Schau heimwärts, Engel

Buch Schau heimwärts, Engel

New York, 1929
Diese Ausgabe: Manesse,


Worum es geht

Aufwachsen in Amerika

Thomas Wolfes Roman Schau heimwärts, Engel gießt die ersten 20 Lebensjahre des Autors – zufälligerweise sind es auch die ersten 20 Jahre des 20. Jahrhun­derts – in Literatur, ohne an Fakten, Personen und Begeben­heiten viel zu verändern. Es ist vielleicht der einzige Roman der Lit­er­aturgeschichte, der so ausschließlich und unbekümmert auf die Biografie des Autors setzt. Die Umstände des Her­anwach­sens sind zwar individuell, aber auch allgemein nachvol­lziehbar – wahrschein­lich wurde das Werk deshalb zum Kultbuch unter Ju­gendlichen. Von großer Unbekümmertheit ist auch die Erzählweise: Episoden und Porträts reihen sich locker chro­nol­o­gisch aneinander. Die Ro­man­tisierung der Wirk­lichkeit erzeugt an manchen Stellen ein unan­genehmes Pathos, einige Dialoge sind etwas hölzern, und die unzähligen Zitate bekunden eher die Belesenheit des Autors, als dass sie den meisten Lesern besonderes Vergnügen bereiten würden. Was Wolfe aber glänzend gelingt, ist die Verknüpfung von Fam­i­liengeschichte und amerikanis­cher Befind­lichkeit. Unauf­dringlich gestaltet er Mutter und Vater nicht nur als lebendige Figuren, sondern auch als Urtypen des amerikanis­chen Gründungsmythos: die raffende Kap­i­tal­istin und der ruhelose Nomade. Ihre Abstoßungskräfte treiben die Familie langsam auseinander.

Take-aways

  • Thomas Wolfes Er­stlingswerk Schau heimwärts, Engel gilt als einer der größten amerikanis­chen Romane des 20. Jahrhun­derts.
  • Es ist ein En­twick­lungs- und ein Fam­i­lien­ro­man und zugleich eines der am direktesten au­to­bi­ografis­chen Werke der Weltlit­er­atur.
  • Inhalt: Eugene Gant ist das jüngste Kind seiner Eltern, deren Konflikte seine Jugend prägen. Aufgewach­sen in einer amerikanis­chen Kleinstadt, ist er lern­be­gieriger als seine Geschwister, besucht die Uni und entfremdet sich mehr und mehr von seiner Familie. Nach einer großen Liebeskrise und dem Tod seines Lieblings­brud­ers macht er sich auf, seine Familie zu verlassen.
  • Wolfe beschreibt sein eigenes Leben und das seiner Familie bis zu seinem 20. Lebensjahr. Dafür ändert er die meisten Namen, aber nicht alle.
  • Der Roman löste in Wolfes Heimatstadt Asheville einen Skandal aus.
  • In den Porträts seiner streitsüchtigen Eltern erfasst er amerikanis­che Urtypen: den ruhelosen Nomaden und die raffende Kap­i­tal­istin.
  • Wolfe produzierte ungeheure Textmengen und schrieb bis zu 15 Stunden am Tag. Er starb mit 37 Jahren an Tuberkulose.
  • Die endgültige Form des Romans kam mithilfe seines Lektors zustande, der den Text stark kürzte und einige Um­stel­lun­gen vornahm.
  • Vor J. D. Salingers Fänger im Roggen war der Roman das Kultbuch aller Her­anwach­senden.
  • Zitat: „Er war, deutlich erkennbar, einer von ihnen, aber er war nicht mit ihnen, und er war nicht wie sie.“
 

