Pedro Páramo

Buch Pedro Páramo

Mexiko-Stadt, 1955
Diese Ausgabe: Hanser,


Worum es geht

Eine Geschichte über die Hoff­nungslosigkeit

Pedro Páramo ist ein kurzer Roman, aber zugleich von mon­u­men­taler Trost­losigkeit. Juan Rulfo schildert ein ländliches Mexiko, das unter archaischen Gewaltverhältnissen leidet und von toten, unerlösten Seelen bevölkert wird. Nicht einmal die Mexikanis­che Revolution hat einen Einfluss auf das ex­is­ten­zielle Elend der Dörfler gehabt, die von Gott und Gesetz im Stich gelassen zu sein scheinen – auf ewig. Erst im Verlauf des Buches erfährt man, dass die Menschen, mit denen der Ich-Erzähler spricht, Gespenster sind. Und noch mehr: Der Erzähler liegt selbst seit längerer Zeit im Grab. Mit seinem kunstvoll spröden Stil und der kühnen, frag­men­tarischen Struktur des Buches war Rulfo seiner Zeit weit voraus. Es fällt nicht leicht, sich in der viel­stim­mi­gen, mehrfach zeit­ver­set­zten Erzählung zu orientieren. Trotzdem sorgt das Buch für ein erschütterndes Leseer­leb­nis. Nachdem Juan Rulfo sich diesen Stoff von der Seele geschrieben hatte, veröffentlichte er in seinen rund 30 weiteren Leben­s­jahren kaum noch etwas. Sein einziger Roman entwickelte sich in dieser Zeit allerdings zu einem weg­weisenden Meisterwerk der lateinamerikanis­chen Literatur.

Take-aways

  • Pedro Páramo ist Juan Rulfos einziger Roman – aber Rulfo schrieb mit seiner kühnen Mon­tagetech­nik Lit­er­aturgeschichte.
  • Inhalt: Juan Preciado kommt ins öde Dorf Comala, um dort seinen Vater Pedro Páramo zu finden, einen Guts­be­sitzer, über den man sich grausame Geschichten erzählt. Die Menschen, denen er begegnet, stellen sich nach und nach als unerlöste Seelen heraus. Sie berichten nicht nur von Juans Vater, sondern auch vom einstigen dörflichen Elend und von einer un­barmherzi­gen Kirche. Juan stirbt und wird selbst zu einer unerlösten Seele.
  • Erst in der Hälfte des Buches wird klar, dass Juan Preciado längst gestorben ist und seine Geschichte einer be­nach­barten Toten erzählt.
  • In den 30 Leben­s­jahren nach Veröffentlichung des Buches brachte Rulfo so gut wie nichts mehr heraus; ein mehrmals angekündigter zweiter Roman erschien nie.
  • Pedro Páramo the­ma­tisiert u. a. die Epoche der Mexikanis­chen Revolution. Das ländliche Elend wird allerdings als überzeitlicher Fluch gesehen.
  • Rulfos Sprache ist spröde und schmucklos, die Struktur frag­men­tarisch.
  • Der Text vereint mehrere Erzählstimmen und un­ter­schiedliche Zeitebenen.
  • Rulfo kürzte das ursprünglich 300 Seiten starke Manuskript um ungefähr die Hälfte, u. a. indem er Adjektive sowie poetische und kom­men­tierende Passagen strich.
  • Pedro Páramo inspirierte den magischen Realismus und gilt inzwischen in­ter­na­tional als Klassiker des 20. Jahrhun­derts.
  • Zitat: „Comala (…) liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle.“
 

Zusammenfassung

Ortstermin bei einem Toten

Juan Preciado ist auf dem Weg nach Comala, einem kleinen Dorf in der mexikanis­chen Einöde. Dort will er seinen Vater Pedro Páramo aufsuchen. Zu Lebzeiten seiner Mutter Dolores hat er ihn nicht kennen gelernt. An deren Totenbett musste Juan allerdings versprechen, dem Vater einen Besuch abzustatten. Der hatte sich nach der Trennung von Dolores nie mehr um Frau und Kind gekümmert. Gemäß dem Wunsch der sterbenden Mutter soll Juan nun vom Vater einfordern, was ihm zusteht. Zunächst hat der Sohn nicht vor, das Versprechen am Totenbett einzuhalten. Doch unversehens beginnt er, Hoffnungen um den Namen Pedro Páramo aufzubauen. So macht er sich schließlich auf in Richtung Comala.

