Die neuen Spielregeln im Einkauf
Seit den 80er Jahren erfreute sich der Einkauf meist an einem Käufermarkt. Die Materialkosten sanken stetig. Mit einfachen Mitteln wie Anfragen, langfristigen Lieferverträgen oder Volumenbündelung konnten leicht jährliche Preissenkungen von 1–3 % erreicht werden. Diese Entwicklung hat viele Lieferanten in Bedrängnis gebracht und zu einer Zunahme von Fusionen und Übernahmen auf dem Lieferantenmarkt geführt. Zudem steigen mittlerweile die Energiepreise, und aufstrebende Wirtschaftsräume wie China, Indien und Brasilien haben durch ihren Rohstoffbedarf die Preise zusätzlich unter Druck gesetzt. Als Konsequenz hat sich in vielen Branchen die Marktmacht zugunsten der Lieferanten verschoben. Das erfordert ein Umdenken beim Einkauf. Wer die Material- und Zulieferkosten möglichst niedrig halten will, muss neue Strategien einsetzen. Diese müssen vor allem der jeweiligen eigenen Marktmacht beim Einkauf angepasst werden.
Vier Basisstrategien für den Einkauf
Zur Handhabung der aktuellen Entwicklungen im Einkauf ist es zunächst geboten, die Situation bezüglich der Machtverteilung zwischen Angebot und Nachfrage einzuschätzen. Dabei ergeben sich vier unterschiedliche Möglichkeiten, die jeweils andere Strategien erfordern: nur hohe Angebotsmacht, nur hohe Nachfragemacht, hohe Angebots- und Nachfragemacht sowie niedrige Angebots- und Nachfragemacht. Optisch werden diese vier Möglichkeiten der Marktmachtverteilung durch vier Quadranten auf dem Einkaufsschachbrett dargestellt. Jeder Situation entspricht eine Basisstrategie:
- Niedrige Angebots- und Nachfragemacht: Selbst bei einem großen Automobilhersteller ist etwa die Nachfrage nach Flugreisen aufgrund seines relativ eingeschränkten Bedarfs nur gering. Gleichzeitig gibt es bei den Anbietern durch die Liberalisierung des Marktes genug Konkurrenz. In einer solchen Situation der niedrigen Angebots- und Nachfragemacht gilt die Basisstrategie: Die Nachfrage steuern. Diese Strategie verfügt über folgende Hebel:
- Nachfragemanagement: Eine Möglichkeit, Kosten zu senken, besteht darin, die Nachfrage in wichtigen Bereichen zu reduzieren sowie die Lieferverträge optimal zu gestalten und anzuwenden.
- Co-Sourcing: Manchmal ist es möglich, eine geringe Nachfragemacht durch die Bündelung von Warengruppen oder durch eine Einkaufsgemeinschaft mit anderen Unternehmen zu beheben.
- Volumenbündelung: Skaleneffekte kann der Einkauf häufig auch durch eine Bündelung über Standorte, Produktlinien oder gar ganze Produktgenerationen hinweg erzielen. Zudem lohnt es sich oft, den Einkauf auf wenige Lieferanten zu beschränken, um so Volumenvorteile zu erreichen.
- Nutzung kaufmännischer Daten: Die optimale Nutzung entsprechender Software – etwa von SAP oder Oracle – ermöglicht eine Erhöhung der Transparenz und die Erschließung von Kostenvorteilen z. B. durch Standardisierung.
„Das Einkaufsschachbrett zeigt, dass es keine Beschaffungssituation in Unternehmen gibt, die nicht mit einer erprobten, überall adaptierbaren Methode bewältigt werden kann.“
Im Rahmen des Hebels „Nachfragemanagement“ konnte ein Unternehmen der IT-Branche mit einer Nachfragereduktion bei Flugreisen 10–20 % Einsparungen erzielen. Und zwar konkret durch eine Erhöhung des Kostenbewusstseins seiner Mitarbeiter, neue Genehmigungsregelungen und die Förderung von Videokonferenzen.