Zusammenfassung

Die Gants

Der Engländer Gilbert Gaunt, der seinen Namen später in Gant umändert, wandert 1837 nach Amerika aus. Von Baltimore zieht er weiter nach Penn­syl­va­nia. Dort lässt er sich unter deutschen Auswan­der­ern nieder, heiratet eine Witwe, lebt auf einer Farm und zeugt fünf Kinder. Was ihn auszeichnet, ist seine Re­dege­wandtheit und sein un­kurier­bares Fernweh. Diese Eigen­schaften erbt sein zweiter Sohn Oliver. Vor der Grabfigur eines Engels hat Oliver ein Beru­fungser­leb­nis, worauf er Steinmetz wird. In Sydney, North Carolina, macht er seine erste eigene Werkstatt auf und heiratet eine zehn Jahre ältere, vermögende Frau namens Cynthia, die bald darauf stirbt. Oliver verfällt der Trunksucht. Er ist Anfang 30, aus­ge­mergelt und ohne jeden Halt, als er westwärts weiterzieht. In dem Gebirgsstädtchen Altamont steigt er aus dem Zug. Mit dem Rest von Cynthias Erbe eröffnet er am Hauptplatz der Stadt seine Werkstatt. Dort lernt er die 24-jährige Eliza Pentland kennen, eine energische, geschäftstüchtige Frau. Ihr Optimismus steht im Gegensatz zu seiner Verzagtheit. Sie prophezeit Altamont eine florierende Zukunft, von der man sich rechtzeitig seinen Teil sichern müsse. Als Gant seine Abscheu vor Grundbesitz bekundet, nimmt sie ihn nicht ernst. Eliza stammt aus einer macht­be­wussten Südstaaten­fam­i­lie, nicht überaus wohlhabend, aber angesehen und in Geschäftsdingen erfolgreich. Sie ist in einer Phase bitterer Armut nach dem Bürgerkrieg groß geworden, daher rühren ihr Geiz und ihre Raffgier. Oliver Gant und Eliza heiraten, Gant baut ein Haus und Eliza bekommt innerhalb von elf Jahren neun Kinder, von denen sechs am Leben bleiben. Die Ehe ist von Anfang an schwierig; Gant beschimpft Eliza immer wieder und ist regelmäßig stock­be­trunken.

Die Kinder der Gants

Im Jahr 1900 wird Oliver Gant 50 und Eliza mit 42 zum letzten Mal schwanger. Während Gant die Tragik seiner Endlichkeit empfindet, schmiedet Eliza Pläne für die Zeit nach ihrer Mut­ter­schaft. Der neugeborene Eugene ist oft unter der Obhut seiner älteren Geschwister, die immer mal wieder ihre verborgene Grausamkeit an ihm auslassen. Elizas erste Geschäftsidee entzündet sich 1904 an der Weltausstel­lung in St. Louis. Sie will dort eine Pension für Touristen aus Altamont eröffnen. Ihr Mann soll nachkommen, wenn alles gut geht. So fährt sie mit ihren vier jüngsten Kindern los, neben Eugene sind es Helen und die Zwillinge Ben und Grover. Der Plan mit der Pension geht auf, aber der zwölfjährige Grover stirbt in St. Louis an Typhus, worauf die Familie sofort nach Altamont zurückkehrt. Ben ist fortan von einer Aura der Einsamkeit umgeben. Der Vater dominiert das Fam­i­lien­leben mit seinen Schmähreden, seinen pa­thetis­chen Shake­speare-Dekla­ma­tio­nen und seiner Sin­nes­freude, die der ganzen Familie üppige Mahlzeiten beschert. Besonders eng ist er seiner Tochter Helen verbunden. Eugene entwickelt derweil ein inniges Verhältnis zu Ben – die beiden teilen einen Zug der Fremdheit, der sie zueinan­derzieht und vom Rest der Familie entfernt. Eugene schult sich selbst ein, noch bevor er sechs ist, obwohl Eliza ihr jüngstes Kind nicht gehen lassen will. Er ist von Anfang an lern­be­gieriger als seine Geschwister und gilt schnell als der Schlaukopf der Familie, der es einmal zu etwas bringen wird – dem Vater schwebt für seinen Sohn eine Karriere als Politiker vor. Eugene verbringt viel Zeit in der Bibliothek und liest Aben­teuergeschichten. Die Bücher eröffnen ihm auch die Welt der Erotik, und bereits in der vierten Klasse malt er sich eine Affäre mit seiner Lehrerin aus. Gle­ichzeitig fürchtet er seine Mitschüler, für die er ein bevorzugtes Opfer ist.

