Bouvard und Pécuchet

Buch Bouvard und Pécuchet

Paris , 1881
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Zwei Dilettanten auf in­tellek­tueller Aben­teuer­fahrt

Man kann Gustave Flauberts 1881 er­schienenes letztes Werk Bouvard und Pécuchet mit Fug und Recht als einen großen An­tibil­dungsro­man bezeichnen. Mit der lei­den­schaftlichen Begeis­terung von Dilettanten erobern die beiden traurigen Helden, zwei ehemalige Beamte, die ver­schieden­sten Wis­sens­ge­bi­ete, vom Gartenbau über Architektur und Medizin bis zur Geschichte und Philosophie, nur um sich jedes Mal wieder enttäuscht davon abzuwenden. Ihr Versuch, die Welt mithilfe der Wis­senschaften zu begreifen, scheitert gründlich, und so kehren sie zu ihrem lang­weili­gen Schreiber­da­sein zurück. Mit der slap­stickar­ti­gen, sich im Kreis drehenden Handlung und den ins Karikaturhafte überze­ich­neten Figuren lässt das Buch alle Erwartungen an den klassischen Roman ins Leere laufen. Sein Inhalt sind die Phrasen, die Klischees und das pseudowis­senschaftlich unterfütterte Geplapper, in dem sich das Main­stream­denken des 19. Jahrhun­derts wider­spiegelt. Trotzdem ist das Buch nicht von gestern: Angesichts der heutigen Allverfügbarkeit von In­for­ma­tio­nen ist Flauberts kritischer Abgesang auf Wis­senschaftsgläubigkeit und Fortschrittsop­ti­mis­mus aktueller denn je.

Take-aways

  • Gustave Flauberts Roman Bouvard und Pécuchet ist eine Satire auf die Wis­senschaftsgläubigkeit und das Fortschrittspathos seiner Zeit.
  • Inhalt: Des Großstadt- und Bürolebens überdrüssig, ziehen die beiden Beamten Bouvard und Pécuchet aufs Land. Sie beschäftigen sich intensiv mit ver­schieden­sten Themen, vom Gartenbau über Chemie und Architektur bis zur Philosophie, um schließlich einzusehen, dass all das Wissen sie der Wahrheit nicht näher bringt. Sie werden wieder Schreiber.
  • Das Werk, das selbst enzyklopädischen Charakter besitzt, führt die Auswüchse eines aufklärerischen Enzyklopädismus vor.
  • Flaubert stellt Phrasen, Klischees und platte Re­dewen­dun­gen seiner Zeitgenossen als Produkt bürgerlicher Halbbildung bloß.
  • Die Handlung ist min­i­mal­is­tisch, und die Figuren sind karikat­u­rar­tig überzeichnet.
  • In dem Roman drückt sich Flauberts Hass auf das Bürgertum und seine Enttäuschung über die gescheit­erten bürgerlichen Rev­o­lu­tio­nen aus.
  • Im Buch ist auch eine Tendenz zur Selb­st­par­o­die zu erkennen, denn manche Züge und Vorlieben der schrulligen Figuren teilte der Autor selbst.
  • Bouvard und Pécuchet steht in der Tradition des grotesken Schel­men­ro­mans, wie ihn Rabelais und Cervantes geprägt haben.
  • Autoren wie James Joyce, Raymond Queneau und Jorge Luis Borges bewunderten Flauberts unvollendet gebliebenes Spätwerk.
  • Zitat: „Da entwickelte sich in ihrem Geist eine be­dauer­liche Fähigkeit: die Dummheit zu sehen und sie nicht ertragen zu können.“
 

Zusammenfassung

Lust und Last des Landlebens

An einem heißen Sonntag in Paris nehmen zwei Spaziergänger, der liebenswürdige Bouvard und der ernste Pécuchet, gle­ichzeitig Platz auf einer Bank. Vom ersten Augenblick an fühlen sie sich zueinander hingezogen. Sie kommen ins Gespräch und stellen zahlreiche Gemein­samkeiten fest: Beide arbeiten als Kopisten, sind 47 Jahre alt und alle­in­ste­hend, beide sind der Großstadt und des eintönigen Büroalltags überdrüssig und sehnen sich nach dem Landleben. Sie freunden sich an, treffen sich häufig und bestärken einander in ihrem Wunsch nach einem Leben fern von Schreibtis­char­beit und Vorge­set­zten, in einem eigenen Haus mit Hühnern und selbst angebautem Gemüse. Eine unverhoffte Erbschaft Bouvards ermöglicht ihnen eines Tages, diesen Traum zu ver­wirk­lichen. Sie kaufen ein Gut samt Pachthof und kleinem Schloss in Chav­i­g­nolles, in der Normandie.