„Comala (...) liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle.“ (Abundio, S. 10)

Schon von Weitem stellt er fest, dass Comala nicht jenes hübsche Dorf ist, von dessen Schönheit seine Mutter ihm stets voller Sehnsucht erzählt hat. In der Augusthitze wirkt es traurig und herun­tergekom­men. Juan schließt sich auf dem Weg dem Viehtreiber Abundio an – der, wie sich her­ausstellt, selbst ein Sohn von Páramo ist. Er meint, der Vater werde sich sicher über den uner­warteten Besuch freuen. Sein Gut Media Luna umfasse das gesamte umliegende Land. Im Dorf angekommen, stellt Juan Preciado fest, dass die Häuser verlassen sind. In Comala lebe niemand mehr, erklärt Abundio. Und auch Pedro Páramo sei bereits vor vielen Jahren gestorben.

Zu Gast im verlassenen Dorf

Der Viehtreiber zieht weiter und lässt Juan allein zurück. Der sieht sich den kopf­steingepflasterten Ort etwas näher an. Eine alte Frau weist ihm den Weg zum Haus von Doña Eduviges. Sollte diese noch leben, so hatte der Viehtreiber ihm zuvor gesagt, dann finde er dort vielleicht Unterkunft. Inzwischen ist es dunkel geworden. Doña Eduviges’ Haus wirkt verlassen, aber plötzlich erscheint sie doch und bittet Juan hinein. Am Ende eines langen Gangs hält sie ein Zimmer für ihn bereit. Sie wisse Bescheid, sagt sie: Seine Mutter habe ihr gerade seinen Besuch angekündigt. Juan Preciado erklärt, dass seine Mutter bereits seit einer Woche tot sei. Darauf entgegnet Doña Eduviges, das erkläre, weshalb ihre Stimme so schwach gewesen sei. Juan Preciado hält die Frau für verrückt. Er ist müde, sein Körper kommt ihm leblos vor. Doña Eduviges bezweifelt, dass Juan mit dem Viehtreiber Abundio ins Dorf gekommen ist: Der sei genauso tot wie Juans Mutter.

„Als ich gerade mal nicht schlief, hörte ich den Schrei. Es war ein lang gezogener Schrei, wie das Johlen eines Betrunkenen: ,Scheißleben, du hast mich nicht verdient!‘“ (S. 44)

Doña Eduviges erzählt Juan, dass sie fast zu seiner Mutter geworden wäre. Als Dolores Pedro Páramo heiratete, wurde ihr von einem Wahrsager geraten, dass sie in der Hochzeit­snacht mit keinem Mann schlafen dürfe. Um ihr zu helfen, nahm Doña Eduviges im Dunkeln ihre Stelle ein. Allerdings kam es nicht zum Beischlaf, da Pedro zu müde war. Nach der ver­hin­derten Hochzeit­snacht verlief der Ehealltag des Paares kaum glücklicher. Seiner Frau überdrüssig, schickte Pedro Páramo sie bald zu ihrer Schwester und kümmerte sich dann nicht mehr weiter um ihr Geschick. Dolores wartete ihr Leben lang auf ein Zeichen der Reue vonseiten des Gatten – vergeblich.

Ein Priester mit Gewis­sens­bis­sen

Doña Eduviges hört das Pferd von Miguel Páramo, einem weiteren Sohn Pedro Páramos, vor­beire­iten. Als Juan Preciado daraus schließt, dass doch noch jemand auf dem Gut Media Luna lebe, verneint Doña Eduviges: Nur ihr sechster Sinn höre das Pferd. Miguel Páramo sei beim Reiten zu Tode gestürzt.