Pension Dixieland

Als Eliza den Tod ihres Sohnes Grover einigermaßen verwunden hat, regt sich in ihr wieder der Drang nach Unabhängigkeit und Besitz. Sie kauft auf eigene Faust ein großes, aber zugiges Haus und eröffnet die Pension Dixieland; dabei sieht sie die strategisch günstige Lage im stark ex­pandieren­den Altamont voraus. Sie zieht selbst in die Pension und nimmt den inzwischen achtjährigen Eugene mit. Dieser ist jetzt gewissermaßen heimatlos, er pendelt zwischen dem Vater und der Mutter, die ihn oft über der Arbeit in der Pension vergisst. In der Pension hat er kein eigenes Zimmer, er schläft immer dort, wo gerade kein Gast ist. Eugene schämt sich für diese Verhältnisse und für die Prioritäten seiner Mutter. Weil sich Eliza nicht darum kümmert, von wem das Geld kommt, wird Dixieland zum Geheimtipp unter Gele­gen­heit­spros­ti­tu­ierten. Die junge Helen hegt eine Faszination für diese Damen, und der eine oder andere ihrer Brüder bandelt mit weiblichen Pensionsgästen an.

Jugendjahre

Als er fast zwölf ist, gewinnt Eugene einen Auf­satzwet­tbe­werb in seiner Schule. Als Belohnung darf er auf eine neu gegründete Pri­vatschule gehen. Wider­strebend willigt Eliza ein, das Schulgeld von 100 $ zunächst für ein Jahr zu bezahlen. Die neue Schule kommt Eugenes geistigen Bedürfnissen sehr entgegen. Eine besondere Beziehung entwickelt er zu Margaret Leonard, seiner En­glis­chlehrerin, der Frau des Direktors John Dorsey Leonard. Mit ihr teilt er die Lei­den­schaft für Dichtung, und bald verliebt er sich in sie. Durch die Pri­vatschule wird er weiter von seiner Familie entfremdet, seine Son­der­stel­lung verfestigt sich und unter den Geschwis­tern werden Neid und Grausamkeiten provoziert. Vater Gant erkrankt an Krebs und altert zusehends; er hat Angst vor dem Tod. Zwar geht er eine Liebschaft mit einer Witwe ein, hat aber schon bald wieder genug von ihr. Eugene, wie alle seine Geschwister früh zum Geld­ver­di­enen angehalten, muss als Zeitungsausträger arbeiten und bekommt die härteste Route durch Niggertown zugeteilt. Aber er behauptet sich und empfindet den harten Job, für den er mitten in der Nacht aufstehen muss, sogar als berauschend: Er genießt die nächtliche Einsamkeit. In Niggertown macht er mit einer Pros­ti­tu­ierten beinahe seine erste sexuelle Erfahrung – doch er flieht, bevor es ernst wird.

„Jeder Moment ist die Frucht von vierzig­tausend Jahren. Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten.“ (S. 9)

Aufregung herrscht in der Stadt, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Ben möchte sich in Kanada zum Kriegs­di­enst melden, um der Sinnlosigkeit des Lebens zu entgehen. Doch der Arzt gibt ihm indirekt zu verstehen, dass er nicht tauglich sei. Helen heiratet, und der Vater ist jetzt allein in seinem Haus. Er vermietet die meisten Räume. Eugene unternimmt mit 15 eine Reise nach Charleston, erstmals ohne Familie. Dieses Abenteuer geht mit dem ersten richtigen Sex einher: Er schläft mit der mitreisenden 21-jährigen Kellnerin Louise.

