Die Kunst des Liebens

Buch Die Kunst des Liebens

New York, 1956
Diese Ausgabe: Manesse,


Worum es geht

Liebe in Zeiten des Kap­i­tal­is­mus

Gleich auf der ersten Seite von Die Kunst des Liebens (1956) warnt der Psy­cho­an­a­lytiker Erich Fromm vor falschen Erwartungen. Im Unterschied zu Eherat­ge­bern, die sich schon in den 1950er-Jahren großer Beliebtheit erfreuten, will er keine praktische Anleitung für eine gelungene Beziehung vorlegen. Stattdessen widmet er sich eingehend der Theorie der Liebe, wobei er Eltern-, Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe von der erotischen Liebe un­ter­schei­det. Liebe ist für ihn weder ein passiver Affekt noch – wie für Freud – eine gelungene Sublimation sexueller Triebe, sondern eine Fertigkeit, die sich wie ein Handwerk erlernen lässt. Fromm macht unmissverständlich klar: Wahre Liebe, die mehr ein Geben als ein Nehmen ist, lässt sich mit der kap­i­tal­is­tis­chen Wirtschaft­sor­d­nung kaum vereinbaren. In düsteren Farben zeichnet er das Bild der modernen westlichen Gesellschaft, in der Menschen ohne In­di­vid­u­alität wie Maschinen funk­tion­ieren müssen und Liebe als Tauschgeschäft betrachten. Wer wirklich lieben lernen möchte, so lautet die zeitlose Botschaft, muss sich vor allem in Achtsamkeit, Demut und Geduld üben.

Take-aways

  • Erich Fromms Klassiker Die Kunst des Liebens ist eines der er­fol­gre­ich­sten Sachbücher aller Zeiten.
  • Inhalt: Liebe ist kein passiver Affekt, sondern eine Haltung, eine aktive Tätigkeit und Fähigkeit, die man genauso erlernen muss wie ein Handwerk. Dabei ist Lieben wichtiger als Geliebtwer­den, Geben wichtiger als Empfangen. Vo­raus­set­zung für die reife und erfüllende Part­ner­liebe ist die Liebe zu allen Menschen und zu sich selbst.
  • Marx und Freud übten großen Einfluss auf Erich Fromms Theorie der Liebe aus.
  • Fromm grenzt sich vom Freud’schen Konzept des Individuums als isoliertem, triebges­teuertem Wesen ab. Er betont dagegen die ursprüngliche Verbindung des Menschen zu seinen Mitmenschen.
  • Fromm beruft sich nicht nur auf Klassiker der Philosophie, sondern auch auf den Zen-Bud­dhis­mus.
  • Er kritisiert die westliche kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft, deren Prinzipien er für unvereinbar mit seinem Begriff von Liebe hält.
  • Fromms Sprache ist klar, einfach und anschaulich.
  • Erich Fromm emigrierte in der Nazizeit in die USA und wurde zu einem der ein­flussre­ich­sten amerikanis­chen Psy­cho­an­a­lytiker.
  • Die Kunst des Liebens wurde in 50 Sprachen übersetzt und zählt mit mehr als 25 Millionen verkauften Exemplaren zu den er­fol­gre­ich­sten Sachbüchern aller Zeiten.
  • Zitat: „Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.“
 

Zusammenfassung

Verbreitete Vorurteile über die Liebe

Nach kaum etwas sehnen wir uns so verzweifelt wie nach Liebe. Die meisten Menschen halten Liebe für etwas, das man nicht eigens erlernen muss, sondern dass man einfach empfindet. Tatsächlich geht es ihnen eigentlich gar nicht darum, selbst zu lieben, sondern darum, geliebt zu werden. Um liebenswert zu erscheinen, streben sie nach Macht und gesellschaftlichem Erfolg, steigern ihre Attraktivität durch schöne Kleidung, Kosmetik und gute Manieren. Sie suchen nach einem geeigneten Objekt der Liebe (einem Menschen, den sie lieben können und der sie zurückliebt) und folgen bei dem, was körperlich und geistig attraktiv auf sie wirkt, wechselnden Moden. Infolge der Konsum- und Mar­ket­ing­men­talität, die in den westlichen Gesellschaften herrscht, wird Liebe so zu einem Tauschgeschäft: Man verliebt sich, wenn man das Gefühl hat, das beste Objekt gefunden zu haben, das einem angesichts des eigenen Marktwertes zusteht.

„Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können.“ (S. 9)

Zugleich verwechseln die meisten Menschen „sich verlieben“ mit „lieben“. Verliebte sind verrückt nacheinan­der und sehen darin ein Zeichen für die Intensität ihrer Liebe. Der Zustand der Ver­liebtheit, der mit inniger Ver­trautheit und sexueller Anziehung einhergeht, währt indes nicht lange. Man lernt den Partner besser kennen, sodass er nicht mehr geheimnisvoll erscheint; man fängt an zu streiten und sich miteinander zu langweilen. Und obwohl die Menschen in der Liebe immer wieder scheitern, hat kaum jemand das Bedürfnis, den Ursachen dafür nachzugehen. Liebe ist eine Kunst, und sie lässt sich erlernen. Sie kommt nicht durch ein Objekt zustande, sondern aufgrund einer Fähigkeit.

Die Angst vor dem Alleinsein

Wie jede andere Fertigkeit, zum Beispiel die Malerei, die Tischlerei oder die Medizin, besteht die Kunst des Liebens aus Theorie und Praxis. Zur Theorie gehört die Frage nach dem Ursprung der Liebe. Der Mensch als ver­nun­ft­be­gabtes Wesen ist sich seiner ex­is­ten­ziellen Einsamkeit bewusst. Die Angst vor sozialer Isolation bekämpft er – je nach Kulturkreis – mit religiösen Riten, asketischem Verzicht, Ar­beit­seifer oder künst­lerischer Tätigkeit. In der westlichen Kultur bieten Alkohol- und Dro­genkon­sum oder Sex eine Möglichkeit, die Angst vor dem Abge­tren­nt­sein von seinen Mitmenschen zumindest zeitweise zu überwinden.

„Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abge­tren­ntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit her­auszukom­men.“ (S. 19)

Eine andere weit verbreitete Möglichkeit ist die Vereinigung mit der Gemein­schaft durch Anpassung, etwa in Bezug auf Gewohn­heiten und Kleidung, Gedanken und Gefühle. Das Bedürfnis, der Herde anzugehören, ist den meisten nicht einmal bewusst. Sie halten es für Zufall, dass sie in ihren Neigungen mit der Mehrheit übere­in­stim­men. Diktaturen schaffen Konformität durch Zwang, Demokratien bedienen sich der Suggestion und der Propaganda. In unserer kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft bedeutet Gleichheit nicht mehr – wie noch bei den Denkern der Aufklärung – das „Einssein“ der Menschen, das aus dem Respekt für die In­di­vid­u­alität jedes Einzelnen folgt. Heute bedeutet Gleichheit „dasselbe sein“: Alle haben die gleichen Jobs, Hobbys und Gefühle, sie sind gefangen in ihren Routinen. In der Mas­sen­ge­sellschaft werden alle Un­ter­schiede zwischen den Menschen eingeebnet, selbst derjenige zwischen Mann und Frau, der ja die Vo­raus­set­zung erotischer Liebe ist.

„In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben.“ (S. 33)

Eine weitere Möglichkeit im Umgang mit der Angst vor Isolation ist die schöpferische Tätigkeit. Indem man ein Bild malt, einen Tisch anfertigt oder ein Feld bestellt, wird man eins mit der Welt. Ganz anders der moderne Angestellte oder der Fließban­dar­beiter, dem nur noch die Pseu­doein­heit der Konformität zuteilwird. Und auch die produktive Einheit ist nur eine halbe Lösung, da sie keine Einheit mit anderen Menschen bedeutet. Wirklich be­friedi­gend ist nur die Vereinigung mit einem anderen Menschen, also die Liebe.