„So hatte ihr Zusam­men­tr­e­f­fen die Bedeutung eines Abenteuers gehabt. Sie hatten sich plötzlich mit geheimen Fibern aneinander festgehakt.“ (über Bouvard und Pécuchet, S. 17)

Kaum aufs Land gezogen, beschäftigen sich Bouvard und Pécuchet mit der Land­wirtschaft. Sie bauen Weizen an, pflanzen Blumen und Gemüse. Doch trotz größter Bemühungen und intensiver Studien misslingt ihnen alles. Die Stecklinge wachsen nicht, das Gemüse fault, die Blumen gehen ein, die Erprobung ver­schieden­ster Düngungen der Felder schadet mehr, als dass sie nutzt. Die beiden starten einen weiteren Versuch mit Obstbäumen. Von morgens bis spät in die Nacht arbeiten sie draußen, pflanzen, beschneiden die Bäume und lesen Handbücher – umsonst. Ein Unwetter zerstört ihre Pläne, und zugleich keimt in ihnen der Verdacht, die ganze Lehre vom Obst- und Ackerbau könnte nur Schwindel sein. Also verlegen sie sich auf Garte­nar­chitek­tur, erschaffen einen Garten mit Felsen und Labyrinthen, Pagoden und Brücken. Bei den anderen Dorf­be­wohn­ern, dem Bürgermeister Foureau, Doktor Vaucorbeil, Abbé Jeufroy und der Witwe Madame Bordin, stößt ihre Gartenkunst indes nur auf Häme. Enttäuscht ziehen sie sich zurück, versuchen sich an der Produktion von Likör und Eingemachtem, doch auch dieses Experiment misslingt und sie stehen vor dem Ruin. Lag es, so überlegen sie, womöglich an ihren mangelnden Chemieken­nt­nis­sen?

Die Irrwege der Natur- ...

Die Chemie erweist sich als äußerst komplexer Gegenstand, und so wenden sich Bouvard und Pécuchet stattdessen bald der Physiologie des Menschen zu, studieren Muskeln, Organe, Sinneskräfte und Ver­dau­ung­sprozesse mit geradezu religiöser Andacht. Sie stellen zahlreiche Experimente an, die allesamt misslingen. Immer wieder verfallen sie auf neue Ideen, halten mal Würmer für die Ursachen aller Beschwerden, setzen sich dann für die Pock­en­schutz­imp­fung ein, besuchen Kranke, erteilen Ratschläge – und dies alles zum Verdruss des Arztes Vaucorbeil. Der setzt auf praktische Erfahrung statt auf Systematik, doch die beiden Freunde verweisen auf große Wis­senschaftler, die keinerlei Praxis gehabt hätten. Je weiter sie in die Materie vordringen, desto mehr Widersprüche tauchen auf. Soll man Kaffee oder Tee trinken? Ist Fleisch ungesund, Käse schwer verdaulich, Fisch schädlich? Was darf man überhaupt noch essen? Verwirrt von den einander wider­sprechen­den In­for­ma­tio­nen essen sie einfach wieder, was ihnen schmeckt, und trinken Kaffee wie eh und je.

„Fern an einem Horizont, der täglich weiter wurde, gewahrten sie Dinge, die undeutlich waren und wunderbar zugleich.“ (S. 19)

Ihr Interesse richtet sich nun auf die Entstehung des Universums und die Erdzeital­ter. Sie unternehmen geologische Ex­pe­di­tio­nen, sammeln Fossilien und Gesteine, etiket­tieren, sys­tem­a­tisieren und stellen allerlei Speku­la­tio­nen über Weltanfang und -ende an. Mit Abbé Jeufroy diskutieren sie über die Schöpfungs­geschichte der Bibel, und im Eifer des Gefechts behaupten sie, der Mensch stamme vom Affen, ja sogar vom Fisch ab. Doch irgendwann vergeht ihnen die Lust an der Geologie. Zu vieles ist unklar, und kaum hat man eine Sache verstanden, tun sich unzählige neue Fragen auf. Sie verlegen sich auf die Archäologie, doch auch hier stoßen sie auf eine Menge ungelöster Fragen und Probleme.

