Der arme Heinrich

Buch Der arme Heinrich

in: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein

unbekannter Ort, um 1195
Diese Ausgabe: Deutscher Klassiker Verlag,


Worum es geht

Zwischen Weltflucht und Da­seins­freude

Die Wege des Herrn sind unergründlich. Das muss der Ritter Heinrich von Aue am eigenen Leib erfahren, denn obwohl er ein vor­bildliches Leben führt, wird er von Gott mit Aussatz geschlagen. Ist das eine Prüfung oder eine Strafe? Und soll er sich dem Willen Gottes durch das Angebot einer tiefgläubigen Jungfrau, sich für ihn zu opfern, entziehen? Mit Der arme Heinrich hat Hartmann von Aue einen Klassiker der mit­tel­hochdeutschen Literatur geschaffen, der um 1200 seines­gle­ichen suchte. Das Versepos ist gle­ichzeitig the­ol­o­gis­che Legende und rhetorisch geschultes Traktat der höfischen Kultur seiner Zeit. Die christliche Suche nach dem Seelenheil im Jenseits steht einer da­seins­be­ja­hen­den rit­ter­lichen Ethik gegenüber. Auf dem Höhepunkt prallen religiöse Ar­gu­men­ta­tion und weltliche Erotik in einer packenden Opfer­ungsszene aufeinander. Nicht zuletzt dieser Gegensatz ließ den Text besonders im 19. Jahrhundert äußerst populär werden und sorgte mit dafür, dass Der arme Heinrich bis heute einer der meist­ge­le­se­nen Texte der mit­te­lal­ter­lichen Literatur geblieben ist.

Take-aways

  • Der arme Heinrich ist das meist­ge­le­sene Werk des mit­te­lal­ter­lichen Dichters Hartmann von Aue.
  • Inhalt: Der tugendhafte Ritter Heinrich von Aue wird vom Aussatz befallen. Nur das freiwillig gegebene Blut einer Jungfrau kann ihn heilen. Als sich ihm tatsächlich ein Mädchen als Opfer anbietet, nimmt Heinrich zunächst freudig an. Doch kurz vor der tödlichen Operation widerruft er seine Entschei­dung, worauf Gott ihn vom Aussatz heilt und Heinrich das Mädchen zur Frau nimmt.
  • Der Text the­ma­tisiert den Zwiespalt zwischen Welt und Gott, höfischer Kultur und Frömmigkeit.
  • Er wird als höfische Legende klas­si­fiziert und gilt als her­aus­ra­gen­des Werk der hochmit­te­lal­ter­lichen Literatur.
  • Verfasst wurde das Versepos auf Mit­tel­hochdeutsch, einer reinen Schrift­sprache.
  • Das Original des Textes ist verloren. Dieser ist nur in Abschriften überliefert.
  • Bereits zeitgenössische Dichterkol­le­gen lobten Hartmanns virtuosen Gebrauch des Mit­tel­hochdeutschen.
  • Das zentrale Motiv in der Darstellung des Heinrich ist die Figur des guten Sünders.
  • Das Aufeinan­der­prallen von religiöser Ar­gu­men­ta­tion und erotischer Darstellung machte den Text im 19. Jahrhundert sehr populär.
  • Zitat: „An Herrn Heinrich zeigte sich ganz deutlich: / Wer in höchstem Ansehen / auf dieser Welt lebt, / der ist der Geringste vor Gott.“
 

Zusammenfassung

Der Fall des Ritters von Aue

In Schwaben lebt ein junger Ritter, der weit und breit für seinen vor­bildlichen Lebensstil bekannt ist. Das gute Elternhaus war ihm Grundlage für ein wohlhaben­des und sor­gen­freies Leben. Mit unfehlbarer Tugend und hart er­ar­beit­eter Bildung baut er diese zu einer nahezu idealen höfischen Existenz aus. Seine Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit werden im ganzen Land geschätzt. Er besticht durch moralische Integrität ebenso wie durch ausnehmende Schönheit. Dieser benei­denswerte Mann heißt Heinrich von Aue. Doch wie zer­brech­lich und vergänglich selbst die glücklichsten weltlichen Zustände sind, erfährt er drastisch am eigenen Leib.