Universitätsjahre

Nach vier Jahren bei den Leonards geht Eugene, noch nicht 16 Jahre alt, an die staatliche Universität im Städtchen Pulpit Hill. Das ist nicht Eugenes Wahl – Vater Gant hat es so beschlossen. Eugene wird sofort zum Außenseiter, weil er jünger ist als die anderen, weil seine Beine viel zu lang sind und weil er auf jeden Er­stse­mes­ter­scherz hereinfällt. Unter der Einsamkeit leidet er. Er belegt Literatur, lernt aber dort nur langweilige Essayisten kennen. Also beschreitet er seine eigenen Lektürewege – gegen den universitären Kanon. Er besucht auch Kurse in Mathematik, Chemie und Griechisch und verbessert besonders eifrig seine Lateinken­nt­nisse. Umso mehr schmerzt es ihn, dass der Professor ihm wegen seiner geschlif­f­e­nen Überset­zun­gen unterstellt, aus Überset­zung­shil­fen abzuschreiben – was der Rest der Klasse tatsächlich tut, er aber nicht. Als er den Spieß umdreht und wirklich die Überset­zung­shilfe vorträgt, angemessen stockend, glaubt der Lehrer, nun strenge er sich an – eine bittere Erfahrung in Un­gerechtigkeit für Eugene.

„Für ihn war das Haus das Abbild seiner Seele, das Gewand seines Willens. Für Eliza hingegen war es ein Stück Eigentum, dessen Wert sie gewitzt taxierte, eine Grundlage ihres künftigen Reichtums.“ (über Gant und Eliza, S. 25)

Ein, zwei lose Kontakte zu Kom­mili­to­nen aus Altamont hat er dann doch, und einer von ihnen, Jim Trivett, nimmt ihn erstmals mit in ein Bordell, im nahe gelegenen Exeter. Obwohl Eugene sich dafür verachtet und sich nach dem ersten Besuch übergeben muss, kommt er mehrmals allein wieder. Als er zu Weihnachten in Altamont ist, sind seine Lenden voller Ungeziefer, und er vergeht fast vor Angst, nun die tödliche Quittung für seine moralischen Ver­fehlun­gen zu bekommen. Schließlich vertraut er sich Ben an, der ihn beruhigt und ihn mit zum Arzt nimmt. Dieser bestätigt die Harm­losigkeit des Problems, verschreibt etwas Passendes, und Eugene fühlt sich schlagartig erlöst. Auf der Rückfahrt nach Pulpit Hill prallt der Spott der Mit­stu­den­ten von ihm ab, der ihm zuvor so arg zugesetzt hat. Die Stimmung an der Universität wandelt sich, als die USA im April 1917 in den Krieg eintreten. Alle tauglichen Studenten im wehrfähigen Alter melden sich freiwillig, die ganze Nation ist im pa­tri­o­tis­chen Taumel. Auch Ben versucht es, diesmal offiziell, und wird wegen schwacher Lungen abgelehnt.

Erste Liebe

Im folgenden Sommer lernt Eugene in der Pension seiner Mutter Laura James kennen und verliebt sich zum ersten Mal. Anfangs findet er sie weder interessant noch hübsch, sie scheint ihm sogar richtigge­hend hässlich, aber er hat nichts zu tun, und so sitzt er abends mit ihr auf der Veranda. Zuerst versucht er sie über seine Fam­i­lien­verhältnisse zu täuschen, um einen besseren Eindruck zu machen – doch Vater Gant funkt dazwischen, als er fluchend und stock­be­trunken in der Pension auftaucht: Er hat, als Letzter, erfahren, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Als die Hüllen des Scheins gefallen sind, werden Eugene und Laura ein Liebespaar. Er schläft aber nicht mit ihr, denn sie erscheint ihm zu rein, zu unschuldig, es käme ihm wie eine Befleckung vor. Laura ihrerseits hat ein großes Problem mit dem Al­ter­sun­ter­schied: Er ist 16, sie 21. Eugenes erste große Liebe findet ein brutales Ende: Laura reist ab und enthüllt ihm in einem Brief, dass sie seit einem Jahr verlobt sei und am nächsten Tag in Norfolk, Virginia, heiraten werde. Eugene ist verzweifelt. Er lässt sich von einer Pros­ti­tu­ierten trösten, die sich im Dixieland eingemietet hat.