... und der Geis­teswis­senschaften

Als Nächstes widmen sie sich der französischen Geschichte. Sie entwickeln Misstrauen gegenüber den widersprüchlichen Darstel­lun­gen der Historiker. Je nach politischer Haltung verurteilen oder verteidigen diese die Französische Revolution; bei näherer Betrachtung bröckeln indes alle Meinungen und Gewis­sheiten. Um sich ein objektives Bild zu verschaffen, müsste man alle Quellen studieren, und dazu haben die beiden keine Lust. Also wenden sie sich den älteren Zeiten zu, aber hier lassen sich Mythos und Wahrheit ebenfalls nicht au­seinan­der­hal­ten. Auch ältere Historiker sind in ihrer Darstellung parteiisch, und so beschließen Bouvard und Pécuchet, selbst ein Geschichtswerk zu verfassten: über den Herzog von Angoulême. Die reinen Fakten und Daten sind schnell zusam­menge­tra­gen, doch als sie zu seinen Liebesaffären kommen, regen sich erste Zweifel. Ohne Ein­bil­dungskraft und psy­chol­o­gis­che Kenntnisse lässt sich keine Biografie schreiben, müssen sie erkennen.

„Was für ein Land! Dümmer, bar­barischer und rückständiger konnte man nicht sein. Der Vergleich, den sie zwischen sich und den anderen anstellten, war ihnen ein Trost; sie lechzten danach, für die Wis­senschaft zu leiden.“ (S. 76)

Die beiden Aussteiger beginnen, historische Romane, Liebesro­mane und Aben­teuer­ro­mane zu lesen, aber schon bald langweilen sie sich bei Walter Scott, Alexandre Dumas und George Sand. Auch die Tragödien Racines und Voltaires, an denen sie zunächst das Pathos schätzen, erscheinen ihnen nach einer Weile gekünstelt und albern, desgleichen Komödien und bürgerliche Trauer­spiele. Sie versuchen sich selbst als Stück­eschreiber, und da sie nichts zustande bringen, beginnen sie die Regeln zu studieren. Sie vertiefen sich in die Grammatik, kommen damit aber auch nicht weiter, scheitern an einem Roman und richten ihr Augenmerk auf die Ästhetik. Hier verlieren sie sich genauso in Spitzfind­igkeiten und kommen zu dem Schluss, dass die ganze Literatur ein einziger Schwindel sei.

Politische De­sil­lu­sion­ierung

Die Nachricht von der Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion in Paris schreckt die Provinz auf. Die Bürger sind bestürzt über die Verkündung der Republik, aber als sie hören, dass alle In­sti­tu­tio­nen von der An­walt­skam­mer bis zur Universität hinter der neuen Regierungs­form stehen, sind sie auch dafür. Feiern werden gehalten, Bouvard und Pécuchet stiften einen Frei­heits­baum, der Pfarrer hält eine Rede. Auch Guts­be­sitzer Baron de Faverges und Doktor Vaucorbeil sind begeistert. Doch schon bald schlägt die Stimmung um. Der Frei­heits­baum wird gefällt, niemand in­ter­essiert sich mehr für die Reformpläne und Ver­fas­sungskämpfe, und die Kon­ser­v­a­tiven gewinnen haushoch die Wahlen – zum Glück von Faverges, Bürgermeister Foureau und Abbé Jeufroy, die ihren Triumph mit einem Festessen feiern. Bouvard und Pécuchet sind empört über die Dummheit der Wähler, sie verachten die Minderheit ebenso wie die Mehrheit, die Aris­tokraten ebenso wie die Masse des Volks. Ob Rousseaus Gesellschaftsver­trag oder Saint-Si­mons und Proudhons sozial­is­tis­che Schriften eine Lösung bieten? Anders als Pécuchet, der noch daran glaubt, die Welt verbessern zu können, hat Bouvard jeden Glauben an politische Theorien und Systeme verloren.