„Als der Heinrich / sich so / des Ansehens und Besitzes erfreute, / seines fröhlichen Sinnes / und seines weltlichen Glücks / (…) / wurde sein hochfliegen­der Sinn / in tiefste Erniedri­gung gestürzt.“ (S. 235)

Heinrich wird vom Aussatz befallen. Plötzlich wenden sich die zuvor so verehrungsvollen Mitmenschen von ihm ab. Wie einst Hiob wird er von Gott geprüft. Doch während Hiob sein Schicksal annahm und aushielt, um Gottes Lohn dafür zu erhalten, verzweifelt Heinrich an dem schweren Schlag. Zu tief ist sein Fall, zu groß die Wonnen, die er aufgeben muss. Hoffnung schöpft er nur aus Berichten, wonach die Krankheit sehr un­ter­schiedlich verlaufe und in einigen Fällen sogar ganz geheilt werden könne.

„An Herrn Heinrich zeigte sich ganz deutlich: / Wer in höchstem Ansehen / auf dieser Welt lebt, / der ist der Geringste vor Gott.“ (S. 237)

Er sucht Heilkundige in Montpellier auf, doch die halten ihn für unrettbar verloren. Vom Gegenteil überzeugt fährt er weiter nach Salerno. Auch dort teilt ihm der beste Arzt mit, dass er praktisch todgeweiht sei. Immerhin deutet er an, dass es doch eine, wenn auch rein the­o­retis­che, Therapiemöglichkeit gebe. Heinrich macht all seine Macht, seinen Ruf und sein Geld geltend. Doch der Arzt beteuert, dass die Medizin weder durch Wil­len­skraft noch durch Reichtum erlangt werden könne. Heinrichs einziges Mittel zur Heilung sei das Blut einer angesehenen Jungfrau. Was die Sache allerdings schwierig mache, sei, dass die Jungfer ganz aus freier Entschei­dung und mit vollkommen selbstlosem Willen ihr Leben aufgeben müsse. Nun sieht auch Heinrich ein, dass alle Hoffnung vergebens ist.

Das Leben mit der Meiers­fam­i­lie

Frustriert reist er nach Hause. Dort verschenkt er all seine Besitztümer und Ländereien an Ärmere, damit wenigstens diese glücklich werden und Gott vielleicht doch noch Mitleid mit ihm hat. Nur einen Hof im Wald gibt er nicht auf. Dessen Pächter ist ein moralisch ein­wand­freier Mensch, und Heinrich hat ihn immer gut behandelt, ihn vor Gewalt geschützt und niemals übervorteilt. Deshalb nimmt der Meier seinen gefallenen Herrn bei sich auf, um ihn zu pflegen. Die Kinder des Meiers meiden den Kranken. Nur seine achtjährige, bildhübsche Tochter nicht. Sie bemüht sich um Heinrich und versucht ihm, wo immer es geht, zu helfen. Sie weicht schließlich gar nicht mehr von seiner Seite. Heinrich versucht, ihr durch allerhand Geschenke sein Wohlwollen und seine Dankbarkeit zu zeigen.

„Ihr müsstet eine Jungfrau haben, / die voll mannbar / und außerdem entschlossen wäre, / den Tod für Euch zu leiden.“ (Arzt zu Heinrich, S. 243)

Drei Jahre sind vergangen, als eines Tages der Meier seinen Herrn fragt, weshalb nicht einmal die Ärzte von Salerno ihm helfen konnten. Seine Ehefrau und Tochter sind auch dabei und Heinrich erzählt ihnen nun, dass er seine Krankheit für eine verdiente Strafe Gottes hält. Er war früher ganz in seinem freuden­re­ichen Leben aufgegangen, ohne Gott für sein Wohlergehen zu danken. Also habe Gott ihm den Aussatz beschert, damit er sich wieder besinne. In Salerno hätten ihm die besten Ärzte eröffnet, dass es nur eine einzige Medizin auf der Welt gebe, die ihn heilen könne: Eine heiratsfähige, kluge Jungfrau müsse freiwillig ihren Tod für den Kranken in Kauf nehmen, denn nur Blut aus dem Herzen eines solchen Mädchens könne ihn heilen. Da ihm diese Medizin unzugänglich sei, bleibe also nichts zu tun, als geduldig und gottesfürchtig den Tod zu erwarten.