„Denn von Anfang an fand, tiefer als Liebe und tiefer als Hass, bis auf die blanken Knochen ein dunkler Kampf auf Leben und Tod zwischen ihnen statt.“ (über Gant und Eliza, S. 26)

In seinem zweiten Jahr an der Universität ist Eugene schon weit weniger verloren. Er beginnt seine Einsamkeit und seine Son­der­stel­lung zu genießen und verachtet alles Kon­ven­tionelle und Mehrheitsfähige. Dennoch bringt er sich jetzt in allen Gruppen und Zirkeln der Universität ein – Stu­den­ten­zeitung, De­bat­tierk­lub, lit­er­arischer Kreis –, und die Ausze­ich­nun­gen regnen nur so auf ihn herab. Während seines zweiten Wei­h­nacht­surlaubs wird der Graben zwischen ihm und seinen Geschwis­tern of­fen­sichtlich. Neidisch auf seine Bildung, seine Erfolge und Aussichten, stellen sie ihn als verwöhnt hin, während Eugene darauf besteht, dass er nichts geschenkt bekommen, sondern sich alles selbst erarbeitet habe. Er begehrt erstmals gegen seine Familie auf. Als besonders schmerzlich empfindet er es, dass nicht einmal Ben ihn verteidigt. Es kommt zu einem Kampf unter den Brüdern.

Hungern in Virginia

Der Krieg schafft eine Aus­nahme­si­t­u­a­tion im Land und an der Universität: Jeder will an der flo­ri­eren­den Kriegsin­dus­trie teilhaben. Man erzählt sich, dass an der Küste von Virginia alles möglich sei: üppige Löhne für Ungelernte, ungehobene Schätze an jeder Ecke. Eugene beschließt, dorthin zu gehen. Sofort vermutet Eliza, dass er das wegen Laura tut, die dort mit ihrem Ehemann lebt, und ganz Unrecht hat sie nicht. Am Hafen von Norfolk angekommen, lässt Eugene sich gemeinsam mit vielen anderen Er­leb­nishun­gri­gen treiben. Er streift Tag und Nacht durch die Straßen, bis sein Geld aufge­braucht ist, besessen von Laura, die er unzählige Male in der Menge zu erkennen meint. Aber er macht sich nicht auf, sie zu finden, sondern verwahrlost immer mehr und wird vom Hunger gequält. Erst dann sucht er sich Arbeit. Die ist nicht so leicht zu bekommen, wie er gehört hat, und auch nicht besonders gut bezahlt. Er arbeitet als Baustel­lenkon­trolleur, gibt seinen Job nach einem Monat auf und verprasst den Lohn binnen einer Woche. Seinen letzten Dollar verspielt er, er hungert, leiht sich Geld, hungert wieder. Irgendwann kann er vor Schwäche nicht mehr aufstehen. Am Ende dieses Sommers ist er 30 Pfund leichter und hat Laura aufgegeben.