Die reife Liebe

Von der sym­bi­o­tis­chen, auf gegen­seit­iger Abhängigkeit beruhenden Liebe ist die reife Liebe zu un­ter­schei­den, bei der zwei Menschen eins werden und doch ihre In­di­vid­u­alität bewahren. Die reife Liebe ist eine Aktivität, nicht bloß ein passiver Affekt. Man verfällt ihr nicht, sondern entwickelt sie in sich. Sie ist vor allem ein Geben, nicht ein Empfangen. Dabei wird das Geben nicht als Verarmung oder gar als Opfer verstanden – im Gegenteil: Der Schenkende erlebt im Schenken seine eigene Stärke und seine Lebendigkeit, was ihn mit Freude erfüllt. Etwas zu geben – nicht etwas Materielles, sondern etwas vom eigenen Leben, von den eigenen Interessen und Gefühlen – stellt für den Gebenden eine Bere­icherung dar. Im Sexualakt sind beide, Mann und Frau, Gebende: Der Mann gibt seinen Samen, die Frau gibt, indem sie sich öffnet und empfängt.

„Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.“ (S. 35)

Zur reifen Liebe ist nur ein produktiver Charakter fähig, der seinen Narzissmus überwunden hat, auf seine eigenen inneren Kräfte vertraut und keine Angst hat, sich hinzugeben. Reife Liebe beinhaltet Fürsorge und Ve­r­ant­wor­tungs­gefühl, Achtung und Erkenntnis des Anderen. Das bedeutet, sich um den Anderen zu kümmern und sich für dessen seelische Bedürfnisse ve­r­ant­wortlich zu fühlen, ohne ihn jedoch beherrschen oder besitzen zu wollen. Der Andere soll sich frei entfalten und sein dürfen, wie er wirklich ist. Nicht durch Zwang, sondern im Akt der Vereinigung und der Hingabe erkennt man das Wesen des Anderen – und sich selbst.

Die männlich-weib­liche Polarität

Über die ex­is­ten­zielle Sehnsucht nach Einheit hinaus ist die Liebe auch ein bi­ol­o­gis­ches Bedürfnis, das sich aus der Polarität zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen ergibt. Diese Polarität zwischen Eindringen (männlich) und Empfangen (weiblich) ist ein Muster, das sich durch die gesamte Natur zieht: Tag und Nacht, Dunkelheit und Licht, Materie und Geist. Männliche Charak­tereigen­schaften sind Aktivität, Disziplin und Aben­teuer­lust; weibliche Eigen­schaften sind Beschützenwollen, Geduld und Realismus. Mann und Frau tragen in sich auch Anteile des jeweils anderen Geschlechts, wobei die des eigenen überwiegen. Jeder Mensch sucht nach der Einheit mit dem gegengeschlechtlichen Pol, um die ursprüngliche Ganzheit wiederzugewin­nen. Ho­mo­sex­uelle – wie auch manche Het­ero­sex­uelle – leiden unter dem Unvermögen, durch Liebe diese „po­lar­isierte Vereinigung“ zu erlangen.

Eltern- und Nächstenliebe

Mütterliche und väterliche Liebe sind ihrem Wesen nach grund­ver­schieden: Die Mutter, die für das Überleben des Neuge­bore­nen essenziell ist, liebt ihr Kind be­din­gungs­los; ihre Liebe kann nicht erworben werden. Der Vater, der die Welt des Denkens, der Ordnung und Disziplin verkörpert und erst ab dem sechsten Lebensjahr des Kindes an Bedeutung gewinnt, knüpft seine Liebe an die Bedingung, dass das Kind seinen Erwartungen entspricht. Im Lauf einer gesunden seelischen Entwicklung löst sich der Her­anwach­sende von den Eltern und integriert beide Formen der elterlichen Liebe in sich. Er lernt, seine Ich­be­zo­gen­heit zu überwinden und die Bedürfnisse Anderer wichtiger zu nehmen als seine eigenen. Für den reifen Menschen ist Lieben wichtiger als Geliebtwer­den.