Körperliches und Übersinnliches

Ermüdet wenden Bouvard und Pécuchet sich von ihren Studien ab. In der ländlichen Langeweile keimt in ihnen die Sehnsucht nach Liebe auf. Der jungfräuliche Pécuchet hat heimlich ein Auge auf die Magd Mélie geworfen, während der in Liebes­din­gen erfahrene Bouvard hinter Pécuchets Rücken der Witwe Bordin den Hof macht. Beider Hoffnungen werden enttäuscht. Bouvard muss feststellen, dass die Witwe es nur auf sein Land abgesehen hat, und Pécuchet zieht sich eine Geschlecht­skrankheit zu. Sie sind sich einig: Frauen sind falsch, sie machen den Mann zum Tier und treiben ihn ins Verbrechen. Fast hätten sie ihre Fre­und­schaft zerstört. Fortan wollen sie ohne Frauen leben und ihre Körper durch kalte Wassergüsse und Gymnastik stärken.

„Ihr Verstand breitete sich aus. Sie waren stolz darauf, über so bedeutende Gegenstände nachzu­denken.“ (S. 95)

Bei den sportlichen Übungen, die sie nach genauer Anleitung aus Büchern betreiben, verletzen sie sich, und aus Angst vor Unfällen verzichten sie bald lieber auf jede Bewegung. Dafür beschäftigen sie sich mit in Mode gekommenen Phänomenen wie dem Tischrücken und dem Mag­netisieren. Sie glauben bald selbst daran – obwohl Vaucorbeil zweifelt und die Macht der Suggestion dahinter vermutet. In ihrer neu erwachten Begeis­terung für das Übersinnliche tauchen Bouvard und Pécuchet in spiri­tis­tis­che Lehren ein. Wie kann man sich Geis­ter­erschei­n­un­gen erklären? Wie vermögen manche mit bloßem Willen auf die unbelebte Materie einzuwirken? Gibt es eine Zwis­chen­sub­stanz zwischen unserer Welt und dem Jenseits? Sie beschließen, Magier zu werden, ändern ihren Leben­srhyth­mus, fasten und verwenden allerlei Za­uberge­genstände, um in Trance zu geraten, doch schon bald sind sie ernüchtert: Die hyp­no­tisierende Kraft, stellen sie fest, hat materielle Ursachen. Diese Erkenntnis bringt sie zu philosophis­chen Fragen.

Die Tücken der Metaphysik

Was ist Materie? Was ist Geist? Ist die Seele unsterblich? Gibt es Gott? Auf der Suche nach Antworten lesen Bouvard und Pécuchet La Mettrie, Locke und Spinoza – viel zu schwere Kost. Also wenden sie sich der Psychologie zu, die auf Selb­st­beobach­tung beruht. Zwei Wochen lang erforschen sie ihr Bewusstsein – ohne Ergebnis. Ihre Diskus­sio­nen führen sie zu der Frage, ob Ideen und Begriffe angeboren sind, wie Descartes behauptet, oder durch sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung erworben. Angewidert von den Gemeinplätzen, die viele Autoren verbreiten, wenden sie sich schließlich der Logik und der Sprach­philoso­phie, dann der Metaphysik zu. Aber irgendwann haben sie die ganze Philosophie satt. Man kann auch ohne sie leben.

„Über die Menschen und Tatsachen jener Zeit hatten sie keine einzige feste Meinung mehr.“ (S. 143)

Trotzdem holen meta­ph­ysis­che Fragen sie im Alltag wieder ein. Ob Regen oder Son­nen­schein, Blumen oder Steine: Was ist das Wesen der Materie? Pécuchet, der glaubt, dass nichts existiert, geht dem bodenständigeren Bouvard mit seinem spitzfind­i­gen Idealismus auf die Nerven. Mithilfe abstrakter Worte, die man nicht versteht, das zu erklären, was man nicht versteht, bringe einen nicht weiter, wendet er ein. Kraft, Materie, Substanz, Seele: lauter hohle Begriffe. Zum Unmut ihrer Mitmenschen ziehen die beiden nun alles von der Keuschheit der Frauen bis zum gesunden Verstand des Volks in Zweifel. Sie entwickeln ein besonderes Gespür für die Be­lan­glosigkeit und Dummheit ihrer Umgebung – und das macht sie traurig. Völlig verarmt und verwahrlost beschließen sie, Selbstmord zu begehen, doch im letzten Augenblick, es ist der Abend des 24. Dezembers, werden sie davon abgehalten, als sie die Menschen zur Mit­ter­nachtsmesse strömen sehen. Auch sie gehen dorthin.