Bens Tod

Kurz nach seinem 18. Geburtstag bekommt Eugene ein Telegramm von Eliza: Er solle sofort nach Hause kommen, Ben habe eine Lungenentzündung. Als Eugene in Altamont eintrifft, liegt sein Bruder im Sterben. Am Sterbebett flammt Helens Hass auf Eliza auf, und auch der todkranke Ben zeigt deutlich, dass er die Anwesenheit seiner Mutter nicht erträgt. Kurz bevor er seinen letzten Atemzug tut, werden die Angehörigen andächtig und still. Sie stehen staunend vor dem Wunder dieses kurzen, fremden Lebens. Als es vorbei ist, sind alle erlöst und geeint. Die Eltern würdigen Ben nun mehr als zu seinen Lebzeiten, für Eugene dagegen kappt der Tod des Bruders das wichtigste Band zwischen ihm und seiner Familie. Er geht seinen Weg weiter, macht mit 19 ein brillantes Examen und will weit­er­studieren, in Harvard. Eugene reist ab, als Eliza das Haus des Vaters verkauft hat und seine Werkstatt abgerissen werden soll. Der tote Ben erscheint ihm und gibt ihm Antworten auf seine Fragen: Die Welt sei in ihm, nur bei sich müsse er suchen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die mehr als 700 Seiten des Romans sind in drei Teile und 40 Kapitel gegliedert. Der Aufbau folgt im Wesentlichen der Chronologie der Ereignisse, in einer lockeren Aneinan­der­rei­hung von Szenen, Anekdoten und Beschrei­bun­gen. Es gibt mehrere Stilebenen: Da ist zunächst die Ebene der re­al­is­tis­chen Gestaltung, auf der die Figuren in Dialogen durch ihre Sprechweise charak­ter­isiert werden. Einzelne Experimente mit dem „Stream of Con­scious­ness“, dem Be­wusst­seinsstrom, und ein kam­er­aar­tiges Rundumporträt der Kleinstadt Altamont stechen aus der sonstigen Erzählweise hervor. Dieser Realismus ist stel­len­weise durchwirkt von einem lyrisch-tragis­chen Tonfall, in dem die dunklen Empfind­un­gen der Ver­loren­heit, der Verge­blichkeit und der Endlichkeit zur Sprache kommen. Solche Passagen gipfeln häufig in dem Ausruf: „O verloren!“ Der Text ist gespickt mit einer Vielzahl von lit­er­arischen An­spielun­gen und Zitaten, auch lateinis­chen oder griechis­chen, Letztere gar in griechis­chem Alphabet. Für literarisch Gebildete ist das sicher reizvoll, für alle anderen eher langweilig und unverständlich.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Schau heimwärts, Engel ist ein hochgradig au­to­bi­ografis­cher En­twick­lungsro­man, der davon handelt, wie Eugene Gant alias Thomas Wolfe durch die Prägungen seiner Kindheit und Jugend zu dem Erwachsenen wird, der er später ist.
  • Eugene zeichnet sich durch einen enormen Hunger aus: Sein Interesse am Kuli­nar­ischen fällt ebenso darunter wie sein geistiger Hunger und seine früh erwachende sexuelle Begierde. Ein allgemeiner Leben­shunger zeigt sich in seiner Sehnsucht nach fremden Orten und unbekannten Erfahrungen. Das (Selbst-)Porträt Eugene Gants ist aber auch widersprüchlich. Das wird besonders in den Col­lege-Pas­sagen deutlich, wo Eugenes behauptetes Außenseitertum und die Einsamkeit ziemlich unverbunden neben seinen vielfältigen Kontakten und seiner Mit­glied­schaft in fast jedem universitären Zirkel stehen.
  • Um die Hauptfigur Eugene lagern sich mehrere soziale Kreise, der kleinste ist die Familie. Schau heimwärts, Engel ist darum auch ein Fam­i­lien­ro­man, der vom unaufhalt­samen Au­seinan­der­driften der Gants erzählt. Die nächstgrößeren sozialen Einheiten sind die Kleinstadt und die Nation. Der Mikrokosmos der Kleinstadt ist für den her­anwach­senden Eugene das Zentrum der Welt, und die Nation rückt besonders mit dem Krieg ins Bewusstsein.
  • Wolfe weitet die Charaktere der Eltern zu amerikanis­chen Urtypen aus: dem Nomaden und dem Kap­i­tal­is­ten. Die ruhelose, vitale und aus­drucksstarke Natur des Vaters steht dem bedächtigen, nüchternen, manisch Besitz raffenden Wesen der Mutter unversöhnlich gegenüber. Schon ihre Vorfahren tragen diese Züge: Die Gants sind ins Land vor­drin­gende Einwanderer und Pioniere, die Pentlands sesshafte Südstaatler, deren Geschäftstüchtigkeit auf Findigkeit und Geiz beruht.
  • Das Titel gebende Leitmotiv des Engels steht für das Un­be­grei­fliche schlechthin (aber nicht im klas­sisch-re­ligiösen Sinn): Gant hat sein Beru­fungser­leb­nis als Steinmetz vor einem Engel, und die Metapher für Bens Ver­loren­heit ist sein imaginärer Engel, zu dem hin er immer die Augen verdreht.