„Der einzige Weg zu ganzer Erkenntnis ist der Akt der Liebe: Dieser Akt tran­szendiert alles Denken und alle Worte.“ (S. 46 f.)

Liebt und bejaht die Mutter das Leben, so vermittelt sie diese Haltung auch ihrem Kind. Mutterliebe gilt aufgrund ihres al­tru­is­tis­chen Charakters als die höchste Form der Liebe, doch die meisten Mütter sind nur im Umgang mit dem Neuge­bore­nen liebevoll und selbstlos. Diese Art der in­stink­tiven Mutterliebe zu dem hilflosen Neuge­bore­nen, die nicht frei von narzis­stis­chen, ego­is­tis­chen Motiven ist, stellt keine besondere Leistung dar. Wahre Mutterliebe bedeutet, das Kind be­din­gungs­los zu lieben, auch wenn es größer und selbstständiger und nicht mehr bloß das Objekt eigener Be­friedi­gung ist.

„Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben.“ (S. 66)

Ähnlich wie die Mutterliebe, die sich auf alle Kinder bzw. auf das Hilflose allgemein bezieht, hat auch die Nächstenliebe einen universalen Charakter. Ein „Gespür für Ve­r­ant­wortlichkeit, Fürsorge, Achtung und ,Erkenntnis‘“ richtet sich bei der Nächstenliebe auf alle Menschen – ohne Unterschied hin­sichtlich von Begabung, Intelligenz oder Stellung. Wenn man nämlich solche äußeren Faktoren außer Acht lässt, erkennt man, dass alle Menschen im Kern gleich sind, und nimmt sie als Brüder wahr.

Erotische Liebe und Selbstliebe

Dagegen richtet sich die erotische Liebe, also das Verlangen nach vol­lkommener Vereinigung, ausschließlich auf eine einzige Person. Jenes Erlebnis von Intimität, das vor allem auf körperlicher Vereinigung beruht, wird oft mit Liebe verwechselt, doch es ist nur kurzlebig. Sobald man den Anderen besser ken­nen­gel­ernt hat, verfliegt es und man sucht es erneut bei einer fremden Person. Auch ist sexuelle Begierde nicht unbedingt nur an Liebe geknüpft, sondern kann auch durch Eroberungs- oder Zerstörungswut, durch Eitelkeit oder Angst vor dem Alleinsein her­vorgerufen werden. Erotische Liebe ist eben nicht bloß Sex, sondern Kontakt des eigenen innersten Wesens mit dem Innersten des Anderen.

„Erst in der Liebe zu denen, die für uns keinen Zweck erfüllen, beginnt die Liebe sich zu entfalten.“ (S. 69)

Die ausschließliche Fixierung auf den jeweils Anderen, die man bei Verliebten findet, ist keine Liebe, sondern „Egoismus zu zweit“. Die Verliebten mögen ihre Einsamkeit überwinden, bleiben aber doch einander fremd und jeder für sich allein. Echte Liebe bezieht sich zwar auf eine andere Person, doch liebt man im Anderen alle Menschen. Liebe ist der wil­lentliche Entschluss, sein Leben vollkommen an dasjenige des Anderen zu binden. In tra­di­tionellen Gesellschaften, in denen die Ehepartner einander zugewiesen werden, herrscht das Konzept der unauflöslichen Ehe vor. In unserer westlichen Kultur mit ihren ro­man­tis­chen Vorstel­lun­gen dagegen hält man Liebe für eine rein emotionale An­gele­gen­heit. Die Wahrheit liegt dazwischen: Liebe ist einerseits Gefühlssache, zugleich aber ein Willensakt, der Vernunft und Entschlusskraft verlangt.