Religiöse, pädagogische und andere Enttäuschungen

Nach allen Enttäuschungen verspüren Bouvard und Pécuchet das Bedürfnis nach Liebe und Ruhe. Dankbar und gerührt lesen sie die Bibel, öffnen ihr Herz für die Armen und Bedrückten, glauben an Wunder, statten ihr Haus mit christlichen De­vo­tion­alien aus und unternehmen sogar eine Wallfahrt. Während der lebenslustige Bouvard Gott in den schönen Dingen erkennt und sich wenig um kirchliche Vorschriften schert, entwickelt Pécuchet eine übersteigerte Frömmigkeit. Indes, selbst nachdem er die Sakramente empfangen hat, fühlt Bouvard sich nicht gewandelt, und auch Pècuchet, der streng alle Vorschriften und Riten befolgt, erreicht nicht den Zustand vol­lkommener Vergeis­ti­gung. Bouvard kommen Zweifel an den Lehren der Erbsünde, der Hölle oder der Dreieinigkeit. Auch Pécuchet, der sich über Abbé Jeufroys Borniertheit ärgert, bemerkt Un­stim­migkeiten in der Bibel. Schließlich weiß er nicht einmal mehr, was er von Jesus halten soll, und will Buddhist werden. Nach und nach rücken die beiden von der Religion, deren staat­stra­gende Funktion sie miss­bil­li­gen, ab.

„Bouvard und Pécuchet fühlten sich von der Minderheit ebenso abgestoßen wie von der Mehrheit. Im Großen und Ganzen taugte die Aris­tokratie ebenso wenig wie die Plebs.“ (S. 197)

Stattdessen glauben sie nun an die Pädagogik. Sie nehmen zwei Kinder eines Verbrechers bei sich auf und probieren die ver­schieden­sten Erziehungsmeth­o­den an ihnen aus. Rousseau und die Wis­senschaft der Phrenologie, die aus der Kopfform eines Menschen Schlüsse über seinen Charakter zieht, beschäftigen sie ebenso wie die Frage, ob rationale Lehrmeth­o­den empirischen vorzuziehen sind oder ob moralische Belehrungen letztlich fruchten. Ihre beiden Adop­tivkinder sind gelangweilt und quälen Tiere. Strafen ver­schlim­mern alles, und selbst Schläge und die Religion erweisen sich als untauglich. Angesicht der missratenen Geschöpfe wird klar: Die pädagogischen Bemühungen sind fehlgeschla­gen.

„Aus Angst vor Enttäuschungen trieben sie keine Studien mehr; die Einwohner von Chav­i­g­nolles hielten sich von ihnen fern; die Zeitungen, die erlaubt waren, brachten nichts Neues, und ihre Einsamkeit war tief, ihre Untätigkeit vollständig.“ (S. 213)

Weil sie einen Waldhüter beleidigen, werden Bouvard und Pécuchet zu einer Geldstrafe verurteilt, was sie dazu bringt, das ganze Rechts- und Steuer­sys­tem infrage zu stellen – zum Unmut der örtlichen Hon­o­ra­tioren. Die beiden Sonderlinge erhalten fortan Kneipen­ver­bot. Um ihre Mitbürger für sich zu gewinnen, ersinnen sie Ideen zur Ortsverschönerung, doch ihre Pläne eines idealen Chav­i­g­nolles versetzen die Bewohner in Unruhe. Langeweile tritt ein. Ob sie sich, wo sie mit der Kinder­erziehung gescheitert sind, der Erwach­se­nen­bil­dung zuwenden sollten? Ihr öffentlicher Vortrag über die Dummheit der Regierung und das mangelhafte Steuer­sys­tem, über das Zölibat und die Frauen­e­manzi­pa­tion ruft die Obrigkeit auf den Plan. Da sie Reue zeigen, wird der Haftbefehl ausgesetzt. Bouvard und Pécuchet haben keine Interessen mehr und kehren in ihren alten Beruf zurück: Sie werden Schreiber.