Die Entschei­dung der Meier­stochter

Die Tochter des Meiers hat Heinrichs Erzählung aufmerksam mit angehört. Seine Klage und Trauer berühren sie so tief, dass sie nachts kaum einschlafen kann. Immerzu muss sie an Heinrichs Schicksal und seine Verzwei­flung denken, bis sie schließlich selbst tieftraurig wird und heftig zu weinen beginnt. Die Eltern erwachen vom Schluchzen ihrer Tochter. Erst auf mehrmaliges Drängen beginnt sie zögerlich, den Grund für ihren Kummer zu verraten: Sie betrauere das Schicksal ihres Herrn, der so vorbildlich und gutherzig für sie alle gesorgt habe, wie es kein anderer Gutsherr jemals tun würde. Wer weiß, was mit ihnen geschehen werde, sobald sie ihren Herrn an den Tod verloren hätten. Ihr Vater antwortet, dass diese Strafe Gottes leider nicht umkehrbar sei. Die Menschen könnten gegen den Willen des Allmächtigen nichts ausrichten und einzig das tugendhafte Vorleben Heinrichs bewahre diesen davor, mit Fluch und Schande aus der men­schlichen Gemein­schaft gejagt zu werden. Die Tochter akzeptiert diese Erklärung, aber ihr Unglück wird dadurch nicht geringer.

„Wessen Schande und wessen Not / wäre auf der Welt je größer gewesen? / Vorher war ich Dein Herr / und bin nun Dein Hausarmer.“ (Heinrich zum Meier, S. 253)

Der nächste Tag vergeht für sie nur mühselig und langsam. Das Mitleid für Heinrich hat sie so stark in Besitz genommen, dass sie an keinerlei Aktivitäten der Familie teilnimmt. Als es Abend wird, beginnt sie erneut, bitter zu weinen. In ihrem Elend kommt ihr der Gedanke, sie könne selbst ihr Leben für Heinrich opfern und ihm so die Erlösung schenken. Plötzlich fühlt sie sich en­thu­si­astisch und fröhlich. Allerdings hegt sie Zweifel, ob ihre Eltern und ihr Herr ihrem Vorhaben zustimmen würden. Davon wird sie so unruhig, dass ihre Eltern erneut aufwachen. Verärgert werfen die Eltern ihr vor, sich unnützes Leid auf die Schultern zu laden. Niemand könne dem Armen helfen, also solle sie sich ihr übertriebenes Mitleid sparen. Doch sie wider­spricht: Eigentlich könne dem Herrn sehr einfach geholfen werden. Er habe ihnen doch selbst erzählt, welches Mittel ihn heilen würde. Und sie wäre bereit, dieses Opfer zu bringen.

„Ich bin eine Jungfrau und habe den Entschluss gefasst: / Bevor ich ihn zugrunde gehen sehe, / will ich statt seiner sterben.'“ (Jungfrau zu den Eltern, S. 261)

Die Eltern reagieren auf diese Eröffnung geschockt. Sie sei doch noch ein Kind, meinen sie, der Tod sei ihr völlig fremd. Niemals könne sie freiwillig ihr Leben aufgeben, denn sobald ihr der Tod wirklich bevorstehe, werde sie flehen und winseln, doch am Leben bleiben zu dürfen. Der Vater droht ihr, doch seine Tochter ist entschlossen. Sie hat schon oft gehört, dass der Tod schrecklich sei, doch ein krankes und leidvolles Leben, meint sie, sei um nichts besser. Schlimmer noch, die Qualen eines dermaßen eingeschränkten Lebens könnten schließlich sogar die Seele verstümmeln. Das wolle sie durch ihr Opfer verhindern. Außerdem sollten ihre Eltern bedenken, dass ihr aller eigenes Wohlergehen direkt mit dem Leben ihres Herrn verknüpft sei. Wenn er sterbe, so werde über die Familie Not here­in­brechen.