„Wenn dagegen das Verlangen nach körperlicher Vereinigung nicht von Liebe stimuliert wird, wenn die erotische Liebe nicht auch Liebe zum Nächsten ist, dann führt sie niemals zu einer Einheit, die mehr wäre als eine or­giastis­che, vorübergehende Vereinigung.“ (S. 77)

Selbstliebe gilt allgemein als etwas Schlechtes und wird mit Selbstsucht gle­ichge­setzt. Freud, für den Liebe nur sexuelles Verlangen war, sah in ihr Narzissmus, bei dem sich die Libido auf sich selbst richtet. Nach seiner Auffassung schließen sich Liebe zu anderen Menschen und Selbstliebe aus. Dabei ist die Liebe zu allen Menschen eng mit der Liebe zum eigenen Selbst verbunden: Man liebt sich selbst als men­schliches Wesen. Nur wer fähig ist, andere zu lieben, liebt auch sich selbst. Selbstsucht ist das Gegenteil von Selbstliebe – ein Mangel an Freude und Interesse an sich selbst, der die Liebe zu anderen unmöglich macht. Auch die als Tugend geltende Selb­st­losigkeit ist Ausdruck von Ich­be­zo­gen­heit und Lebens­feindlichkeit.

Liebe in Zeiten des Kap­i­tal­is­mus

Der westliche Kap­i­tal­is­mus hat die Charak­ter­struk­tur des modernen Menschen tief geprägt. Der Einzelne hat seine In­di­vid­u­alität verloren. Um den rei­bungslosen Betrieb der „Gesellschafts­maschinerie“ zu gewährleisten, muss er funk­tion­ieren, konsumieren – und sich dabei noch frei vorkommen. Von sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet, entwickelt er Angst, die er durch Arbeit, Konsum und passive Vergnügungen betäubt. Liebe ist ihm nur ein Mittel, der Angst vor dem Alleinsein zu entkommen. Das Bild, das Eheratgeber zeichnen, ist entsprechend funk­tion­al­is­tisch: Die Partner agieren als Team. Sie begegnen einander tolerant und höflich, dringen aber niemals zum Kern des Anderen vor.

„Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.“ (S. 82)

Auch Freud entspricht mit seiner Gle­ich­set­zung von Liebe und Sex dem Zeitgeist des Kap­i­tal­is­mus. Die populäre Vorstellung, wenn man nur die richtige Technik beim Sex beherrsche, stelle sich Liebe von selbst ein, ist jedoch falsch. Wahre Liebe bedeutet, dass zwei Menschen sich nicht nur körperlich, sondern aus dem „Wesen ihres Seins“ heraus verbinden.  Die kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft aber bevorzugt ver­schiedene Formen von Pseudoliebe wie die abgöttische Verehrung, die in Enttäuschung endet, oder die sen­ti­men­tale Liebe, die nur in der Fantasie erlebt und durch Liebesgeschichten und -filme befriedigt wird.

Die Praxis der Liebe

Reife Liebe erfordert Disziplin, Konzen­tra­tion und Geduld – Eigen­schaften, die in unserer nach Entspannung, Zerstreuung und Tempo strebenden Gesellschaft kaum Wertschätzung genießen. Um die Kunst des Liebens zu erlernen, muss man diese Eigen­schaften praktisch üben. Morgens früh aufstehen, eine Stunde meditieren, lesen oder spazieren gehen, schlechte Bücher und Filme meiden sowie maßhalten beim Essen und Trinken sind gute Vorübungen, sofern man sie freiwillig praktiziert. Ohne Ablenkung durch Fernsehen, Radio, Bücher und All­t­ags­gedanken mit sich selbst allein sein können ist auch eine Vorbe­din­gung für die Fähigkeit zu lieben. Ob man liest, sich unterhält oder Musik hört – man sollte sich immer nur mit einer Sache beschäftigen und ganz im Hier und Jetzt leben. Man sollte ein Gespür für sich selbst und für andere Menschen entwickeln, seinen Narzissmus überwinden und die Welt mit Objektivität, Vernunft und Demut betrachten lernen. Vor allem aber muss sich unsere rein mark­to­ri­en­tierte Gesellschaft verändern, wenn Liebe zu einem ver­bre­it­eten Phänomen werden und nicht bloß eine Ran­der­schei­n­ung bleiben soll.