- Hohe Angebotsmacht: Auch ein großer Automobilhersteller, um das Beispiel noch mal aufzunehmen, hat nicht in jedem Gebiet eine hohe Nachfragemacht. Im Energiebereich etwa gibt es aufgrund des stark eingeschränkten Wettbewerbs kaum Verhandlungsspielraum. Hier greifen vor allem energiesparende Maßnahmen. Die entsprechende Strategie heißt: Die Natur der Nachfrage verändern. Diese Basisstrategie kann durch folgende Hebel implementiert werden:
- Risikomanagement: Es gilt, Engpässe zu vermeiden und die finanziellen Ergebnisse des Unternehmens gezielt abzusichern.
- Innovationsdurchbruch: Manchmal müssen eigene innovative Lösungen entwickelt werden, vor allem wenn man auf Lieferanten mit Patenten oder einer Monopolstellung angewiesen ist.
- Nutzung technischer Daten: Wachsende Produktvielfalt und kürzere Produktlebenszeiten erhöhen die Komplexität für das Unternehmen, was sich negativ auf den Ertrag auswirkt. Hier gilt es, Verbesserungspotenziale hin zu mehr Einfachheit zu identifizieren.
- Re-Spezifizierung: Manchmal muss ein Produkt neu entwickelt werden, wenn es bei den gegebenen Spezifizierungen nicht mehr möglich ist, weitere Kostensenkungen oder Wertsteigerungen zu erreichen.
„Die Logik von Angebotsmacht versus Nachfragemacht scheint in hohem Maße der Denkweise von Führungskräften zu entsprechen und erleichtert die Verknüpfung von Einkaufsthemen mit der Unternehmensstrategie.“
Ein führender Produzent industrieller Steuergeräte stellte im Sinne des Hebels „Innovationsdurchbruch“ durch eine Kernkostenanalyse, bei der die Basisanforderungen der Kunden an seine Produktlinie ermittelt wurden, fest, dass die Kernkosten nur 35 % der Gesamtkosten ausmachten. Die Produktlinie konnte also deutlich reduziert werden. Da viele der dadurch möglichen Änderungen in die Serienproduktion übernommen werden konnten, war der Hersteller wieder wettbewerbsfähig.
- Hohe Nachfragemacht: Braucht ein großer Automobilhersteller z. B. Schmiedeteile, kann er einen Lieferanten unter Hunderten Anbietern auswählen. Selbst bei sehr hohen Qualitätsstandards bleiben genug für einen ernsthaften Wettbewerb übrig. Die richtige Strategie in einer solchen Situation lautet daher: den Wettbewerb unter den Lieferanten nutzen. Daraus ergeben sich vier Hebel:
- Globalisierung: Nicht nur für den Absatz der eigenen Produkte, auch für den kostengünstigeren Einkauf ist es sinnvoll, eine globale Perspektive zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur um das Ausfindigmachen von Niedrigkostenländern, sondern um einen ganzheitlichen Ansatz, der die Bewertung von Risiken mit einschließt.
- Ausschreibung: Obwohl mittlerweile meist kein Käufermarkt mehr besteht, ist die Ausschreibung immer noch ein gutes Mittel, um Transparenz über den Lieferantenmarkt zu erlangen. Sie erfordert aber ein systematisches Vorgehen, wenn sie zu aussagekräftigen Ergebnissen führen soll.
- Zielpreise: Die von statistischen Methoden gestützte Festlegung realistischer Zielpreise kann zu wesentlichen Kosteneinsparungen führen.
- Prüfung des Lieferantenpricings: Die Preise der Lieferanten sind oft nicht transparent genug. Mit bestimmten Methoden wie etwa Preisbenchmarking lässt sich eine bessere Grundlage für Preisverhandlungen legen.