„Es gab keine Luft. Ich musste die Luft wieder einsaugen, die aus meinem Mund kam, hielt sie mit den Händen auf, bevor sie sich verflüchtigte (...). Bis sie so dünn war, dass sie meinen Fingern für immer entschlüpfte.“ (S. 76)

Der Dorfpfarrer, Pater Rentería, verweigerte Miguel Páramo einst wegen seiner Bösartigkeit den Segen. Um die Seele seines Sohnes zu retten, spendete Pedro Páramo der Kirche Goldmünzen. Darauf befragte Pater Rentería Gott und entschied nach vielen Tränen, Miguel Páramo nicht zu verdammen. Zwar hatte dieser den Bruder des Priesters umgebracht und seine Nichte verge­waltigt, neben vielen anderen jungen Mädchen aus dem Dorf; aber die Reichen des Ortes bezahlten nun einmal den Kirchen­be­trieb. Schlechten Gewissens dachte Pater Rentería daran zurück, dass er Doña Eduviges nach ihrem Selbstmord die Absolution verweigert hatte, weil deren Schwester kein Geld für eine Spende aufbringen konnte. Die eigene Doppelmoral war ihm selbst zuwider.

„Und aus den Mauern schien das Flüstern zu kommen, es drang durch Ritzen und Risse. Ich hörte es. Es waren Men­schen­stim­men, doch keine deutlichen Stimmen, sondern heimliche, als flüsterten sie mir im Vorbeigehen etwas zu oder als summten sie in meine Ohren.“ (S. 77)

Endlich legt sich Juan schlafen. Durch einen Schrei schreckt er plötzlich auf: „Scheißleben, du hast mich nicht verdient!“ Kurz darauf geht die Tür auf. Damiana Cisneros, die Juan als Neuge­bore­nen auf dem Gut Media Luna gepflegt hat, lädt ihn ein, bei sich zu übernachten. Sie fragt ihn, wie er denn in die verrammelte Kammer gelangt sei, in der einst Toribio Aldrete erhängt wurde. Als Juan ihr von seiner Begegnung mit Doña Eduviges berichtet, äußert Damiana Mitgefühl mit deren Geist; er finde offenbar noch immer keine Ruhe.

Von Geis­ter­stim­men umgeben

Pedro Páramo war ein empfind­sames Kind gewesen. Niemand hätte ihm die Führung des Gutes zugetraut. Doch kurz nach dem Tod seines Vaters nahm er, vom Ruin bedroht, die Zügel in die Hand. Als erste Maßnahme zur Sanierung der Guts­fi­nanzen gab er seinem Verwalter Fulgor Sedano den Auftrag, in seinem Namen um die Hand seiner Hauptgläubigerin Dolores Preciado anzuhalten. Die ahnte nichts Böses und war begeistert. Der Priester ließ sich bestechen und vollzog eine Eilheirat. Der aufmüpfige Grundbe­sitzer Toribio Aldrete wurde aus dem Weg geschafft und Pedro Páramo empfand sich nun selbst als lokaler Gesetzgeber. Zumindest wollte er der Bevölkerung das Gefühl geben, er besitze die entsprechende Macht.

„,Die Hoffnung hat mich hergeführt.‘ – ,Die Hoffnung? Die muss man teuer bezahlen.‘“ (Juan und Dorotea, S. 79)

Juan geht mit Damiana Cisneros durchs Dorf. Comala sei voller Echos, sagt sie. Sie höre oft Geräusche aus längst vergangener Zeit. Gerade sei sie ihrer Schwester in einem Trauerzug begegnet – und die sei seit mehreren Jahrzehnten tot. Als Juan sie fragt, ob sie denn selbst am Leben sei, bleibt er plötzlich allein auf der Straße zurück, mitten in der Nacht. Dorf­be­wohner aus den Tagen Pedro Páramos sind zu hören; in Gesprächsfetzen wird das raue und rechtlose Leben der damaligen Zeit her­auf­beschworen. Juan wird von einem nackten Paar in ein halb eingestürztes Haus eingelassen und bittet um einen Schlafplatz. Er darf sich neben das Bett des Paares auf den Boden legen. Am nächsten Tag spricht er mit der Frau und erfährt, dass sie mit ihrem Bruder Donis zusam­men­lebt und mit ihm einst auch Kinder gezeugt hat. Juan will weg von dem Dorf. Der Mann bietet an, ihm am folgenden Tag den Rückweg zu weisen.