Der Wille Gottes

Die Mutter weint und fleht ihre Tochter an, ihre Entschei­dung zu überdenken. Sie erinnert an Gottes Gebot, Kinder sollten ihre Eltern ehren und ihnen gehorchen. Durch ihr Opfer würde die Tochter ewigen Kummer statt Freude und Sicherheit über die Familie bringen. Darauf reagiert die Tochter verständnisvoll. Sie habe von ihren Eltern immer nur Liebe erfahren und würde nur mit deren Zustimmung die eigene Seele vor der Hölle bewahren und Gott übergeben. Das Erwach­se­nen­leben mit seinen vergänglichen Begierden sei ihr zum Glück noch fremd, weshalb sie jetzt noch ihre Seele retten könne. Alle Er­run­gen­schaften und Freuden des Lebens seien nur flüchtige Er­schei­n­un­gen, während allen Menschen, egal welchen Standes und welcher Herkunft, der Tod sicher sei. Auch sollten die Eltern bedenken, dass das Leben mit ihr ohnehin bald ein Ende haben würde: Entweder wäre Heinrich tot, sie un­ver­heiratet und die ganze Familie bitterarm oder sie wäre verheiratet. Doch ob sie ihren Mann liebe oder nicht – in beiden Fällen wäre sie unglücklich. Doch wenn ihre Eltern sie jetzt dem Allmächtigen zur Frau gäben, würde sie Kummer und Leid überwinden. Sie sagt, sie verstehe und respektiere zwar die göttliche Verpflich­tung eines Kindes gegenüber seinen Eltern. Doch letztlich gebe es eine höhere Verpflich­tung, nämlich sich selbst treu zu bleiben und sein eigenes Seelenheil zu erlangen. Zur Not sei sie bereit, diese Pflicht zur Erlösung über ihre Pflicht als Tochter stellen.

„Ich habe, / gottlob, die Aussicht, / ich kann mein junges Leben / für das ewige Leben geben.“ (Jungfrau zu den Eltern, S. 263)

Als die Eltern diese Rede gehört haben, wird ihnen klar, dass kein Kind derart überzeugend ar­gu­men­tieren kann. Der Heilige Geist muss aus ihrem Mund gesprochen haben. Daher geben sie nach. Zunächst voller Trauer, verstehen sie schließlich, dass dieser Tod eigentlich der bestmögliche für ihre Tochter ist. Und da sie ohnehin durch keine Klage den Willen Gottes aufhalten können, der aus ihrer Tochter spricht, akzeptieren sie ihn. Bei Tage­san­bruch sucht das Mädchen den armen Heinrich auf und teilt ihm freudig ihre Entschei­dung mit. Doch auch der reagiert zunächst ablehnend. Zwar erfreue ihn ihre selbstlose Absicht; Gott werde ihre edle Haltung sicherlich belohnen. Aber annehmen könne er dieses Angebot niemals, da es in der für Kinder typischen Überstürzung und Kurzsichtigkeit angeboten werde. Der Tod sei eine zu ernste Sache, als dass man ihn so le­icht­fer­tig auf sich nehmen solle. Außerdem würde er nie Kummer über sie und ihre Familie bringen wollen, weil sie ihn doch so großherzig gepflegt haben. Als jedoch auch die Eltern den Wunsch ihrer Tochter gegenüber Heinrich bestärken, erkennt er, dass es ihnen allen ernst ist.

