Die größte Krise der Menschheit – und ihre Lösung
Die Apokalypse klopft an unsere Tür: Der Planet Erde ist einer permanenten Zerstörung ausgesetzt, die nicht nur der Menschheit die Lebensgrundlage entzieht. Klimawandel, Hungersnöte, Wirtschaftskrisen und Atombombe bedrohen uns in einem Ausmaß, das die Machthaber mit herkömmlichen Mitteln schon lange nicht mehr in den Griff bekommen. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren eine völlig neue Kommunikations- und Informationskultur entstanden: das Internet. Dieses Medium macht es auf ganz andere Weise als bisher möglich, sich miteinander zu unterhalten, zu diskutieren, zu forschen und zu informieren. Dank Chatroom, E-Mail, Suchmaschine und Blog können die Menschen quasi in Echtzeit gemeinsame Denkprozesse umsetzen und erhalten umgehend Rückmeldung auf ins Netz gestellte Fragen, Ideen und Anschauungen. Doch die Web-Revolution ist nicht nur technischer Art: Aus der Gesamtheit an Wissen, Beiträgen und auch Zweifeln aller Beteiligten wächst derzeit, über Raum- und Zeitgrenzen hinweg, ein menschliches „Superhirn“. Mit dieser sozialen Intelligenz ausgestattet, werden wir schon bald in der Lage sein, die aktuellen Probleme gemeinsam zu lösen.
Intelligenz unter Wasser
Der Schlüssel zum Erfolg heißt soziale Intelligenz. Die gibt es auch im Tierreich: Delfine und Wale verfügen mit dem Echolot über eine sehr kluge Kommunikationsform. Das ständige Aussenden von Tönen und der laufende Kontakt mit Gruppenmitgliedern ermöglichen ihnen, sich unter Wasser zu orientieren und gleichzeitig andere zu orten. Das Internet funktioniert nach erstaunlich ähnlichen Mechanismen. Dank permanenter Rückkopplung und Anbindung an das Know-how der Mitmenschen auf der ganzen Welt wird gemeinsames Handeln über große räumliche Distanzen hinweg möglich. Wie schon Gutenbergs Buchdruck unser Denken verändert hat, nimmt auch das Internet Einfluss auf unser Hirn und unsere Denkstrukturen – in positiver Weise und zum Wohl der Menschheit.
Das Internet macht’s möglich
Reduktion auf das Wesentliche, radikale Meinungsfreiheit und rasante Antwortzeiten kennzeichnen die Onlinemedien. Die Rolle eines Bloggers im Netz ist die eines permanenten Kommentators und mutigen Wächters. Provokante Meinungen fordern zum Austausch auf, und zwar öffentlich und unter dem eigenen Namen. So können einseitige Mediendarstellungen beurteilt oder zweifelhafte Unternehmenshandlungen angeprangert werden. Berechtigte Kritik verlangt von den Tätern eine sofortige Korrektur ihrer Handlungen, wollen sie sich nicht die Ungnade der Masse zuziehen. Dadurch erhält das Netz ein wichtiges Selbstkorrektiv mit dem Ziel einer laufenden Verbesserung und Weiterentwicklung.
„In ihrer jetzigen Verfassung ist die Menschheit eine Gefahr für den Planeten. Ohne sie würde das Leben blühen.“
Gleichzeitig verschwimmt die Trennung zwischen Produzent und Konsument. Auf der Videoplattform YouTube und am Wandel der Musikindustrie zeigt sich deutlich, wie sich vormals passive Konsumenten engagieren und beteiligen. Ehemalige Zuschauer werden mit einfachen Mitteln zu Akteuren, nehmen Gestaltungsprozesse selbst in die Hand, veröffentlichen ihre Ergebnisse ohne jegliche Bedenken und für alle sichtbar. Doch weniger der Hang zur Selbstdarstellung als vielmehr der Wunsch nach einem gemeinsamen Kommunikationsstil und nach kollektiver Weiterentwicklung sind die Triebfedern ihres Handels. Auf einige mag die freizügige Bekanntgabe all dessen, was man gerade macht, und wo man sich aufhält, wie Selbstentblößung wirken. Dabei basiert sie auf einer positiven Grundeinstellung und gegenseitigem Vertrauen in privaten wie beruflichen Netzwerken.
Alles offen, alles Beta
Allerdings ist Wachsamkeit gefragt, um Unwahrheiten und Bluffer zu identifizieren und zu neutralisieren. Ständig sorgen z. B. die Autoren der Onlinebibliothek Wikipedia dafür, dass die Inhalte nicht einseitige Interessen widerspiegeln und weiter an Qualität gewinnen. Alle Korrekturprozesse sind transparent. Nötige Änderungen müssen begründet werden und bleiben nachvollziehbar. Es ist erstaunlich, dass diese so erfolgreiche Non-Profit-Organisation einzig von der Eigeninitiative der Autoren lebt. Die Beteiligten beziehen ihre Motivation daraus, menschliches Wissen zu sammeln und es frei und kostenlos weiterzugeben.