Eine Geschichte, aus der Grube erzählt

Später findet sich Juan neben der Frau liegend. Ihr Bruder sei nun vermutlich für immer gegangen, sagt sie. Von nun an möge er, Juan, für sie sorgen. Sie bietet ihm Donis’ Platz im Bett an. Später scheint der Körper der Frau neben ihm zu einem Schweiß- und Lehmbrei zu zerfließen. Er tritt auf die nächtliche Straße und vermisst die Luft zum Atmen. Dann ist es aus.

„Vergiss jetzt deine Ängste. Du brauchst vor keinem mehr Angst zu haben. Versuche lieber, an angenehme Dinge zu denken, denn wir werden sehr lange in der Erde liegen.“ (Dorotea, S. 81)

Juan Preciado liegt im Grab neben einer Frau namens Dorotea. Sie fand seinen leblosen Körper auf dem Dorfplatz und begrub ihn bald darauf mit Donis’ Hilfe. Ihr hat er seine Geschichte erzählt. Er starb – so erinnert er sich – am Geflüster der Toten. Nachts am Dorfplatz hätten sie ihn umringt mit einem viel­stim­mi­gen Flehen: „Bitte für uns.“ Dorotea hatte lange von einem Kind geträumt, doch die Heiligen mochten ihr keines schenken. Nachdem sie Juan Preciado gefunden hatte, starb auch sie, und nun liegen sie gemeinsam unter der Erde.

Eine alte Liebe

Miguel Páramo macht sich schon als 17-Jähriger die jungen Frauen des Dorfes gewaltsam gefügig. Offenbar hat er auch mal jemanden umgebracht. Fulgor Sedano ist besorgt, aber Pedro Páramo meint, der Junge solle sich ruhig die Hörner abstoßen. Bald darauf wird Miguel Páramo tot aufs Gut getragen. Der Vater vermutet einen Rachemord, dabei war es nur ein Reitunfall. Pater Rentería hat Pedro Páramo einst den neuge­bore­nen Jungen gebracht, als dessen Mutter im Kindbett verstarb. Sie war eine der zahlreichen von Pedro Páramo geschändeten Frauen. Am Tag vor Miguel Páramos Tod bat Pater Rentería einen anderen Priester um die eigene Absolution. Der verweigerte sie ihm – mit dem Hinweis auf Renterías Nachgiebigkeit dem bösen Guts­be­sitzer gegenüber. Nach dem Todesfall beichtet Dorotea bei Pater Rentería, sie habe Miguel Páramo alle Mädchen zugeführt. Der Pfarrer antwortet, für sie sei der Himmel verloren.

„Ich habe seit so vielen Jahren nicht mehr den Kopf gehoben, dass ich den Himmel vergessen habe.“ (Dorotea, S. 86 f.)

Gemeinsam mit seiner Tochter Susana kehrt Bartolomé San Juan nach Comala zurück. Als Susana noch ein kleines Mädchen war, badete der zarte Junge Pedro Páramo mit ihr im Fluss und verliebte sich auf ewig in sie. Nachdem die Mutter an Schwind­sucht gestorben war, verließen Vater und Tochter das Dorf. Susana heiratete, ihr Mann starb, und sie zog wieder zum Vater. Pedro Páramo, mit­tler­weile zum Guts­be­sitzer aufgestiegen, schrieb Susanas Vater Briefe und bat ihn zurückzukehren. Der sträubte sich lange Jahre. Jetzt, dem materiellen Elend aus­geliefert, willigt er endlich ein. Pedro Páramo erfüllt sich seinen Kind­heit­straum und heiratet Susana. Ihren Vater lässt er bald aus dem Weg schaffen. Von nun an lebt Susana bei Pedro Páramo auf dem Gut Media Luna. Doch sie ist von Gram zermartert, verbringt Tage und Nächte dämmernd im Bett, hat erotische Fantasien von ihrem Exmann und wird währenddessen von Pedro Páramo umsorgt.