Eine letzte Prüfung in Salerno

Nach einer kurzen Besinnung nimmt er das Angebot an und reist mit der Meier­stochter eilig nach Salerno. Heinrich sorgt dafür, dass es seiner Retterin während der Reise an nichts fehlt. In Salerno reagieren die Ärzte skeptisch auf das seltsame Paar. Sie fragen das Kind, ob es nicht etwa überredet oder gezwungen wurde. Als das Mädchen auf ihrer Frei­willigkeit besteht, beschreibt ihr ein Arzt die bevorste­hende Prozedur: Sie würde split­ter­nackt ausgezogen werden und voller Scham sein, dann würden ihr Arme und Beine gefesselt werden, damit sie sich nicht vor Schmerzen wehren könne, wenn ihr der Brustkorb bis zum Herz aufgeschnit­ten und dieses noch schlagend aus ihrem Körper her­aus­geris­sen würde. Könne sie das wirklich wollen? Und wenn sie nur eine Sekunde während dieses Eingriffs ihre Überzeugung verlöre, würde ihr Tod und alle Mühe umsonst gewesen sein. Tatsächlich bekommt sie Zweifel – aber nicht an ihrer Entschei­dung, sondern an der Kompetenz dieses Arztes. Jeder Schmerz sei doch kurz und klein im Vergleich mit dem ewigen Leben, das man durch ihn erlange, erklärt sie und fordert ihn auf, so schnell wie möglich mit der Operation zu beginnen. Der Arzt verkündet Heinrich, dass die Jungfrau geeignet sei und er bald gesund sein werde.

Die Heilung des armen Heinrich

Das Mädchen wird in den Be­hand­lungsraum des Arztes geführt, Heinrich muss draußen bleiben. Auf die Anweisung, sich auszuziehen, reißt sie sich freudig die Kleider vom Leib. Als der Arzt sie so sieht, muss er sich eingestehen, dass er nie zuvor eine schönere Jungfrau gesehen hat. Er bindet sie auf einem großen Tisch fest. Das Messer liegt daneben bereit, ist aber zu stumpf. Er will die mutige Jungfrau so schnell und schmerzlos wie möglich töten, also schleift er das Messer gründlich mit dem Wetzstein. Dieses Geräusch lässt Heinrich vor der ver­schlosse­nen Tür seine Entschei­dung bereuen. Durch ein Loch in der Mauer erblickt er die nackte wunderschöne Jungfrau und erkennt, dass das Vorhaben falsch ist. Es ist feige, denkt er, sein von Gott ihm gegebenes Leben nicht zu akzeptieren. In letzter Sekunde bricht er die Operation ab. Die Jungfrau regt sich furchtbar darüber auf und beklagt, um ihr sicheres Seelenheil gebracht worden zu sein. Sie beschimpft Heinrich als Feigling und Lügner und fordert ihn auf, seine Meinung doch noch einmal zu ändern. Doch der edelmütige Ritter bleibt ruhig und standhaft, bezahlt den Arzt und reist wieder ab – gewiss, dass ihn in seiner Heimat Hohn und Spott erwarten. Doch auf der Heimreise geschieht es, dass Gott Erbarmen hat. Er lässt Heinrich wieder völlig gesunden und so schön werden wie in seiner Jugend.