„Die Menschheit hat offenbar erkannt, dass die Zeit für substanzielle Veränderung gekommen ist – sie handelt, ohne dass ihr befohlen wird.“
Den Grundstein für diese offene Herangehensweise legte die digitale Welt selbst. Der eigene Anspruch, einen tadellosen Code zu entwickeln, motivierte zahlreiche Programmierer zum Hacken. Wirtschaftlichen Schaden anzurichten, war weniger das Ziel, vielmehr ging es darum, Lücken und Mängel im System aufzudecken und die Software zum Nutzen aller zu verbessern. Solange die Hersteller jedoch ihren Code geheim hielten, waren Eingriffe von außen offiziell nicht erlaubt. Den großen Umbruch brachte die Open-Source-Bewegung. Seit 1991 wird nach der Idee von Linus Torvalds das Betriebssystem Linux gemeinschaftlich entwickelt. Aus dem Nachbau des bereits an Universitäten eingesetzten, aber unter Verschluss gehaltenen Unix entstand unter Beteiligung zahlreicher unabhängiger Entwickler ein neues, stabiles Betriebssystem. Das heutige Internet ist Ergebnis der vernetzten Unix-Rechner. Und sein zentrales Prinzip – das Verlinken auf andere Seiten, deren Inhalte man für wichtig hält – ist gleichzeitig auch die Grundlage des von Google eingesetzten Suchalgorithmus.
Ein Superhirn für alle
Das Gehirn wird landläufig als Sitz des menschlichen Ich gesehen. Die Hirnforschung zeigt, dass biochemische Reaktionen u. a. für unsere Emotionen zuständig sind und dass selbst ein erwachsenes Gehirn nie vollständig entwickelt ist. Lebenslanges Lernen ist daher möglich und auch nötig. Lernprozesse finden an den Synapsen statt, den Schaltstellen zwischen den Nervenbahnen, wo unser Denkorgan nützliche Erfahrungen und Funktionen abspeichert. Erfolglose Schaltungen und überflüssige Wege werden dagegen vernachlässigt und durch bessere ersetzt. Wenn wir also neue Erfahrungen machen, vergleichen wir diese ständig mit unseren neuronal gespeicherten Erinnerungen. Je mehr wir erleben, umso mehr können wir auch lernen, denn der Menschen lernt durch Nachahmen.
„Wer nicht mitzieht, hinaus zum unbekannten Horizont, dessen Name ,Rettung der Welt‘ ist, wer nur an sich denkt und nicht an die Menschheit, der wird ein Nichts, rutscht in die Bedeutungslosigkeit ab.“
Auch Tiere nutzen das Wissen ihrer Artgenossen für das eigene Überleben, z. B. Ameisenvölker bei der Anlage ihres komplizierten Baus. Wenn Lebewesen kollektiv denken und dadurch das Denken des Einzelnen beeinflussen, sprechen Wissenschaftler von Schwarmintelligenz oder sozialer Intelligenz. Dabei bedienen sich Sender und Empfänger eines gemeinsamen Zeichenvorrats. Analog könnte das Internet als Träger eines globalen Superhirns dienen, das nach den Regeln des menschlichen Gehirns funktioniert. Um weltweit voneinander zu lernen, müssen sich alle Nutzer aktiv beteiligen und Werkzeuge wie E-Mail verwenden können. Damit ein globaler Prozess gelingt, benötigen wir eine gemeinsame Weltanschauung. Das Internet wirkt dabei als Konformitätsverstärker. Es ermöglicht, gemeinsam zu denken und zu handeln, bietet zudem aber auch ausreichend Raum für Vielfalt und unkonventionelle Ideen.
Die Weisheit der Masse
Individualität bedeutet Ausgrenzung und Alleinsein. Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft erhöht dagegen die Wahrscheinlichkeit, Probleme zu lösen. Mathematiker können die „Weisheit der Masse“ sogar mit einer Formel berechnen, dem Condorcet-Jury-Theorem: Je mehr Menschen sich an einer Entscheidung beteiligen, desto besser ist das Ergebnis. Es gibt aber zwei Voraussetzungen: Die Frage muss konkret zu beantworten sein, und die Mehrheit muss eher richtig als falsch liegen. Zur Illustration ein wahres Beispiel: Die Teilnehmer einer Viehauktion sollten das Gewicht eines Ochsen schätzen. Der Durchschnitt aller ausgezählten Schätzungen wich nur um ein Pfund vom tatsächlichen Gewicht des Tieres ab. Mit diesem Experiment widerlegte der britische Naturforscher Francis Galton 1906 selbst seine arrogante These, „nur ein gebildeter Staatsmann könne ein Land und dessen ungebildetes Volk führen“. Amerikanische Psychologen haben 2008 entdeckt, dass auch Einzelne zu besseren Ergebnissen kommen, wenn sie auf eine Frage mehrfach antworten dürfen und man daraus einen Durchschnitt ermittelt. Das Vorgehen, ständig neue Hypothesen aufzustellen und diese mit der Realität abzugleichen, ist im Internet optimal realisierbar.