His­torischer Hintergrund

Das vergoldete Zeitalter

Ende des 19. Jahrhun­derts war man in den USA, ins­beson­dere in den Südstaaten, damit beschäftigt, die Folgen des Bürgerkriegs der 1860er Jahre zu verarbeiten und die kriegsgeschädigten, zwang­seingegliederten Bun­desstaaten wieder aufzubauen. Präsident Abraham Lincoln hatte zwar sein Ziel erreicht, eine Abspaltung des Südens zu verhindern und die Sklaverei dort offiziell abzuschaf­fen, aber ab 1876 ve­r­ab­schiede­ten mehrere Südstaaten Gesetze, die die Rechte der ehemaligen Sklaven drastisch einschränkten und die Rassen­tren­nung ze­men­tierten.

Ab 1877 begann das so genannte „Gilded Age“ (vergoldetes Zeitalter), das von einem rasanten Wirtschaft­sauf­schwung und einer zweiten großen In­dus­tri­al­isierungswelle geprägt war. Die USA wurden zur stärksten Wirtschafts­macht und zogen immer mehr Immigranten aus aller Welt an, was zu einem enormen Anwachsen der Städte führte. Superreiche Großunternehmer wie Andrew Carnegie und John D. Rockefeller schrieben sich in die Wirtschafts­geschichte ein. Die Kehrseite der Medaille waren Armut und Unterdrückung. In der Außenpolitik legte Theodore Roosevelt während seiner Präsidentschaft 1901–1909 die Rolle der USA als eine Art in­ter­na­tionale Polizeige­walt fest, mit dem Recht, in ausländische Konflikte einzu­greifen. So traten die USA unter dem übernächsten Präsidenten, Woodrow Wilson, 1917 in den Ersten Weltkrieg ein.

Entstehung

Thomas Wolfe begann mit der Arbeit an Schau heimwärts, Engel im Juni 1926, während einer Eng­lan­dreise mit seiner Geliebten und Förderin Aline Bernstein, der er den Roman dann auch widmete. Die geschilderten Ereignisse und Figuren sind eins zu eins aus Wolfes Leben übernommen, teils sogar mit den gleichen Per­so­nen­na­men, etwa bei seinen Zwill­ings­geschwis­tern Grover und Ben. Wolfe steht literarisch in der Tradition eines volkstümlichen Realismus, für den Mark Twain als beispiel­haft gilt. Zahlreiche weitere lit­er­arische Einflüsse sind nachweisbar: James JoycePorträt des Künstlers als junger Mann war ein the­ma­tis­ches und sprach­liches Vorbild; und die Methode, zwei Gen­er­a­tio­nen vor der Geburt der Hauptfigur mit der Erzählung zu beginnen, übernahm Wolfe von Samuel Butlers ebenfalls au­to­bi­ografis­chem Roman Der Weg allen Fleisches.

Viele Verlage lehnten den chaotischen Manuskript­berg von mehreren Tausend Seiten ab, bis der Cheflektor des Verlags Scribner das darin enthaltene Potenzial erkannte. In enger Zusam­me­nar­beit mit Wolfe kürzte er den Text drastisch und arrangierte vieles um, bevor er den Roman im Oktober 1929 her­aus­brachte. Ursprünglich sollte er den Titel O Verloren tragen, den Ausruf, der am Ende so vieler melan­cholis­cher Textpas­sagen steht. Der Titel Schau heimwärts, Engel entstammt John Miltons Elegie Lycidas.