„Eine hohe Angebotsmacht besteht, wenn Lieferanten als Monopolisten am Markt agieren, ihre Produkte patentgeschützt sind, die Hürden für Neueinsteiger und Substitutionsprodukte sehr hoch sind und die Nachfrage das Angebot übersteigt.“
Eine Großbank, die zahlreiche Publikationen in deutscher Sprache veröffentlicht, konnte im Rahmen des Hebels „Globalisierung“ ihre Kosten fast halbieren, indem sie über den Ansatz „Best Shoring“ die grafische Bearbeitung und das Redigieren ihrer Publikationen ins nahe gelegene Tschechien verlegte. Eine Verlagerung nach Indien wäre zwar noch kostengünstiger gewesen, wurde aber wegen mangelnder Deutschkenntnisse und demzufolge mangelnder Qualität nicht realisiert.
- Hohe Angebots- und Nachfragemacht: Will ein großer Automobilhersteller Motor-Managementsysteme von Bosch kaufen, trifft er auf einen Lieferanten mit hoher Angebotsmacht, weil in vielen Bereichen kaum ein Weg an Bosch vorbeiführt: Das Unternehmen nimmt aufgrund seiner komplexen Produkte oft eine Alleinstellung als Lieferant ein. Gleichzeitig ist Bosch aber auf die Automobilhersteller als wesentlichen Absatzmarkt angewiesen. Hier lautet die Strategie deshalb: gemeinsam mit dem Lieferanten nach einem Vorteil suchen. Im Einkaufsschachbrett finden sich die entsprechenden Hebel zu dieser Basisstrategie:
- Integrierte Operationsplanung: Wenn Lieferant und Käufer zu einem offenen Informationsaustausch bereit sind, kann man gemeinsam operative Kosteneinsparungen erzielen.
- Wertkettenmanagement: Bei diesem Ansatz wird die gesamte Wertkette des Unternehmens in enger Zusammenarbeit mit den Lieferanten systematisch optimiert.
- Kostenpartnerschaft: Das Ziel ist, gemeinsam mit einigen wenigen ausgesuchten Lieferanten deutliche Einsparungen anzustreben.
- Wertpartnerschaft: Hier geht es darum, den Wertzuwachs zum Vorteil beider Seiten zu optimieren. Dabei wird das unternehmerische Risiko in der Regel geteilt.
„Der Einkauf als strategisch wichtige Funktion erfordert es, umfassend den Lieferantenmarkt zu kennen und diese Kenntnisse in regelmäßigen Abständen immer wieder zu erneuern.“
Ein Beispiel für die Umsetzung dieser Strategie im Rahmen des Hebels „Wertkettenmanagement“ stellt die Umsatzteilung dar, die AT&T und Apple bei der Einführung des iPhone vereinbart haben. Für jedes Gespräch, das AT&T-Kunden mit dem iPhone führen, erhält Apple einen bestimmten Anteil. AT&T kann so sein biederes Image aufbessern und zugleich exklusiv ein attraktives Produkt anbieten. Apple hat einen zuverlässigen Mobilfunkpartner und zusätzliche Gewinne.
Das Einkaufsschachbrett im Detail
Die vier Basisstrategien lassen sich also in 16 Hebel unterteilen. Jeder dieser Hebel führt wiederum zu vier Ansätzen. Das ergibt insgesamt 64 Ansätze, jeweils 16 für jede der vier Grundsituationen aus unterschiedlicher Angebots- und Nachfragemacht. Das Einkaufsschachbrett bietet sich so als gutes Werkzeug an, um einen Überblick darüber zu gewinnen, welche Ansätze in welcher Situation ratsam sind. Es zeigt: Auch in einem Verkäufermarkt gibt es durchaus noch Handlungsspielraum für den Einkauf, solange die richtigen Strategien, Hebel und Ansätze eingesetzt werden. Das Einkaufsschachbrett stellt außerdem ein gutes Instrument für die Personalentwicklung im Einkauf dar. Für jeden Mitarbeiter kann in das Schachbrett eingetragen werden, welche Ansätze er bereits beherrscht. Ist das ganze Schachbrett gefüllt, sollte der Mitarbeiter als Generalist gelten, und ihm sollte eine attraktive Karriereposition im Unternehmen angeboten werden. Auf diese Weise wird die strategische Bedeutung des Einkaufs im Unternehmen betont, und talentierte Mitarbeiter werden für diesen zunehmend wichtigen Bereich gewonnen.