Am Rande der Rev­o­lu­tion­swirren

Fulgor Sedano wird von einem Trupp Aufständischer erschossen. Einen Tag später treffen die 20 Revolutionäre auf dem Gut ein. Angeblich richtet sich der Aufstand gegen die Regierung und die Großgrundbe­sitzer. Pedro Páramo lädt alle zum Essen ein und bietet den Rebellen seine Hilfe an. Die Aufständischen fordern 50 000 Pesos, er gibt ihnen 100 000 und stockt deren Einheit von 300 Soldaten zugleich um 300 eigene Männer auf. Darunter ist sein Vertrauter, der Kaiman. Der soll in Pedro Páramos Auftrag umgehend das Kommando an sich reißen. Das gelingt zwar, doch später werden die Truppen des Kaimans von Anhängern Pancho Villas geschlagen. Das berichtet jedenfalls Gerardo Trujillo, Pedro Páramos langjähriger Anwalt, nachdem ihm Verwundete in Comala davon erzählt haben.

„Wir leben in einer Gegend, in der Gott alles wachsen lässt; aber alles ist sauer. Wir sind dazu verdammt.“ (Pater Rentería, S. 95)

Trujillo möchte sich anderswo zur Ruhe setzen und hofft beim Abschied von Pedro Páramo auf eine fürstliche Belohnung für alle rechtlichen Schliche, die er in Mord-, Landraub- und Verge­wal­ti­gungsan­gele­gen­heiten erfolgreich angewendet hat. Doch Pedro Páramo rückt nichts heraus, weshalb der Anwalt vorerst weiter in seinen Diensten bleiben muss. Tatsächlich ist die Truppe des Kaimans nicht wie befürchtet besiegt worden. Der Kaiman hat sich, strategisch klug, gleich auf die Seite der Anhänger Pancho Villas geschlagen. Mit 700 Mann kommt er aufs Gut zurück und bittet Pedro Páramo um Unterstützung für seine darbenden Leute. Der gibt nichts heraus, sondern empfiehlt, stattdessen ein Nachbardorf zu überfallen.

Einsam und unerlöst

Susana fantasiert immer stärker und kommt nur noch selten zu Bewusstsein. Pedro Páramo pflegt sie, während er parallel dazu über andere Frauen herfällt. Als Pater Rentería Susana die letzte Beichte vor ihrem Tod abnehmen will, denkt diese noch immer an das kurze und womöglich einge­bildete Glück mit ihrem Exmann zurück. Dann stirbt sie, nach drei Jahren des Leidens. Die drei Kirchen von Comala läuten tagelang – so laut, dass keine normale Verständigung mehr möglich ist. Vom Lärm angezogen, kommen zahlreiche Schaulustige und sogar ein Zirkus ins Dorf. Während sich das Volk haltlos dem Rummel hingibt, wird Susana begraben. Pedro Páramo schwört, sich an Comala zu rächen: Das Dorf werde verhungern, sobald er die Arbeit auf dem Gut ruhen lasse.

„Es gibt Dörfer, die schmecken nach Unglück. Man erkennt sie, wenn man nur ein wenig von ihrer alten, abge­s­tande­nen Luft schluckt, die arm und dünn wie alles Alte ist. Das hier ist so ein Dorf.“ (Bartolomé San Juan, S. 109)

Der Kaiman schaut von Zeit zu Zeit auf dem Gut vorbei und berichtet, auf welcher Seite er nun mit seinen Männern steht. Pedro Páramo sitzt nur mehr auf einem alten Stuhl am Eingang zum Gut Media Luna und blickt auf den Weg hinaus, den Susanas Leichnam mit dem Totenzug genommen hat. Im Dorf kauft eines frühen Morgens der Viehtreiber Abundio Martínez einen Liter Alkohol, um den nächtlichen Tod seiner Frau besser zu verkraften. Schwer betrunken torkelt er dem Gut entgegen, wo er Pedro Páramo um ein Almosen bittet. Dessen Magd Damiana Cisneros befürchtet einen Anschlag und schreit um Hilfe – so durch­drin­gend, dass Abundio auf sie einsticht. Nachdem einige Männer aus dem Dorf den Betrunkenen ab­trans­portiert haben, weicht Pedro Páramo langsam das Leben aus den Gliedern. Er denkt ein letztes Mal an Susana. Dann stürzt er und bricht auseinander „wie ein Haufen Steine“.