Wirkungs­geschichte

In Wolfes Heimatstadt Asheville löste das Erscheinen von Schau heimwärts, Engel einen Skandal aus, denn Asheville konnte schnell als Altamont, die Familie Gant als die Familie Wolfe und die Pension Dixieland als die Unterkunft Old Kentucky Home iden­ti­fiziert werden. Von der Lit­er­aturkri­tik seiner Zeit wurde der Roman überwiegend freundlich begrüßt; einen viel größeren Dienst erwiesen ihm jedoch berühmte Schrift­stellerkol­le­gen Wolfes. 1930 lobte Sinclair Lewis Wolfes Er­stlingswerk in seiner No­bel­preisrede als „eine kolos­salis­che Schöpfung voll tiefer Lebenslust“ und stellte es in eine Reihe mit den besten lit­er­arischen Werken Amerikas. William Faulkner nannte Wolfe den besten amerikanis­chen Schrift­steller, weil er ernsthafter als alle anderen versucht habe, „alles zu sagen“, und entschlossen gewesen sei, dafür „Stil, Fol­gerichtigkeit, alle Regeln der Genauigkeit bei­seit­ezuw­er­fen“. Der Roman war lange die Lieblingslektüre aller Her­anwach­senden, bis 1951 J. D. Salingers Der Fänger im Roggen diese Rolle übernahm. Danach trug die 1957 in New York uraufgeführte Bühnenfassung von Ketti Frings noch einmal zur Popularität des Romans bei. Es gab jedoch auch andere Bewertungen: Der Text sei sprachlich und in der Struktur undiszi­plin­iert, naiv und „elefantös“ erzählt, zudem dra­matur­gisch misslungen, weil arm und vorherse­hbar an Handlung.

Die erste deutsche Übersetzung erschien 1932, und die Wolfe-Begeis­terung in den 1930er Jahren in Deutschland ist ein ganz eigenes Phänomen. Hermann Hesse, Gottfried Benn und Klaus Mann zählten zu den Bewunderern des „amerikanis­chen Homer“; für etliche Jahre war er sogar der meist­ge­le­sene amerikanis­che Autor in Deutschland. Mit seiner Methode, die amerikanis­che Mentalität in einer Fam­i­liengeschichte zu spiegeln, bee­in­flusste Wolfe spätere Autoren wie Richard Yates, John Updike und Philip Roth.

Über den Autor

Thomas Wolfe wird am 3. Oktober 1900 als achtes Kind seiner Familie in Asheville, North Carolina, geboren. Seine Kindheit ist geprägt von den Konflikten der Eltern. Er besucht das College von Chapel Hill und studiert anschließend in Harvard. Weil seine Theaterstücke erfolglos bleiben, nimmt er 1924 eine Stelle als En­glis­chdozent in New York an. In den folgenden Jahren macht Wolfe mehrere lange Eu­ro­pareisen und besucht auch Deutschland, etwa 1936 während der Olympischen Spiele. Seine hell­sichti­gen Beobach­tun­gen zu den deutschen Verhältnissen schreibt er in seinem posthum veröffentlichten Roman You Can’t Go Home Again (Es führt kein Weg zurück, 1940) nieder. Auf der Schiffsrückfahrt von seiner ersten Europareise 1925 lernt er Aline Bernstein kennen, eine er­fol­gre­iche Bühnen- und Kostümbildnerin am New York Theater; sie ist 20 Jahre älter als er, verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder. Die beiden beginnen eine lei­den­schaftliche und kom­plizierte Affäre, die bis 1930 andauert. Aline Bernstein unterstützt Wolfe finanziell, künstlerisch und emotional, als er 1926 mit der Arbeit an seinem ersten Roman Look Homeward, Angel (Schau heimwärts, Engel, 1929) beginnt. Nachdem sich das Buch nicht nur als lit­er­arischer Durchbruch, sondern auch als fi­nanzieller Erfolg erweist, gibt Wolfe seinen Posten an der Universität auf und widmet sich ganz dem Schreiben. In seinem Bestreben, alles nur Denkbare auf Papier zu bringen, ist er ungeheuer produktiv, er schreibt bis zu 15 Stunden täglich und häuft ganze Berge von Manuskripten an. Nach einem Buch mit Erzählungen erscheint 1935 mit Of Time and the River (Von Zeit und Strom) die Fortsetzung des au­to­bi­ografis­chen Ro­man­pro­jekts. Zwei weitere Romane und mehrere Erzählbände erscheinen posthum. Wolfe erkrankt an Tuberkulose und stirbt am 15. September 1938, kurz vor seinem 38. Geburtstag. Er wird in seinem Heimatort Asheville beigesetzt.