Heinrichs Heirat mit der Meier­stochter

Als sich die Nachricht von Heinrichs Gesundung verbreitet, reiten ihm seine Gefol­gsleute und Freunde entgegen, um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Auch die Meiersleute sind dabei, voll überschwänglicher Freude über dieses unerwartete Geschenk Gottes, der ihnen sowohl die Tochter als auch den guten Herrn wiedergegeben hat. Die Gefol­gsleute ve­r­anstal­ten ein großes Fest zur Begrüßung der Heimkehrer. In der Folgezeit werden Heinrichs Besitz und Ansehen noch größer, als sie es vor seiner Krankheit jemals waren. Der Ritter befolgt Gottes Gebote noch geflissentlicher und erlangt so al­len­thal­ben bleibendes Ansehen. Den Meier­sleuten dankt er ihre Mühen und ihre Treue, indem er ihnen das Land und den Hof zum Eigentum übergibt. Danach lässt er all seine Verwandten und Un­tergebe­nen entscheiden, ob sie eine Heirat mit der Jungfrau für angemessen halten und ihr zustimmen können. Als der Rat uneins ist, lobt Heinrich wortgewandt den Mut und die Selb­st­losigkeit der Jungfrau, die ihn geheilt hat. Sollte ihm der Rat die Ehe versagen, verkündet er, werde er niemals eine andere Frau ehelichen. Von diesen Worten berührt, stimmt der Rat einstimmig der Hochzeit zu. Heinrich macht seine Retterin zu seiner Ehefrau und das Paar lebt ein langes, gottgefälliges Leben, bis sie schließlich die Erlösung im ewigen Himmelreich erlangen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Bis heute streitet die Forschung über die richtige Einordnung des Textes. Einerseits trägt dieser starke Züge eines geistlichen Werkes, etwa der Leg­en­den­gen­res, an­der­er­seits weist er Einflüsse des französischen höfischen Romans auf. Um diese Problematik zu lösen, wird Der arme Heinrich oft als höfische Legende bezeichnet. Das Versepos ist etwas mehr als 1500 Verse lang und in Mit­tel­hochdeutsch verfasst. Diese Sprache existierte um 1200 nur in den Schriften der adligen Gesellschaft, wurde also nicht gesprochen. Hartmann von Aues Handhabung dieser frühen deutschen Hochsprache galt bereits bei seinen Zeitgenossen als besonders virtuos und wird bis heute als Höhepunkt des Mit­tel­hochdeutschen gelobt. Zu Beginn des Textes stellt sich der Autor kurz vor und gibt an, die Erzählung vom armen Heinrich selbst in einem anderen Buch gelesen zu haben, sie also lediglich nachzuerzählen. Die folgende Erzählung konzen­tri­ert sich weniger auf die Beschrei­bung äußerlicher Handlungen und Ereignisse, sondern stellt die geistige-moralis­che Haltung der Handelnden in den Vordergrund. Im Mittelpunkt des Textes stehen einige Reden der anonymen Jungfrau, der heimlichen Hauptperson der Geschichte. Diese Ansprachen sind stark theologisch gefärbte Glanzstücke mit­te­lal­ter­licher Rhetorik. Neben ihrer vordergründigen Funktion als Ar­gu­men­ta­tion gegenüber den Eltern, Heinrich und den Ärzten dienen diese Reden vor allem der Darstellung einer spez­i­fis­chen religiös-moralis­chen Haltung zur Welt.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Das zentrale Thema des Textes ist der Zwiespalt zwischen Welt und Gott. Im Widerspruch von Heinrichs Lebens­freude mit der Todes- und Gottessehn­sucht des Mädchens spiegelt sich der historische Konflikt zwischen höfischer und geistlicher Weltsicht um 1200.
  • Dieser Zwiespalt prägt besonders die Figur des Mädchens. Einerseits ist sie ein Kind, durch das der Heilige Geist spricht und das wegen seiner Reinheit und Unschuld als schön gilt. An­der­er­seits wird sie als selbstständige und eigen­willige Frau dargestellt, deren körperliche Attraktivität sie zum Objekt sexueller Begierde Heinrichs und des Arztes macht.
  • Die gesellschaftliche Funktion höfischer Dichtung bestand in der Darstellung ethischer Ideale. Daher wirken Heinrich und die Meier­stochter sehr sch­ablo­nen­haft. Sie stellen Idealtypen des Ritters bzw. des frommen Menschen dar.
  • Sowohl die Motive Gottes als auch jene des Mädchens sind moralisch ambivalent. Wird Heinrich von Gott bestraft oder geprüft? Bietet sich das Mädchen aus selbstlosem Mitleid oder aus eigensin­nigem Kalkül als Opfer an?
  • Eine zentrale Rolle in der Entschei­dung der Jungfrau spielt das the­ol­o­gis­che Van­i­tas-Mo­tiv. Es bedeutet eine Entwertung weltlicher Genüsse als vergänglich und letztlich sinnlos gegenüber dem ewigen Seelenheil im Jenseits.
  • Die Hauptperson Heinrich entspricht der klassischen Figur des guten Sünders. Ein vor­bildlicher Mensch wird unschuldig mit Unglück geschlagen, nimmt dieses jedoch an und wird dafür von Gott belohnt.
  • Im kurzen Vorwort spricht Hartmann von Aue seinem Text eine moralische Funktion zu: Die Erzählung soll dem Leser in schweren Zeiten Trost spenden und Gott ehren.