Zum Text

Aufbau und Stil

Pedro Páramo besteht aus 69 lose aneinan­derg­erei­hten Abschnitten. Manche sind weniger als zehn Zeilen lang, andere mehrseitig. Zunächst folgen die einzelnen Episoden einer klar erkennbaren Chronologie, doch bald beginnen sich ver­schiedene Erzähl- und Zeitebenen unregelmäßig abzuwech­seln. Neue Figuren tauchen auf, die der Leser oft nicht spontan einordnen kann. Ihre Rolle wird nur schrit­tweise im Zusam­men­hang mit weiteren Szenen klar. Dabei findet im Ganzen ein schle­ichen­der Übergang von einer chro­nol­o­gisch späteren zu einer früheren Erzählebene statt. Im ersten Teil gelangt Juan Preciado nach Comala, begegnet im verlassenen Dorf ver­schiede­nen Geistern und endet schließlich im Grab – aus dem er, selbst zum Geist geworden, seine bisherige Geschichte in der Ich-Form erzählt hat. Die zweite, frühere Zeitebene folgt grob dem Leben von Juan Preciados Vater Pedro Páramo. Als dieser am Ende des Buches stirbt, weiß der Leser also längst über die düstere Zukunft des Dorfes Bescheid. Juan Rulfo verzichtet auf einen erläuternden Erzähler und montiert die Handlung zu einem großen Teil aus Dialogen und Monologen der Dörfler. Dem Leser fällt es mitunter nicht leicht, im Wechsel der Stimmen und Zeiten den Überblick zu behalten. Die Sprache orientiert sich an der Redeweise des Landvolks und ist knapp und spröde. Damit entspricht sie auf formaler Ebene der trostlosen Szenerie, die sie beschreibt.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Roman spielt zum größten Teil nach der Mexikanis­chen Revolution, doch deren Folgen behandelt das Buch nur ganz am Rand. Pedro Páramo erzählt vielmehr vom überzeitlichen Elend der mexikanis­chen Landbevölkerung. Die Bewohner des Dorfes Comala sind Opfer archaischer Machtverhältnisse, die sie selbst aber kaum infrage stellen. Ihre Unfähigkeit zur Veränderung führt das Dorf in den Ruin und macht sie selbst zu Gespenstern, die unerlöst unter der Ver­gan­gen­heit leiden.
  • Rulfo entwickelt seinen Stoff im Rückgriff auf eine klassische Form: die Suche nach dem Vater, die zugleich eine Rückkehr an den (persönlichen) Ursprung bedeutet und außerdem eine Reise an einen paradiesis­chen Ort zu sein verspricht. Im Roman werden allerdings sämtliche entsprechen­den Hoffnungen frustriert: Der Vater ist tot, das Paradies verwüstet und der Weg Richtung Ursprung führt ins Grab.
  • Drei Haupt­fig­uren gestattet Rulfo Fantasien, die im Kontrast zur Realität stehen: Juan Preciado träumt vom idyllischen Dorf Comala, Pedro Páramo vom kindlichen Glück mit Susana und Susana selbst von sinnlichen Szenen mit ihrem Exmann. Die drei Traumwelten sind vor allem Hirnge­spin­ste, die das Elend der Realität noch untermauern.
  • Eigentlich sollte der katholische Pfarrer Rentería um das Seelenheil der Dorf­be­wohner besorgt sein. Doch der Kirchen­vertreter scheint hauptsächlich an die Unauswe­ich­lichkeit der Sünde und die ewige Verdammnis zu glauben. Im Übrigen gehorcht er den Machthabern, um das eigene Auskommen zu sichern. Die Religion vermittelt damit keinen Trost, sondern verstärkt die Hoff­nungslosigkeit.
  • Die Titelfigur Pedro Páramo ist zwar als skru­pel­loser Boss die klarste Verkörperung der fatalen ländlichen Machtverhältnisse. Zugleich aber scheint er als einziger Charakter zu wahrer Liebe, tiefer Trauer und Wut in der Lage zu sein. Seine Sorge um die Jugendliebe Susana sticht als echte Herzen­san­gele­gen­heit aus dem übrigen Panorama hinaus. Doch auch Páramos Liebe ist letztlich Illusion. Dem Elend ist nicht zu entkommen.