Zum Text

Aufbau und Stil

Zu Beginn von Die Kunst des Liebens un­ter­schei­det Erich Fromm die Theorie der Liebe von deren Praxis. Den Großteil seines Buches widmet er den the­o­retis­chen Vo­raus­set­zun­gen der Liebe, wobei er die ver­schiede­nen Arten der Liebe – von der Eltern-, Nächsten- und Gottesliebe über die erotische Liebe bis zur Selbstliebe – in jeweils eigenen Kapiteln abhandelt. Erst ganz am Schluss des Buches kommt der Autor auf die Praxis des Liebens zu sprechen. Auch in diesem letzten Kapitel geht es allerdings weniger um konkrete, im Alltag umsetzbare Tipps für eine gelungene Liebes­beziehung als vielmehr um die charak­ter­lichen Vo­raus­set­zun­gen, die man dafür mitbringen muss. Fromm bemüht sich bewusst um einen einfachen, klaren Stil sowie eine allgemein verständliche und an­schauliche Sprache. Er vermeidet so weit wie möglich Hinweise auf Fach­lit­er­atur und -diskus­sio­nen, bezieht sich aber im Vorübergehen immer wieder auf große Philosophen von Aristoteles über Kant bis Marx. Seine Ausführungen sind nüchtern und sachlich, dabei aber mit großem persönlichen Engagement und spürbarer Lei­den­schaft für das Thema vorgetragen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • In Die Kunst des Liebens grenzt sich Erich Fromm von der damals sehr populären Rat­ge­ber­lit­er­atur seiner Zeit ab und dämpft die Erwartungen der Leser, die sich von seinem Buch einfache „Do-it-your­self-Rezepte“ erhoffen. Liebe ist für ihn eine persönliche Erfahrung, für die es keine Patentlösungen gibt.
  • Fromm geht es nicht um die Beseitigung neu­ro­tis­cher Störungen, sondern um die Reifung und das ganzheitliche Wachstum der Persönlichkeit. Beeinflusst wurde seine hu­man­is­tis­che Psychologie von Meister Eckart, Kant, Spinoza und Marx, aber auch vom Zen-Bud­dhis­mus, für den sich Fromm ab den frühen 1950er-Jahren in­ter­essierte.
  • Fromm geht von einer starken Zeit­ge­bun­den­heit psychischer Erfahrungen aus. Unser Erleben, Denken und Fühlen sieht er als von gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnissen geprägt und somit kon­tinuier­lichem Wandel unterworfen.
  • In Abgrenzung von Freuds Li­bido-The­o­rie, die vom isolierten, triebges­teuerten Individuum ausgeht, betont Fromm, der sich in Amerika von Freuds Lehre zu lösen begann, in seiner Beziehungs­the­o­rie die ursprüngliche Verbindung des Menschen zu seinen Mitmenschen, zur Natur und zu sich selbst. Liebe ist für ihn nicht wie für Freud ein Phänomen gelungener Trieb­sub­li­ma­tion, sondern – neben der Vernunft – eine Urfähigkeit des Menschen.
  • Der bei Fromm zentrale Begriff der Aktivität ist nicht im Sinne von Tätigsein oder gar Aktivismus zu verstehen, sondern im Marx’schen Sinne als Selb­st­wirk­samkeit, als selb­st­bes­timmtes Tätigsein, bei dem der Mensch sich selbst als handelndes, fühlendes und denkendes Subjekt erfährt.
  • Fromm widmet der Religion ein eigenes Kapitel, in dem er Parallelen zwischen Eltern- und Gottesliebe zieht: Wie das Kind sich allmählich von der Mutter- und Vaterliebe befreit und beide verin­ner­licht, so löst sich die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte von der primitiven Vorstellung eines mütterlichen bzw. väterlichen Gottes und in­ter­nal­isiert abstrakte göttliche Prinzipien wie Liebe und Gerechtigkeit. Der verbreitete Glaube an einen göttlichen, helfenden Vater ist für Fromm infantil.