Zum Text

Aufbau und Stil Bouvard und Pécuchet ist in zehn Kapitel unterteilt, die alle dem gleichen kreis­ar­ti­gen Muster folgen: Zu Beginn beschäftigen sich Flauberts Helden immer euphorisch mit einem Thema, um sich am Ende enttäuscht davon abzuwenden. Insgesamt ist der Roman mehr vorführend als im klassischen Sinn erzählend. Die slap­stickar­tige Handlung ist auf ein Minimum reduziert, die Figuren wirken überzeichnet und mechanisch, sind eher Karikaturen als widersprüchliche und en­twick­lungsfähige Charaktere. Doch darauf kommt es Flaubert auch gar nicht an. Ihm geht es darum, die Vielfalt von wis­senschaftlichen Theorien und Methoden, Meinungen und Vorurteilen seiner Zeit zu präsentieren – und die Lehren in ihrer Be­liebigkeit bloßzustellen. Ob es um Land­wirtschaft, Medizin oder Religion geht: Extrem dicht und verkürzt stellt er Theorien, Meinungen und Argumente vor, zitiert Fachbücher, Handbücher, Lexika. Der trockene, scheinbar nüchterne Tonfall, in dem der Autor Fakten aneinan­der­reiht, lässt seine ironische Grund­hal­tung erkennen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Bouvard und Pécuchet steht in der Tradition des grotesken Schel­men­ro­mans von Rabelais’ Pantagruel über Cervantes’ Don Quijote bis zu Voltaires Candide. Besonders der Bezug zu Voltaire ist of­fen­sichtlich: Candide rechnet mit dem Optimismus der alten politischen, sozialen und religiösen Ordnung ab und setzt seine Hoffnung schließlich auf den bürgerlichen Wert der Arbeit; Flauberts Pro­tag­o­nis­ten kehren am Ende in ihren Beamten­beruf zurück.
  • Das Werk, das mangels jeglicher Entwicklung als An­tibil­dungsro­man bezeichnet werden kann, ist zweifellos Flauberts pes­simistis­chster und düsterster Text. Auf tragikomis­che Weise the­ma­tisiert es die Verge­blichkeit allen Strebens und aller guten Vorsätze. Das Scheitern liegt in der men­schlichen Natur. Trotz dieses Scheiterns entwickeln die beiden Au­to­di­dak­ten im Lauf ihrer Studien immerhin die Fähigkeit, die Dummheit ihrer Mitmenschen zu durch­schauen und Phrasen, Klischees und Vorurteile als das Produkt bürgerlicher Halbbildung zu entlarven.
  • Flaubert führt den kulturellen Niedergang der westlichen Zivil­i­sa­tion auf das Zeitalter der Aufklärung zurück, in dem enzyklopädisches Wissen einen hohen Stellenwert hatte. Er karikiert die Auswüchse eines solchen Enzyklopädismus: Ohne Unterschied werden Fakten gesammelt und kat­e­gorisiert, was zu einem lähmenden Rel­a­tivis­mus und letztlich zum Nihilismus führt. Die Erwartung, durch Anhäufung wis­senschaftlicher Theorien in den Besitz einer endgültigen Wahrheit zu gelangen, erweist sich als Illusion.
  • Flauberts Verachtung trifft alle Klassen: Bürger, Arbeiter und Bauern, Arme wie Reiche gleichermaßen. Er sieht keine Hoffnung auf Fortschritt. Gesellschaftliche Umstürze wie der von 1848 lassen die auf Eigennutz bedachte Natur des Menschen nur noch stärker her­vortreten.
  • Bei aller Gesellschaft­skri­tik lässt Flaubert in Bouvard und Pécuchet auch die Tendenz zur Selb­st­par­o­die erkennen. Viele Züge und Vorlieben der beiden dilet­tan­tis­chen Kleinbürger teilte der Autor – von ihrer selbstquälerischen Ar­beitsweise über die Vorliebe für Nippes bis zu ihrer tiefen Melancholie.