His­torischer Hintergrund

Von der Revolution zum Wirtschaftswun­der

Mexiko stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts im Zeichen der Revolution und ihrer Nach­wirkun­gen. Der Umsturz wurde 1910 durch einen eklatanten Wahlbetrug des Diktators Porfirio Díaz ausgelöst und führte zu einem zehnjährigen Bürgerkrieg mit mehreren Hun­dert­tausend Toten. Nach einer ersten Phase der Sta­bil­isierung ab 1920 kam es zwischen 1926 und 1929 zu den kon­ser­v­a­tiv-bäuerlichen Cris­tero-Aufständen, als neue an­tik­lerikale Gesetze die ländliche Macht der katholis­chen Kirche bedrohten. Sie endeten mit einer Art Burgfrieden zwischen Kirche und Staat.

Zu Beginn der 30er Jahre war das Land von zwei Jahrzehnten regionaler Konflikte geschwächt und ausgezehrt. Ab 1934 führte Präsident Lázaro Cárdenas die Reformen weiter, die zehn Jahre zuvor sein Amtsvorgänger Álvaro Obregón eingeleitet hatte: Das Bil­dungssys­tem wurde verbessert, die Rechte der Frauen gestärkt, vor allem aber nahm Cárdenas die bisher nur ver­sproch­ene Landreform in Angriff: Er übergab 18 Millionen Hektar Land an kommunal verwaltete Agrar­be­triebe. Eine grundsätzliche Linderung der ländlichen Armut und Un­gle­ich­heit erreichte er nicht; eine Gegenreform in den 40er Jahren machte viele Maßnahmen wieder rückgängig. Zur gleichen Zeit allerdings nahm das „mexikanis­che Wirtschaftswun­der“ Gestalt an: Eine planvolle In­dus­tri­al­isierung bescherte dem Land über mehrere Jahrzehnte hohes Wirtschaftswach­s­tum und führte zu einer Steigerung sowohl des Pro-Kopf-Einkom­mens als auch der durch­schnit­tlichen Lebenser­wartung. Während all dieser Jahre hielt sich die Partei der In­sti­tu­tion­al­isierten Revolution (PRI) durch ein ausgeklügeltes Klien­ten­sys­tem an der Macht – und sollte es noch bis zum Jahr 2000 bleiben.

Entstehung

Pedro Páramo wurde 1954 in weniger als sechs Monaten niedergeschrieben, doch der Entste­hung­sprozess des Buches zog sich über mehr als zehn Jahre hin. Als Rulfo 1939 begann, sich mit dem Stoff zu befassen, fühlte er sich noch nicht reif für einen Roman. Stattdessen schrieb er sporadisch Erzählungen. Das zurückgestellte Ro­man­pro­jekt trug im Lauf der Zeit ver­schiedene Titel – zunächst „Die Wüsten der Erde“, dann „Ein Stern in der Nähe des Mondes“, anschließend „Das Gemurmel“. Neben der Erinnerung an eine flüchtige Liebe aus Kindertagen war eine Übernachtung im fast verlassenen Dorf seiner frühesten Kindheit eine entschei­dende In­spi­ra­tionsquelle.

Anfang der 50er Jahre arbeitete Rulfo als Hand­lungsreisender für die Reifenfirma Goodrich; er war verheiratet, hatte zwei Kinder, oft Geldsorgen und wenig Zeit zum Schreiben. Er trank viel und erkrankte regelmäßig. Mit einigen Arbeiten aus seinem bald darauf er­scheinen­den Erzählband Der Llano in Flammen und dem Plan zum künftigen Roman bewarb sich Rulfo 1952 um ein Stipendium beim Centro Mexicano de Escritores. Das Stipendium wurde ihm zweimal in Folge gewährt und gab ihm die nötige Ruhe, um den Roman endlich fer­tigzustellen. Von April bis August 1954 brachte Rulfo etwa 300 Seiten zu Papier. In den folgenden Monaten kürzte er das Manuskript um die Hälfte. Er strich zahlreiche poetische oder kom­men­tierende Passagen. Ins­beson­dere war er bemüht, eine Au­toren­stimme zu vermeiden und möglichst wenige Adjektive zu verwenden. Bis zum Ende zweifelte er an der Tragfähigkeit der frag­men­tarischen Struktur des Romans und suchte nach einem stärkeren roten Faden. Gerüchten zufolge mussten Freunde ihm das Manuskript entreißen, um es endlich einem Verlag zutragen zu können. Im März 1955 erschien Pedro Páramo in einer Auflage von 2000 Exemplaren.