His­torischer Hintergrund

Massenkon­sum und Kul­turkri­tik in den 1950er-Jahren

Trotz der Angst vor einem Atomkrieg und der stal­in­is­tis­chen Sowjetunion waren die 1950er-Jahre in den USA geprägt von unge­broch­enem Fortschritts­glauben sowie der Hoffnung auf privates Glück und materiellen Wohlstand. Nach der trau­ma­tis­chen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ori­en­tierten sich die Amerikaner meist an bürg­er­lich-kon­ser­v­a­tiven Werten. Nach Jahrzehnten demokratis­cher Vorherrschaft gelangte mit Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 erstmals wieder ein Re­pub­likaner an die Macht. Der allgemeine Optimismus spiegelte sich auch im steilen Anstieg der Geburten­zahl wider, der 1957 mit einer Re­pro­duk­tion­srate von 3,6 Kindern pro gebärfähiger Frau seinen Höhepunkt erreichte. Von 1945 bis 1964 wuchs die amerikanis­che Bevölkerung um rund 60 Millionen auf 193 Millionen Einwohner. 

Die op­ti­mistis­che Stimmung der 50er-Jahre gründete sich auf ein stabiles Wirtschaftswach­s­tum von jährlich rund 4 Prozent. Ra­tio­nal­isierung und Steigerung der Produktivität führten zu einem kräftigen Anstieg der Reallöhne und damit auch der Massenkaufkraft. In der Folge kam es zu einer allgemeinen Anhebung des Lebens­stan­dards. Millionen von Amerikanern ver­wirk­lichten sich ihren Traum von einem Eigenheim in der Vorstadt. Autos und Fernseher, Waschmaschi­nen und Staubsauger wurden zumindest für die weiße Mit­telschicht zur Selbstverständlichkeit. Auch die beliebten Un­ter­hal­tungsshows und Werbespots im neuen Medium Fernsehen waren geprägt von der wohlhaben­den weißen Mit­telk­lasse. Sie ver­mit­tel­ten ein tra­di­tionelles Bild von Familie, in der Frauen ihre Rolle als Hausfrau und Mutter erfüllten.

Das amerikanis­che Modell der modernen Industrie- und Kon­sumge­sellschaft löste bei In­tellek­tuellen Unbehagen aus. Kul­turkri­tiker der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die unter den Na­tion­al­sozial­is­ten in die USA emigriert waren, sahen Konsum und Kreativität als un­vere­in­bare Größen und äußerten die Befürchtung, die Kultur werde vom Konsum aufgezehrt. Ob im Jazz oder Schlager, in Hol­ly­wood­fil­men, Liebesro­ma­nen oder Il­lus­tri­erten: aus Sicht linker – wie übrigens auch bürg­er­lich-kon­ser­v­a­tiverer – In­tellek­tueller waren solche Erzeugnisse der Kul­turindus­trie Ausdruck des allgemeinen moralischen Verfalls. In düsteren Farben zeichneten sie das Bild des stan­dar­d­isierten, uni­formierten und kon­formistis­chen Bürgers der modernen Mas­sen­ge­sellschaft, der auf einen Träger des Ware­naus­tausches reduziert wird.

Entstehung

Nach dem frühen Tod seiner zweiten Frau heiratete Erich Fromm 1953 zum dritten Mal. Mit seiner Frau Annis Freeman lebte Fromm in den 50er-Jahren in der Nähe von Mexiko-Stadt. Schon bald wurde er zum Mittelpunkt einer Gruppe von In­tellek­tuellen, die ebenso wie er konkrete Gesellschaftsveränderungen anstrebten. 

Das Buch Die Kunst des Liebens entstand auf Anregung der mit Fromm be­fre­un­de­ten amerikanis­chen Philosophin Ruth Nanda Anshen, die eine Buchreihe namens World Perspective plante. Im Vorwort zu der Reihe erklärte sie, es gehe ihr darum, eine alle Disziplinen einschließende Wis­senschaft vom Menschen zu fördern. Für ihr Projekt wollte sie zeitgenössische Denker ver­schiedener Richtungen gewinnen, die Wege in die Zukunft aufzeigen sollten. Anshens Ziel war es, den Glauben an den Menschen und an seine Kraft, die eigene Geschichte selbst zu bestimmen und eine humane Gesellschaft zu entfalten, zu stärken – eine Absicht, die von Fromms hu­man­is­tis­cher Psychologie beeinflusst wurde. Im Lauf der Jahre veröffentlichte Fromm mehrere Schriften in Anshens Reihe, darunter 1976 auch Haben oder Sein.