His­torischer Hintergrund

Revolution, Restau­ra­tion und der Siegeszug des Pos­i­tivis­mus

Durch die Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion von 1848 wurde in Frankreich Louis-Philippe I. entmachtet und die Republik unter Führung des liberalen Politikers Alphonse de Lamartine ausgerufen. Schon wenige Wochen nach dem vorübergehenden Sieg des Volkes setzte indes die Reaktion des Großbürgertums ein. Louis Napoleon Bonaparte, der Neffe Napoleon Bonapartes, der erst drei Jahre zuvor wegen seines Versuchs, sich zum Kaiser zu krönen, verbannt worden war, wurde mit überwältigender Mehrheit zum Staatspräsidenten gewählt. Zuvor waren die Proteste der Ar­beit­er­schaft blutig niedergeschla­gen worden. Drei Jahre später glückte Bonaparte der Staatsstre­ich, der ihm nahezu dik­ta­torische Vollmacht bescherte. Er erklärte sich zum Kaiser Napoleon III. und begründete damit das Zweite Kaiserreich, das bis 1871 währen sollte. Nachdem Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 vor den deutschen Truppen kapituliert hatte, errichteten Arbeiter und Teile der Na­tion­al­garde die Pariser Kommune, die unter anderem für die Abschaffung des Adels, die Beteiligung der kleinen Leute an der politischen Macht und umfassende soziale Reformen eintrat. Bevor diese allerdings in Kraft treten konnten, wurde die Kommune durch Regierungstrup­pen mit Waf­fenge­walt beendet.

Der Wechsel von Revolution und Restau­ra­tion, der das 19. Jahrhundert in Frankreich insgesamt kennze­ich­nete, war stets von großen Hoffnungen und Enttäuschungen begleitet. In diese politisch unsichere Zeit fiel auch die endgültige Hinwendung zum pos­i­tivis­tisch-wis­senschaftlichen Geist. Seit der Aufklärung, die ganz im Zeichen der von Jean-Bap­tiste le Rond d’Alembert und Denis Diderot her­aus­gegebe­nen großen Encyclopédie gestanden hatte, erlebten die Wis­senschaften, ins­beson­dere die beobach­t­en­den und ex­per­i­men­tieren­den Natur­wis­senschaften, eine enorme Aufwertung. Die wachsende Pop­u­lar­isierung der Natur­wis­senschaften im 19. Jahrhundert führte gewissermaßen die Tradition der Encyclopédie fort. Getragen vom Fortschritts- und Ver­nun­ft­pathos des er­stark­enden Bürgertums wurden sie zur maßgeblichen Instanz der Welterklärung, ja zu einer Art Er­satzre­li­gion. Ihren höchsten Ausdruck fand diese Haltung im Pos­i­tivis­mus des Philosophen und Mitbegründers der Soziologie, Auguste Comte. Er begrenzte die Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf das rein Faktische und vertrat die Auffassung, alle gesellschaftlichen Bereiche und men­schlichen Aktivitäten ließen sich durch Messen und Beobachten erfassen. Das pos­i­tivis­tis­che Wis­senschaft­skonzept, das jede Wis­senschaft als Natur­wis­senschaft begriff, prägte das gesamte 19. Jahrhundert.

Entstehung

Das Scheitern der Rev­o­lu­tio­nen und die Unzulänglichkeit ihrer Anführer hatten Flaubert zutiefst enttäuscht. In seinen Briefen äußerte der extreme In­di­vid­u­al­ist Hass auf die dumpfe Masse und die Mittelmäßigkeit der Bourgeoisie. Diese in Sprachkri­tik umge­wan­delte Verachtung für das Kleinbürgerliche fand ihren Nieder­schlag in seinem Dic­tio­n­naire des idées reçues, einem Verzeichnis von Klischees, Phrasen und Gemeinplätzen, denen Flaubert in seinem Alltag begegnete. Die um 1850 beschlossene Sammlung, die die Nichtigkeit des zeitgenössischen Ideen- und Wortschatzes bloßlegen sollte, lieferte auch reichlich Stoff für Bouvard und Pécuchet.

