das sind die Zutaten, die Die Geheimnisse von Paris bis heute zu einer mitreißenden Lektüre machen.

Take-aways

  • Die Geheimnisse von Paris war der erste Fort­set­zungsro­man in einer französischen Tageszeitung und hatte enormen Einfluss auf das Genre des Aben­teuer­ro­mans.
  • Inhalt: Rudolf von Gerolstein, ein deutscher Adliger, begibt sich inkognito in die Gassen von Paris, um den armen, aber redlichen Einwohnern zu helfen und ungesühnte Verbrechen zu rächen. Dabei trifft er durch Zufall und ohne sie zu erkennen auf seine tot geglaubte Tochter Marie, die er vor Pros­ti­tu­tion und Elend rettet.
  • Das Werk war seinerzeit eine neuartige Mischung von Abenteuer- und Sozialroman.
  • Sue präsentiert in Die Geheimnisse von Paris seine sozial­is­tis­chen Ideen und liefert Beispiele für seine Re­for­mvorschläge.
  • Reaktionen aus Leser­briefen auf die einzelnen Episoden ve­r­ar­beit­ete er direkt im weiteren Geschehen.
  • Das Konstrukt der Un­der­cov­er­ermit­tlung und das Bild der Großstadt wurden von zahlreichen anderen Romanciers aufge­grif­fen.
  • Einige der von Sue geforderten Sozial­re­for­men wurden nach der Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion von 1848 ver­wirk­licht.
  • Sue zählte im 19. Jahrhundert zu den meist­ge­le­se­nen französischen Autoren.
  • Heute wird dem ausufernden Romanwerk allgemein eine eher geringe lit­er­arische Qualität bescheinigt.
  • Zitat: „Die Gerechtigkeit sollte in der einen Hand ein Schwert und in der anderen Hand eine Krone halten; das erste, um die Bösen zu strafen, die zweite, um die Guten zu belohnen.“
 

Zusammenfassung

Der fremde Retter

Im Jahr 1838, in den übel beleumdeten Gassen der Altstadt von Paris: Ein Mann, der sich Rudolf Durand nennt, rettet die junge Pros­ti­tu­ierte Marie vor einem Übergriff. Das Mädchen, das offenbar aus einem reichen Elternhaus stammt, muss sich allein durchs Leben schlagen, seit es von seiner Mutter verlassen worden ist. Rudolf ist tief beeindruckt, als er erkennt, dass Marie sich trotz ihres kriminellen Umfelds ein reines Herz bewahrt hat. Er beschließt, ihr zu helfen, und bringt sie auf dem Hof einer Bekannten, Madame Georges, unter, wo sie fortan ein behütetes Leben führen soll.

„Am 13. Dezember 1838, einem reg­ner­ischen, kalten Abend, überquerte ein athletisch gebauter Mann in schlechter blauer Bluse den Pont-au-Change und drang in die Cité, die Altstadt mit ihrem Labyrinth finsterer enger, gewundener Gassen, das sich vom Jus­tiz­palast bis zur Notre-Dame erstreckt.“ (über Rudolf, S. 11)

Auch Madame Georges ist vor Jahren von Rudolf gerettet worden: Sie war vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen, der den gemeinsamen Sohn Germain entführt hatte und dann ins Gefängnis gekommen war. Nach seiner Flucht aus dem Gefängnis veränderte er sein Aussehen und lebte unter dem Spitznamen Schul­meis­ter in Paris, wo er zusammen mit der Eule, einer gemeinen alten Frau, bei der auch Marie als Kind lebte, seinen finsteren Machen­schaften nachging. Von Germain fehlt jede Spur.

Die Rache am Schul­meis­ter

Rudolf stellt dem Schul­meis­ter eine Falle. Er hält Gericht über ihn, lässt den Verbrecher von einem Gehilfen blenden – und schickt ihn dann mit einer größeren Geldsumme fort. Der Schul­meis­ter soll als Blinder Zeit finden, seine Verbrechen zu bereuen. Doch stattdessen schließt er sich schon bald wieder mit der Eule zusammen, um neue Taten zu planen.