His­torischer Hintergrund

Gesellschaftliche Umbrüche um 1200

Das gesellschaftliche Leben Mit­teleu­ropas im zwölften Jahrhundert war stark von der Kirche geprägt. In dieser Zeit begannen sich jedoch auch ver­schiedene Veränderungen in dieser Beziehung abzuze­ich­nen. Innerhalb der Religion verloren die mystischen Elemente an Gewicht, was sie insgesamt zugänglicher und volksnäher machte. Außerhalb der Kirche bildete sich unterdessen ein op­po­si­tioneller Machtpol: Unter dem Staufer­kaiser Friedrich Barbarossa entstand im Reich eine höfisch-rit­ter­liche Kultur, die weltliche Werte stärker betonte als die bisher do­minierende geistlich-mönchische Ethik. Da­seins­be­jahung, Tapferkeit und Tugend sowie Etikette und Verehrung der Frauen wurden zu zentralen Ver­hal­tensregeln der höfischen Gesellschaft. Für den Entwurf und die Verbreitung dieser neuen Lebensart war nicht zuletzt die höfische Dichtung ve­r­ant­wortlich.

Gle­ichzeitig führte die rasante Neugründung und Ausdehnung von Städten zu einer Verlagerung des sozioökonomischen Lebens – weg vom Land, hin zu den jungen urbanen Bal­lungszen­tren. Soziale Gruppen wie Händler, Juristen oder Ärzte gewannen dadurch an Status und erprobten erstmals eine freie, selb­st­bes­timmte Geset­zge­bung. Durch die Gründung von Bil­dung­sein­rich­tun­gen und Universitäten abseits der geistlichen Kloster­schulen wurde das in­tellek­tuelle Leben langsam von der Religion emanzipiert. Soziale Spannungen zwischen Wohlhaben­den und Armen wurden of­fen­sichtlicher und re­sul­tierten in ersten Protest­be­we­gun­gen gegen die feudale Kirche. Im zwölften Jahrhundert begann auch die Kreuz­zugs­be­we­gung, und diese richtete das Papsttum zusehends nicht nur gegen muslimische Staaten, sondern auch gegen viele europäische Grup­pierun­gen, die als häretisch eingestuft wurden.

Entstehung

Über die historische Person Hartmann von Aue sind keinerlei gesicherte Fakten überliefert. Die Mehrheit der wenigen An­halt­spunkte zu seiner Person lieferte Hartmann selbst in den Vorworten seiner Werke, vor allem in dem zu Der arme Heinrich. Über den Wahrheits­ge­halt dieser Angaben herrscht aber Zweifel. Sie werden eher als rhetorische Manöver eingeschätzt, die dem Text Gewicht verschaffen sollen, und weniger als au­then­tis­che Zeugnisse einer Au­to­bi­ografie. So behauptet der Autor etwa, dass Der arme Heinrich auf älteren Textquellen basiere. Doch weder im Deutschen oder Französischen noch im Lateinis­chen ist der gegenwärtigen Forschung ein solcher Vorgängertext bekannt.

Historisch gesichert ist, dass der Text etwa um 1195 geschrieben worden sein muss. Das Original ist nicht mehr erhalten. Aufgrund seiner Kürze wurde der Text hauptsächlich als Teil von Textstamm­lun­gen wie Legenden- und Volksbüchern überliefert. Die Autoren dieser Kom­pi­la­tio­nen bear­beit­eten ihr Material üblicher­weise recht großzügig, was die Rekon­struk­tion des ursprünglichen Textes weiter erschwert. Drei vollständige Hand­schriften und drei Fragmente sowie eine Übersetzung ins Lateinische sind erhalten geblieben. Sie entstanden zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert und variieren beträchtlich in puncto Inhalt und Umfang. Über das 15. Jahrhundert hinaus wurde der Text nicht mehr tradiert und geriet in Vergessen­heit.