Schon ab den frühen 1840er-Jahren trug Flaubert sich mit dem Gedanken, einen Roman mit dem Titel „Histoire de deux cloportes“ („Geschichte zweier Kelleras­seln“) zu verfassen. Es dauerte allerdings bis August 1874, ehe er mit dem Buch begann, das ihm, wie er seinem Freund Iwan Turgenjew in einem Brief gestand, entset­zliche Angst einjagte. Die Zeit der Nieder­schrift war begleitet von um­fan­gre­ichen Studien. Flaubert selbst gab an, zu diesem Zweck 1500 Bücher gelesen und exzerpiert zu haben. Nach dem vorläufigen Abbruch 1875 nahm er die Arbeit an dem Buch, in dem er „seine Galle ausspucken werde“ – so Flaubert in einem Brief an Edmond de Goncourt – 1877 wieder auf. Im Februar 1880 war er beim zehnten und wohl letzten Kapitel des Buches angelangt, das gemäß den Notizen und Entwürfen des Autors mit der Rückkehr der beiden Pro­tag­o­nis­ten an den Schreibtisch enden sollte. Im Mai desselben Jahres starb Flaubert kurz vor Abschluss der Arbeit. Aus vielen seiner Äußerungen lässt sich schließen, dass das un­vol­len­dete Werk bloß die Einleitung für einen zweiten Band liefern sollte. Dieser hätte neben dem Dic­tio­n­naire des idées recues eine boshafte Sammlung von albernen Zitaten aus seriösen Büchern, ebenjenen 1500 von ihm studierten Werken, enthalten. Bouvard et Pécuchet erschien postum im Jahr 1881.

Wirkungs­geschichte

Die Reaktion auf Flauberts Spätwerk war zunächst verhalten, seinen Zeitgenossen erschien es eher monoton und bemüht. Erst im 20. Jahrhundert setzte eine positive Rezeption ein. So zählte James Joyce Bouvard und Pécuchet zu seinen Lieblingsro­ma­nen und Raymond Queneau bezeichnete den Roman in einem Essay von 1947 als eines der her­aus­ra­gen­den Werke der abendländischen Literatur. Jorge Luis Borges lobte als einer der Ersten die Ironie und Zi­tathaftigkeit des Romans, für ihn das Kennzeichen der lit­er­arischen Moderne. Das Buch wurde 1989 unter der Regie von Jean-Daniel Verhaeghe verfilmt.

Über die Autoren

Gustave Flaubert wird am 12. Dezember 1821 als zweiter Sohn eines Chirurgen in Rouen in der Normandie geboren. Er teilt das Schicksal vieler ungeliebter, weil ungewollter Kinder: Seine Kindheit verläuft eintönig und ist von wenig Zuneigung geprägt. Der Wohnort der Familie, ein Seitenflügel des Kranken­hauses, tut ein Übriges, um Flauberts Kindheit düster zu überschatten. Nach der Schule und einem lustlos un­ter­nomme­nen Rechtsstudium in Paris zieht Flaubert sich immer mehr vom öffentlichen Leben zurück. Der Grund für seine Abschottung ist ein rätselhaftes Ner­ven­lei­den, das ihn auch zum Abbruch des Studiums zwingt. Auf seinem Landgut in Rouen widmet er sich der Schrift­stellerei, die er fast schon asketisch zelebriert. 1846 lernt er Louise Colet kennen, die lange seine Geliebte und zur Zeit ihres Zusam­men­tr­e­f­fens bereits eine bekannte Schrift­stel­lerin ist. Zwischen 1849 und 1851 unternimmt er mit seinem Freund Maxime Du Camp eine mehrmonatige Reise nach Griechen­land, Ägypten und in den Nahen Osten. 1857 gelingt Flaubert mit Madame Bovary der große lit­er­arische Durchbruch. Ende der 50er-Jahre treibt es ihn nach Tunesien, wo er sich zu seinem Roman Salammbô (1863) inspirieren lässt. Die Romane L’Education sen­ti­men­tale (Lehrjahre des Herzens, 1870) und La Tentation de Saint Antoine (Die Versuchung des heiligen Antonius, 1874) fallen beim Publikum durch. Einzig die 1877 er­schiene­nen Meistererzählungen Trois Contes finden starke Beachtung. Die Ko­r­re­spon­denz mit der französischen Schrift­stel­lerin George Sand, dem russischen Schrift­steller Iwan Turgenjew, dem Romancier Théophile Gautier und seinem lit­er­arischen Zögling Guy de Maupassant erscheinen postum unter dem Titel Cor­re­spon­dance. Flauberts letzter Roman Bouvard et Pécuchet (Bouvard und Pécuchet) bleibt unvollendet und wird erst im Jahr 1881 veröffentlicht. Am 8. Mai 1880 stirbt Gustave Flaubert in Croisset.