„Das knochige, stark gebräunte, runzelige Gesicht der Alten mit der Hakennase drückte wilde und hämische Freude aus. Ihr gelblichgrünes Auge funkelte wie glühende Kohle; ein spöttisches und ab­scheuliches Grinsen zog ihre von langem Haar beschattete Oberlippe zurück und entblößte drei oder vier lange gelbe Zähne.“ (über die Eule, S. 436)

Rudolf mietet das Zimmer, das Germain zuletzt bewohnt hat, um mehr über dessen Aufen­thalt­sort zu erfahren. Nebenan wohnt ein Mädchen namens Lachtaube, eine langjährige Freundin von Marie; sie ist offenbar die Einzige, die weiß, wo sich Germain zurzeit aufhält. Im Haus lebt außerdem eine arme Familie namens Morel sowie ein geheimnisvoller Arzt, in dem Rudolf seinen früheren Lehrer Abbé Polidori wieder­erkennt, der eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hat.

Rudolfs Geschichte

Rudolf ist der Thronfolger des Herzogtums von Gerolstein. Seine Kindheit verbrachte er unter der Obhut des englischen Edelmannes Murph auf einem Landgut, später übernahm der hinterhältige Abbé Polidori seine Erziehung. Während seiner Jugend kamen die schot­tis­chen Geschwister Tom und Sarah an den Hof: Sarah wollte um jeden Preis Rudolfs Frau werden, da ihr eine Wahrsagerin geweissagt hatte, dass sie einmal eine Krone tragen würde. Die beiden Gäste verbündeten sich mit Polidori, und tatsächlich gelang es Sarah, Rudolf zu verführen. Als sie schwanger wurde, wollte sie ihn zur Hochzeit zwingen. Sein Vater verbot die Verbindung, woraufhin der verliebte Rudolf ihn beinahe umbrachte. Wenig später fand er jedoch heraus, dass Sarah ihn nur wegen seines Titels wollte. Er trennte sich von ihr und heiratete eine preußische Prinzessin, während Sarah mit ihrem Kind nach Schottland ging und dort heiratete. Das Kind gab sie in die Obhut von Pflegeel­tern. Dort starb das Mädchen angeblich im Alter von fünf Jahren. Sowohl Sarahs Mann als auch Rudolfs Frau sind inzwischen verstorben. Rudolf macht sich noch immer schwere Vorwürfe, weil er sein Kind Sarah überlassen und sich mit seinem Vater zerstritten hat. Für diese Vergehen will er mit seinen guten Taten Buße tun.

Sarahs Intrigen

Die intrigante Sarah verfolgt Rudolf immer noch und stellt ihm bei seinen nächtlichen Abenteuern nach. Als sie bemerkt, dass die junge Clémence de Harville, die Frau eines engen Freundes von Rudolf, sich in diesen verliebt hat, spinnt sie einen hinterhältigen Plan: Damit Clémence in Rudolfs Ansehen sinkt, bringt sie die junge Frau dazu, sich mit einem anderen Mann zu treffen. Dann informiert sie Harville über die angebliche Affäre. Rudolf erfährt durch Zufall davon und rettet Clémences Ruf durch eine List. Seiner Meinung nach sucht die junge Frau nur eine Abwechslung von ihren familiären Problemen – ihr Mann und ihre Tochter leiden an Epilepsie. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, schlägt er ihr vor, seine Komplizin bei seinen wohltätigen Abenteuern zu werden. Gemeinsam wollen sie den Armen helfen und Übeltäter bestrafen.

„Können wir auf diese Weise dem Leser das rückwirkende Gefühl oder vielmehr die moralische Nachwirkung begreiflich machen, die Marie auf so grausame Weise empfand, dass sie so oft (...) bedauerte, nicht in dem Schmutz ihres früheren Lebens erstickt zu sein?“ (S. 537)

Derweil hat Tom in Sarahs Auftrag den Schul­meis­ter und die Eule angewiesen, Marie zu entführen. Sarah will alle Fre­und­schaften Rudolfs zerstören und ihn so zurück in ihre Arme treiben. Die beiden Entführer fahren zu dem Hof, auf dem Marie lebt, und können sie tatsächlich in ihre Gewalt bringen.