Für Die Kunst des Liebens griff Fromm auf einige seiner früheren Schriften zurück, etwa auf Die Furcht vor der Freiheit (1941), Psy­cho­analyse und Ethik (1946) oder Psy­cho­analyse und Religion (1949). Die Kunst des Liebens erschien 1956 in New York auf Englisch als neunter Band der Reihe World Per­spec­tives.

Wirkungs­geschichte

Nachdem Erich Fromm mit seinem Buch Haben oder Sein 1976 den Durchbruch als Autor erlangt hatte, wurde auch Die Kunst des Liebens – 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung – zu einem Bestseller und schließlich zu seinem größten Erfolg. Das Buch wurde in 50 Sprachen übersetzt und erlebte ins­beson­dere in China in den letzten Jahren einen wahren Boom. Mit weltweit mehr als 25 Millionen verkauften Exemplaren ist es eines der er­fol­gre­ich­sten Sachbücher aller Zeiten. Kritik kam von ehemaligen Weggefährten Fromms wie Herbert Marcuse, der Fromm eine Verstümmelung von Freuds Lehre vorwarf.

Über den Autor

Erich Fromm wird am 23. März 1900 als einziges Kind orthodoxer jüdischer Eltern in Frankfurt geboren; er soll wie viele seiner Vorfahren Rabbiner werden. 1918 beginnt er zu studieren, zunächst für zwei Semester Jura, dann wechselt er zum Sozi­olo­gi­es­tudium nach Heidelberg. Er promoviert 1922 mit Das jüdische Gesetz. 1926 heiratet er die Psy­cho­an­a­lytik­erin Frieda Reichmann. Das Paar gibt seine orthodox-jüdische Lebensweise auf. Fromm lässt sich selbst zum Psy­cho­an­a­lytiker ausbilden. 1930 wird er am Frankfurter Institut für Sozial­forschung Leiter der Sozialpsy­chol­o­gis­chen Abteilung, außerdem zählt er zum Berliner Kreis marx­is­tis­cher Psy­cho­an­a­lytiker. 1931 trennt er sich von Frieda Reichmann, bleibt jedoch mit ihr befreundet. Gleich nach Hitlers Machter­grei­fung 1933 emigriert er zunächst nach Genf und dann in die USA. Er lehrt in New York und wird als Mitbegründer einer neo­freudi­an­is­chen Psy­cho­analyse zu einem der ein­flussre­ich­sten Psy­cho­an­a­lytiker Amerikas. Ende 1939 kommt es zum Bruch mit dem Frankfurter Institut für Sozial­forschung. 1940 erhält Fromm die amerikanis­che Staatsbürgerschaft, 1944 heiratet er die deutschjüdische Emigrantin Henny Gurland. 1949 übersiedelt er nach Mexiko City und baut dort an der Universität eine psy­cho­an­a­lytis­che Abteilung auf. 1953 heiratet er nach dem Tod seiner Frau die US-Amerikanerin Annis Freeman. Ab 1957 ist er in der US-amerikanis­chen Friedens­be­we­gung aktiv. Die ganze Zeit über praktiziert er auch als Analytiker und schreibt eine Reihe von Büchern zur Psy­cho­analyse und zur Gesellschaft. Viele werden zu Bestsellern: Neben Haben oder Sein (To Have or to Be?, 1976) ist sein bekan­ntestes Buch Die Kunst des Liebens (The Art of Loving, 1956). 1974 geht Fromm in die Schweiz, nach Muralto, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Er stirbt 1980 an seinem vierten Herzinfarkt, fünf Tage vor seinem 80. Geburtstag.