Welche Moral setzt sich durch?
Je mehr Informationen uns aber zur Verfügung stehen, desto komplexer gestaltet sich der Entscheidungsprozess und desto schwieriger fallen moralische Einordnungen. Doch unser Gehirn ist darauf vorbereitet: Dank der Spiegelneuronen können sich Menschen in andere einfühlen. So kann es gelingen, fremde Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen nachzuvollziehen und anderen freundlich zu begegnen. Dem Individuum selbst nützt sein soziales Verhalten. Die gemeinsame Basis, an der sich die Menschen moralisch orientieren, wird sich stetig weiter zum Guten entwickeln. Unser Zusammengehörigkeitsgefühl wächst, die soziale Verantwortung steigt. Respekt vor dem anderen und der Vorsatz, Gutes zu tun und niemandem zu schaden, werden zu Grundsätzen unserer Handlungen. Eine kollektive menschliche Moral, verstanden als kulturelles Gut, agiert dynamischer und fällt Urteile situativ, anstatt zeitlebens starre Regeln zu befolgen. Das angelsächsische Rechtssystem, das Gesetze vom gerichtlichen Einzelfall ableitet, wird weltweit Einzug halten.
Achtung, Fallstricke!
Noch ist das Superhirn nicht vollständig entwickelt. Bedrohungen müssen wir ernst nehmen und aktiv bekämpfen, damit sich das Blatt nicht zum Schlechten wendet. Das Internet ist eine optimale Plattform für politische Agitatoren und die Ankündigung von Gewalttaten. Terroristische Angriffe zielen auch auf Computernetzwerke und könnten u. U. sogar das World Wide Web zerstören, was einem Super-GAU gleichkäme. Staatliche Zensur und die Überwachung von Internetseiten können die Informationsfreiheit enorm einschränken, so blockiert etwa China unerwünschte Inhalte mit einer Firewall. Totalitäre Systeme missbrauchen von privater Hand gesammelte Daten, um Rückschlüsse auf Personen zu ziehen. Vermutlich ist aber die fortschreitende Kommerzialisierung des Internets das größte Risiko, denn Werbung, PR und Lobbyisten versuchen die Nutzer laufend zu manipulieren. Wichtige Funktionen des Superhirns, die keinen direkten wirtschaftlichen Nutzen bringen, könnten verkümmern oder gar nicht erst entstehen.
„Vielleicht ist die schillernde Realität des Internets gerade deswegen so ermutigend: Sie ist das Gegenteil einer Diktatur.“
Doch das System selbst bietet Abhilfe. Ständige Wachsamkeit und Selbstkorrektur sind unabdingbar. Traditionelle Organisationen müssen Internetnutzern mit deren Kommunikationsmittel begegnen und z. B. Chats oder Foren offerieren. Kreative können ihre Werke mit den Creative-Commons-Rechten belegen, sodass andere Nutzer fremde Inhalte zu nicht kommerziellen Zwecken kostenlos verwenden dürfen. Das klassische Urheberrecht erlaubt zwar maximale Kontrolle, aber keine kollaborative Weiterentwicklung. Bei der kommerziellen Vermarktung von unter CC-Recht stehenden Werken profitieren auch die Urheber, meist sogar ohne dazwischengeschaltete Vermarkter.
Der neue Geist in der Wirtschaft
Moderne Unternehmen erkennen die rasante Entwicklung und wissen die Vorteile für sich zu nutzen: Sie operieren global, lassen international produzieren und setzen bei der Produktentwicklung auf die Ideen der Konsumenten. Hierarchien sind auf dem Rückmarsch, das Gebot der Stunde lautet Kollaboration. Anstatt geistiges Eigentum zu verschließen, wird Wissen geteilt und zur Weiterentwicklung freigegeben. Neben Google heißen die erfolgreichsten Geschäftsmodelle z. B. Spreadshirt, Abgeordnetenwatch oder studiVZ. Die alten Eliten müssen komplett umdenken und sich am Superhirn beteiligen – oder abdanken.