Notar Ferrand und seine Opfer

Viele der Spuren, die Rudolf verfolgt, scheinen zu dem nach außen hin untadeligen Notar Ferrand zu führen. Ferrand soll angeblich auch etwas über Maries Herkunft wissen, die damals von seiner Haushälterin an die Eule übergeben wurde. Die armen Morels haben hohe Schulden bei dem Notar, die sie wahrschein­lich niemals zurückzahlen können. Deswegen hat Ferrand die Forderung gestellt, dass die älteste Tochter Louise bei ihm arbeitet. Trotz dieser Vere­in­barung schickt Ferrand nun Männer, die Vater Morel verhaften und in den Schuldturm bringen sollen. Was die Eltern nicht wissen: Ferrand hat Louise erpresst, mit ihm zu schlafen, woraufhin sie schwanger wurde. Das Kind kam tot zur Welt.

„Oft treibt der Hunger zum Diebstahl oder die Rache zum Mord ... Aber dieser bereits reiche Notar, dieser Mann, der sich in den Augen der Gesellschaft einer fast priester­lichen Würde erfreut, der das Vertrauen so vieler Menschen genießt ... dieser Mann begeht seine Verbrechen aus kalt berech­nen­der Habsucht.“ (Rudolf über Ferrand, S. 845)

Rudolf beobachtet die Familie schon länger und greift nun ein: Er zahlt die Schulden. Um seine wahre Identität nicht preisgeben zu müssen, gibt er vor, das Geld stamme von einer reichen Gönnerin. Die Morels lässt er vorerst in seinem Zimmer wohnen und steigt durch diese Wohltat in der Gunst seiner neuen Nachbarin, der Lachtaube. Durch diese neue Fre­und­schaft findet er heraus, dass der ver­schol­lene Germain bei Notar Ferrand arbeitet. Wenig später wird Louise nach einem Hinweis Ferrands wegen Kindsmord verhaftet. Ferrand hat überdies Germain des Diebstahls bezichtigt, und dieser wird ebenfalls festgenom­men.

In Ferrands Kanzlei

In der Kanzlei des hinterhältigen Notars geht die gehobene Gesellschaft von Paris ein und aus. Auch Sarah sucht Ferrand auf. Sie glaubt, dass ihr Kind damals, nachdem es von Ferrand an Pflegeltern vermittelt wurde, gestorben ist, und ahnt nicht, dass Ferrand diesen Tod nur inszeniert hat, um die Leibrente des Kindes für sich zu beanspruchen. Nun plant Sarah, ein Mädchen im gleichen Alter wie ihre Tochter zu finden, das sie als ihr tot geglaubtes Kind ausgeben kann, um Rudolf zurück­zugewin­nen. Unterdessen versucht die Eule, Ferrand mit ihrem Wissen um Maries Herkunft zu erpressen. Ferrand gibt den Mord an Marie in Auftrag; er soll als Unfall inszeniert werden: Marie soll bei einer Bootsfahrt ertrinken.

„Der Mensch, dem nichts als Körperkraft, guter Wille und Gesundheit gegeben ist, hat ein Recht, ein unveräußerliches Recht auf angemessen bezahlte Arbeit, die ihm vielleicht nicht gerade den Überfluss, aber zumindest das Notdürftige und die Mittel sichert, gesund und stark, tätig und arbeitsam – folglich ehrlich und gut zu bleiben, weil er sich dann glücklich fühlen wird.“ (S. 1426)

Clémence will auf Rudolfs Rat hin ihrem Mann verzeihen. Sie hat ihn bisher verabscheut, weil er ihr vor der Hochzeit seine schwere Krankheit ver­schwiegen hatte. Harville missver­steht Clémences Ent­ge­genkom­men und hofft auf eine romantische Liebes­beziehung mit seiner Frau. Die macht ihm jedoch klar, dass sie ihm nur Mitleid und Fre­und­schaft anbieten kann. Er erkennt, dass sie ihn zwar nicht hin­ter­gan­gen hat, ihn aber nie lieben wird und längst starke Gefühle für Rudolf entwickelt hat. Um ihr ein neues Leben zu ermöglichen, begeht er Selbstmord, den er geschickt als Unfall tarnt.