Wirkungs­geschichte

Das Comeback des Armen Heinrich begann Ende des 18. Jahrhun­derts mit der Veröffentlichung einer der Hand­schriften durch Christoph Heinrich Myller. Wichtiger für die Popularität des Textes war jedoch die kom­men­tierte Nacherzählung der Brüder Grimm von 1815 und deren Deutung des Werkes als Volkssage. 1842 folgte die erste tex­tkri­tis­che Zusam­men­schau aller überliefer­ten Versionen durch Moritz Haupt. In der Folge wurde Der arme Heinrich zum am meisten rezipierten Werk Hartmann von Aues. Es wurde in praktisch alle lit­er­arischen Gattungen überführt.

Bekannt sind etwa die lange Bal­laden­fas­sung von Adelbert von Chamisso (1839) oder H. W. Longfellows Bühnenfassung Die goldene Legende von 1851. Hans Pfitzners erstes Opernwerk war eine Vertonung des Armen Heinrich (1895). Ricarda Huchs Fassung von 1899 gilt als die be­deu­tend­ste Nachdich­tung. Die Drama­tisierung des Stoffes durch Gerhart Hauptmann 1902 stellt einen weiteren Meilenstein in der Rezeption dar.

Während der lit­er­arische Stoff ab den 1920er-Jahren auf immer weniger Interesse stieß, erschien ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­derts eine Vielzahl von his­torisch-kri­tis­chen Editionen des Textes. Ab den 1990er-Jahren schließlich erlebte die Geschichte einen neuerlichen Zuwachs an lit­er­arischer Zuwendung, etwa als Bühnenstück durch Tankred Dorst (1997), in Markus Werners Roman Bis bald von 1992 oder als lyrische Nacherzählung durch Rainer Malkowski 2003.

Über den Autor

Die genauen Lebensdaten Hartmann von Aues sind nicht überliefert. Auch über seine Lebensumstände ist kaum etwas bekannt. Ebenso wenig lassen sich seine Werke präzise datieren. Immerhin gilt als sicher, dass Hartmanns literarisch aktive Zeit etwa in die Jahre zwischen 1180 und 1210 fällt. Wahrschein­lich stammt er aus der Nähe von Freiburg im Breisgau, jedenfalls aus dem Gebiet des alten Herzogtums Schwaben. Über seinen Stand und seine Bildung äußert sich Hartmann unter anderem im Prolog seiner Verserzählung Der arme Heinrich. Dort nennt er sich einerseits einen „gelehrten Ritter“, rechnet sich an­der­er­seits aber dem unfreien Stand der Min­is­te­ri­alen zu, einer sozialen Schicht am unteren Ende der Feu­dal­hier­ar­chie, deren Mitglieder für einen Dienstherrn ver­schieden­ste Aufgaben in der Verwaltung wahrnehmen konnten. Eine Ausbildung zum Gelehrten konnten Menschen seines Standes am ehesten in einer Domschule erhalten. Seine Werke lassen auf Grund­ken­nt­nisse in Philosophie, Theologie und Rhetorik schließen. Die Selb­st­darstel­lung als Ritter bezieht sich wohl weniger auf den eigenen Stand als vielmehr auf eine Geis­te­shal­tung, die an das Idealbild der höfischen Gesellschaft anknüpft. Hartmann kannte sich gut mit rit­ter­lichen Kampftech­niken aus. Seine Teilnahme an einem Kreuzzug gilt allerdings als umstritten. Als Hartmanns erstes lit­er­arisches Werk wird das Klagebüchlein angesehen, ein al­le­gorisches Zwiegespräch in Versen über die Minne. Nach dem Artusroman Erec (um 1180) sowie den höfischen Legenden Gregorius und Der arme Heinrich, die auf die Motive göttlicher Gnade und persönlicher Schuld Bezug nehmen, verfasste Hartmann Iwein (um 1200), ein weiteres Epos aus dem Artusumfeld.