Maries Odyssee

Die Eule und der Schul­meis­ter haben Marie als Pros­ti­tu­ierte verhaften lassen, damit sie sicher im Gefängnis verwahrt bleibt, bis Tom oder Sarah Verwendung für sie haben. Hinter Gittern hat sich Marie schnell einen Ruf als freundliche und herzensgute Seele erworben, die selbst hart­ge­sot­tene Kriminelle wie die Wölfin nach­den­klich macht und in ihnen den Wunsch nach Besserung hervorruft.

„Ich habe mir die Aufgabe gestellt, das Gute zu belohnen, das Böse zu verfolgen, die Leidenden zu unterstützen und alle Wunden der Menschheit aufzudecken, um vielleicht einige Seelen dem Verderben zu entreißen.“ (Rudolf, S. 1669)

Eines Tages besucht Clémence das Gefängnis, um dort einigen Frauen beizustehen. Sie trifft auf Marie, die der Eule versprechen musste, keinem Mitarbeiter der Justiz zu erzählen, wo sie herkommt und wer sie ins Gefängnis gebracht hat. Clémence gegenüber gilt dieses Versprechen nicht, also berichtet Marie von ihrem Retter und ihrer Entführung. Clémence erkennt, dass es sich bei Maries Retter um Rudolf handeln muss, und verspricht, sich für Maries Freilassung einzusetzen.

„Sagen wir es noch einmal: Diese enterbten Wesen, die Gott nicht schlechter und nicht besser geschaffen hat als seine anderen Geschöpfe, werden erst im Schmutz des Elends, der Un­wis­senheit und Verrohung, in dem sie sich von Geburt an herum­schlep­pen, zu un­verbesser­lichen und bis in das Mark ihrer Knochen verdorbenen Verbrechern.“ (S. 1857)

Wenig später taucht Ferrands Haushälterin im Gefängnis auf: Marie soll freige­lassen werden. Unter dem Vorwand, Marie zu Rudolf und Clémence bringen zu wollen, lockt die Haushälterin sie auf ein Boot, woraufhin das Mädchen ins Wasser gestoßen wird. Die Täter halten Marie für tot, doch sie wird durch Zufall von der Wölfin gerettet und von einem Arzt aufgenommen, der sie gesund pflegt. Derweil findet Sarah durch die Aussagen der Eule heraus, dass Marie ihre Tochter ist. Die Eule beschließt, Sarah auszurauben, und sticht sie nieder. Sarah wird so schwer verletzt, dass sie Rudolf nicht über die neue Erkenntnis informieren kann.

Hochzeit mit Lachtaube

Germain schreibt Lachtaube aus dem Gefängnis und vertraut ihr sein Hab und Gut an. Aus seinem Testament erfährt sie, dass er unsterblich in sie verliebt ist, es aber nie wagte, ihr seine Liebe zu gestehen. Lachtaube erkennt, dass auch sie Gefühle für Germain hat, und macht ihm schließlich bei einem Besuch im Gefängnis eine Liebeserklärung. Später, nach seiner Freilassung, die Rudolf erwirkt, erfährt Germain, dass seine Mutter, Madame Georges, ihn all die Jahre gesucht hat. Germain und Lachtaube heiraten und leben fortan zusammen bei seiner Mutter.

Ferrand fliegt auf

Rudolf setzt derweil seine Rachepläne in die Tat um: Er schleust die listige Cecily als angeblich völlig unbedarftes und un­schuldiges Hausmädchen bei Ferrand ein, der der hübschen Frau sofort verfällt. Cecily treibt ihren neuen Herrn mit ihrer verführerischen Art und immer neuen Ver­lock­un­gen in den Wahnsinn und bringt ihn schließlich dazu, seine Verbrechen zu gestehen und ihr sogar Beweise zu liefern.

„Und ich, teure Mutter, liebe den Prinzen Heinrich zu sehr und schätze ihn zu hoch, um ihm jemals eine Hand zu geben, die von den ver­wor­fen­sten Banditen der Cité berührt worden ist.“ (Marie zu Clémence, S. 1941)

Rudolf erfährt, dass Marie sich nicht mehr bei Madame Georges befindet und dass Ferrand sie hat ermorden lassen. Mit den von Cecily gelieferten Beweisen zwingt er Ferrand, den Morels eine Rente zu zahlen, sein Amt zu verkaufen und eine Stiftung einzurichten, die armen Arbeitern zinslose Darlehen gewähren soll. Auf diese Weise soll Ferrand seine Taten sinnvoller büßen als durch seinen Tod. Germain wird zum Geschäftsführer der Stiftung ernannt.

Die Erkenntnis

Sarah hat sich etwas erholt und bittet Rudolf zu sich: Sie erklärt ihm, dass ihre Tochter noch lebt und dass es sich dabei um Marie handelt. Rudolf ist schockiert – vor allem, weil er erst kürzlich von Maries Tod erfahren hat. Er macht sich sofort auf, um Ferrand doch noch umzubringen, doch als er den Notar antrifft, liegt dieser bereits im Sterben. Derweil findet Clémence heraus, dass Marie noch lebt. Als Rudolf die Nachricht hört, ist er überglücklich. Zusammen mit Clémence eilt er zu Marie und klärt sie über ihre Herkunft auf: Sie teilen ihr mit, dass sie eine Prinzessin ist. Rudolf wird klar, dass er Sarah heiraten muss, um Maries Geburt zu le­git­imieren. Sarahs Zustand hat sich jedoch ver­schlechtert: Sie bereut ihre Taten und stellt vor der Hochzeit nur die Bedingung, ihre Tochter noch einmal sehen zu dürfen. Rudolf und Sarah werden eiligst verheiratet, doch Sarah stirbt, bevor Marie eintrifft.

Kurzes Familienglück

Bald darauf reisen Rudolf, Marie und Clémence nach Deutschland ab. Nach der Heimkehr heiratet Rudolf Clémence. Schon kurz nach ihrem ersten Treffen hat er sich in sie verliebt. Marie bekommt den neuen Namen Prinzessin Amalie und findet sowohl unter den Adligen als auch unter den Untertanen viele Bewunderer. Sie beginnt zahlreiche wohltätige Projekte und lernt den charmanten Prinzen Heinrich kennen. Die beiden verlieben sich. Zwar sind ihre Familien mit der Verbindung ein­ver­standen, doch Marie schämt sich noch immer so sehr für ihre Ver­gan­gen­heit, dass sie beschließt, ins Kloster zu gehen. Alle Versuche von Rudolf und Clémence, sie davon zu überzeugen, dass sie keine Schuld an ihrer Schande trägt, scheitern. Sechs Monate später, kurz nachdem Marie ihre Gelübde abgelegt hat, stirbt sie.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Geheimnisse von Paris umfasst 16 Teile mit jeweils sechs bis 20 Kapiteln, die wiederum meist um die 20 Seiten beinhalten. Diese klein­teilige Gliederung ergibt sich aus der Veröffentlichungs­form: Das Werk war der erste französische Roman, der in Fort­set­zun­gen in einer Tageszeitung erschien. Auf insgesamt knapp 2000 Seiten entfaltet Eugène Sue ein de­tail­re­iches und farbenprächtiges Bild des Pariser Alltags Mitte des 19. Jahrhun­derts. Dazu führt er Dutzende Figuren aus den un­ter­schiedlich­sten Schichten ein und verwebt ihre Geschichten mit dem Haupthand­lungs­faden um Herzog Rudolf und seine verlorene Tochter – was manchmal ein wenig konstruiert wirkt. Im Verlauf des Romans wechseln sich dramatische Dialoge, hu­moris­tis­che Szenen und eher es­say­is­tis­che Abschnitte, in den Sue seine sozialkri­tis­chen Theorien ausführt, ständig ab. Sue versucht häufig, die Figuren durch eine möglichst au­then­tis­che Wiedergabe ihrer Sprache zu charak­ter­isieren – auffällig vor allem beim so genannten Rotwelsch, der Gauner­sprache. Das gelingt jedoch nur bedingt: Zu oft werden diese Versuche in nach­fol­gen­den Szenen nicht fortgeführt, wodurch das stilis­tis­che Konzept unaus­ge­goren und inkohärent wirkt. Grundsätzlich ist der Roman jedoch flüssig zu lesen und der Span­nungs­bo­gen wird bis zur letzten Seite aufrechter­hal­ten.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Autor Eugène Sue vergleicht seinen Roman im Vorwort mit berühmten Aben­teuer­ro­ma­nen seiner Zeit – nur dass Die Geheimnisse von Paris nicht wie andere Werke dieses Genres in fernen Ländern spielt, sondern sozusagen vor der Haustür des Lesers, in den dunklen Gassen von Paris, den Spelunken und Verstecken der Diebe und Mörder. Darüber hinaus verbindet das Werk Elemente des Krim­i­nal­ro­mans, des Gesellschaft­sro­mans und des Melodrams.
  • Die gesamte Geschichte kann als großes kon­stru­iertes Beispiel gelesen werden, das Sue nutzt, um seine gesellschaft­skri­tis­chen und utopisch-sozial­is­tis­chen Ideen vorzustellen. An vielen Punkten erörtert er konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Straf­sys­tems (Einführung der Einzelhaft, Gleichheit vor dem Gesetz, Abschaffung der Todesstrafe) und der sozialen Ein­rich­tun­gen (eine Bank für Arbeiter, Kostenübernahme für juristische An­gele­gen­heiten).
  • Sue sieht die Armut als Quelle des Verbrechens. Ihm zufolge muss jede Justiz, jedes Gesellschaftsmod­ell an dieser Stelle ansetzen, um die Verhältnisse zu verbessern: Jeder Mensch habe ein Recht auf Arbeit und faire Bezahlung, und der Staat habe die Aufgabe, dafür die Rah­menbe­din­gun­gen zu schaffen und den Bedürftigen zu helfen.
  • Die wichtigste Forderung, die für Sue aus dieser Grun­dan­nahme erwächst, ist die, dass eine Gesellschaft nicht nur das Böse bestrafen, sondern auch das Gute belohnen muss. Im Rahmen des Romans wird diese Forderung durch Rudolf erfüllt, der als gottgle­icher Retter den armen, aber rechtschaf­fe­nen Personen, die un­ver­schuldet im Elend leben, eine neue Perspektive eröffnet.
  • Grundsätzlich entwirft Sue ein negatives Bild der Stadt: Sie lässt mit ihrer Enge und den allgegenwärtigen Verbrechen die Menschen verrohen. Damit schuf er ein Bild der Großstadt, das zahlreiche spätere Romane bee­in­flusste. Diesem Elend setzt er ein verklärtes Bild des Landlebens entgegen, das die verdorbenen Seelen heilen und ihnen Ruhe schenken kann.

His­torischer Hintergrund

Frankreich zwischen Revolution und Restau­ra­tion

Im 18. Jahrhundert bildete sich in Frankreich ein selb­st­be­wusstes Bürgertum heraus, das die zahlreichen Vorrechte des Adels und die fortschre­i­t­ende Ver­schlechterung der Lebensumstände der unteren Schichten nicht mehr hinnehmen wollte. Die Kritik wurde vor allem von den Vertretern der Aufklärung formuliert und verbreitet, darunter Jean-Jacques Rousseau. Der Unmut über die Un­gerechtigkeiten war einer der Gründe für die Französische Revolution 1789, für die Abschaffung des Ancien Régime und für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Frankreich wurde zur kon­sti­tu­tionellen Monarchie. In der zweiten Phase der Revolution wurde die Monarchie ganz abgeschafft und König Ludwig XVI. wurde zum Tod verurteilt. Mit der Einsetzung von Maximilien de Robespierre als Vor­sitzen­dem des so genannten Wohlfahrt­sauss­chusses begann die Schreck­en­sh­errschaft: Politische Gegner und Rivalen, Adlige und Geistliche wurden unter Gen­er­alver­dacht gestellt und zu Tausenden hin­gerichtet. Nach dem Sturz Robe­spier­res 1794 fand die Tyrannei ein Ende. Die Regierung wurde von einem Rat, dem Direktorium, übernommen.

1799 führte Napoleon Bonaparte einen Staatsstre­ich durch und wurde Erster Konsul, 1804 erklärte er sich selbst zum Kaiser und begann einen beispiel­losen Er­oberungs­feldzug durch Europa. Erst die Schlacht bei Waterloo im Jahr 1815 besiegelte Napoleons Ende: Er wurde ins Exil nach St. Helena geschickt, und Frankreich wurde erneut eine kon­sti­tu­tionelle Monarchie. Im Jahr 1830 hob König Karl X. die Presse­frei­heit auf und änderte das Wahlrecht. Das führte zur Julirev­o­lu­tion, die vor allem von Jour­nal­is­ten, Juristen, dem Bürgertum und den Parisern getragen wurde. Der König wurde zur Abdankung gezwungen und durch den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe ersetzt. Die zunehmende In­dus­tri­al­isierung stellte die Regierung jedoch bald vor neue Her­aus­forderun­gen: Die Un­zufrieden­heit mit den Lebens- und Ar­beits­be­din­gun­gen der unteren Schichten sowie mit dem Zen­suswahlrecht führte im Jahr 1848 zur Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion, zu deren großen Erfolgen die gesetzliche Zusicherung des Rechts auf Arbeit sowie ein neues Wahlrecht zählten.

Entstehung

Als Eugène Sue zu Beginn der 1840er Jahre die Möglichkeit erhielt, einen Fort­set­zungsro­man für eine angesehene Pariser Tageszeitung zu schreiben, beschloss er, die Problematik der Verelendung des Pariser Pro­le­tari­ats in den Mittelpunkt des Romans zu stellen: Die Geheimnisse von Paris sollte die drängendsten sozialen Probleme seiner Zeit plastisch und nachvol­lziehbar darstellen. „Wir verfolgen einzig und allein die Hoffnung, die Aufmerk­samkeit der Denkenden und der aufs Gute Bedachten auf die großen sozialen Übelstände zu lenken“, schreibt er im Roman. Um seine Thesen zu belegen, führt er immer wieder Quellen an, u. a. Zeitungs­berichte, Studien und zeitgenössische Werke der praktischen Philosophie.

Die Geheimnisse von Paris erschien fast täglich als Fort­set­zungsro­man zwischen Juni 1842 und Oktober 1843 in der Tageszeitung Journal des Débats. Die Veröffentlichungszahlen der Zeitung ex­plodierten förmlich, schnell kamen erste Buch­fas­sun­gen auf den Markt und der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auch in Deutschland erschien das Buch gleich in mehreren Zeitungen als Fort­set­zungs­geschichte. Sue erhielt zahlreiche Zuschriften von begeis­terten Lesern und Kritikern. Die darin enthaltenen Vorschläge, aber auch Warnungen berücksichtigte er z. T. für die Fortsetzung des Romans.

Wirkungs­geschichte

Sues Roman hatte enormen Einfluss auf das Genre des Aben­teuer­ro­mans – kaum ein Romancier des späten 19. Jahrhun­derts, der nicht von ihm beeinflusst wurde. Besonders stark ist dieser Einfluss etwa in Der verlorene Sohn von Karl May zu spüren. Alexandre Dumas wurde durch Sues städtischen Aben­teuer­ro­man zu seinem Werk Die Mohikaner von Paris inspiriert. Die Figur des Rudolf von Gerolstein, der verkleidet und „undercover“ als Retter auftritt, lieferte außerdem die Blaupause für viele Helden in De­tek­tivro­ma­nen.

Heute wird dem Werk allgemein eine eher geringe lit­er­arische Qualität bescheinigt. Sue selbst war vor allem die politische und moralische Aussage seines Romans wichtig: Er war bereit, das Werk „gern und ohne Bedenken in künst­lerischer Hinsicht als ein schlechtes Buch“ gelten zu lassen, solange anerkannt wurde, dass es „in moralischer Hinsicht durchaus für ein gutes Buch zu halten sei, wie er im Roman schrieb. Wenn ihm auch von ver­schiede­nen Vertretern des Sozialismus sein melo­drama­tis­cher Stil und sein mangelndes Verständnis für die sozial­is­tis­chen Grundideen vorgeworfen wurde, erkannten sie doch die gelungene Darstellung der pro­le­tarischen Lebenswelt und Sues lobenswerte Absichten an. Friedrich Engels attestierte, dass „die ein­dringliche Art, in der dieses Buch das Elend und die De­mor­al­isierung darstellt, die in großen Städten das Los der ‚unteren Stände‘ sind, (...) notwendig die Aufmerk­samkeit der Öffentlichkeit auf die Lage der Armen im Allgemeinen lenken“ musste.

Über den Autor

Eugène Sue wird am 10. Dezember 1804 als Sohn eines angesehenen Arztes in Paris geboren. Er bricht mit 16 Jahren das Gymnasium ab und beginnt eine Lehre als Arzthelfer bei seinem Vater, um ab 1823 als Hil­f­schirurg am Spanien­feldzug teilzunehmen und später als Marinearzt zur See zu fahren. 1828 kehrt Sue nach Paris zurück, wo er seine ersten Artikel und kleine erzählende Texte für die Zeitschrift La Mode schreibt. Nach dem Tod seines Vaters, der ihm ein größeres Vermögen hinterlässt, führt Sue ab 1830 ein Leben als Dandy in der gehobenen Gesellschaft von Paris. Er veröffentlicht erste Romane, meist Seeromane, in denen er seine Erlebnisse bei der Marine aufgreift. Schon 1838 hat er sein Erbe fast aufge­braucht und versucht fortan, sich mit der Veröffentlichung neuer Werke zu finanzieren. Er verlegt sich auf die zu jener Zeit modischen Sit­ten­ro­mane und auf historische Romane. Zu Beginn der 1840er Jahre beginnt sich Sue mehr und mehr für soziale Themen zu in­ter­essieren: Er bekennt sich zum Sozialismus und beschäftigt sich vor allem mit den Problemen des neu ent­stande­nen Pariser Pro­le­tari­ats. Diese rückt er in den Mittelpunkt seines berühmtesten Romans Les mystères de Paris (Die Geheimnisse von Paris), der 1842/43 als Fort­set­zungsro­man erscheint. Weitere Fort­set­zungsro­mane folgen, wobei nur Le Juif errant (Der ewige Jude, 1844/45) ein ähnlich großer Erfolg beschieden ist. Sue engagiert sich weiter politisch und unterstützt die Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion von 1848. Zwei Jahre später wird er zum Ab­ge­ord­neten gewählt und ein Jahr darauf, nach dem Staatsstre­ich Napoleons III., kurzzeitig verhaftet. Sue zieht sich daraufhin nach Savoyen zurück, wo er 1856 sein um­fan­gre­ich­stes Werk, Les mystères du peuple (Die Geheimnisse des Volkes), vollendet. Nach einer Europareise stirbt Sue am 3. August 1857 in Annecy.