Wirkungs­geschichte

Die ersten Kritiken des Buches waren sich nicht einig. Einige bemängelten dessen kom­plizierte, allzu frag­men­tierte und dadurch nur schwer verständliche Handlung. Andere lobten die innovative Form des Romans. Es dauerte mehrere Jahre, bis sich die 2000 Exemplare der ersten Auflage verkauft hatten. Trotzdem erschien schon 1958, nur drei Jahre nach der Erstveröffentlichung, eine deutsche Übersetzung; bald darauf folgten eine englische und eine französische sowie eine Reihe weiterer Übertra­gun­gen.

Nach und nach wiesen auch bedeutende Schrift­steller Lateinamerikas wie Carlos Fuentes, Octavio Paz oder Jorge Luis Borges auf die Meis­ter­schaft von Rulfos Roman hin. Rückblickend sah man in Pedro Páramo einen Vorläufer des magischen Realismus, einer lit­er­arischen Strömung, in der fan­tastis­che Elemente wie selbstverständlich in eine ansonsten re­al­is­tis­che Erzählweise einge­flochten werden. Dessen Hauptvertreter, der Kolumbianer Gabriel García Márquez, bekannte später, Pedro Páramo habe wesentliche Auswirkun­gen auf seine eigene Literatur gehabt. Die amerikanis­che Autorin Susan Sontag schrieb: „Rulfos Roman ist nicht nur eines der Meis­ter­w­erke der Weltlit­er­atur im 20. Jahrhundert, sondern auch eines der ein­flussre­ich­sten Bücher dieses Jahrhun­derts.“ Dieses Urteil hat sich inzwischen weitgehend durchge­setzt. Pedro Páramo wurde mehrfach verfilmt.

Über den Autor

Juan Rulfo wird am 16. Mai 1917 im mexikanis­chen Bundesstaat Jalisco geboren. Ein betrunkener Nachbar erschießt 1923 seinen Vater, seine Mutter erliegt 1927 einer Krankheit. Im gleichen Jahr kommt Rulfo in ein Wais­en­in­ter­nat nach Guadalajara. Mitte der 30er Jahre zieht er zum Studium nach Mexiko-Stadt. Dort wird aber sein Schu­la­b­schluss nicht anerkannt, worauf er beginnt, bei der Ein­wan­derungs­behörde zu arbeiten. In der Großstadt leidet Rulfo an Einsamkeit. Er schreibt einen Roman, den er später vernichtet. Während der 40er Jahre veröffentlicht er sporadisch Erzählungen. 1947 heiratet er, bis 1955 kommen drei Kinder zur Welt. Seine beiden maßgeblichen Bücher werden im Abstand von zwei Jahren veröffentlicht: 1953 der Erzählungsband El Llano en llamas (Der Llano in Flammen), 1955 Pedro Páramo. Rulfo arbeitet im Folgenden als Drehbuchau­tor, als Berater des Mexikanis­chen Schrift­stellerver­ban­des und von 1962 an bis zu seiner Pen­sion­ierung am Institut für indianische Ureinwohner in Mexiko-Stadt. Sein schmales Werk erlangt Weltruhm: Von 1970 an erhält er mehrere nationale und in­ter­na­tionale Lit­er­atur­preise. Zu einer nen­nenswerten Veröffentlichung kommt es nach Pedro Páramo nicht mehr. Wiederholt kündigt Rulfo einen neuen Roman an, der aber nie erscheint. 30 Jahre nach der Publikation von Pedro Páramo schreibt Rulfo in einer Notiz: „Als ich an Pedro Páramo arbeitete, wollte ich mich nur von einer großen Angst freis­chreiben. Um zu schreiben, muss man wirklich leiden.“ Bis an sein Lebensende bleibt Rulfo scheu und wortkarg. Zur mexikanis­chen Autorin Elena Poniatowska sagt er einmal: „Ich weiß, dass alle Menschen einsam sind. Aber ich noch mehr.“ Rulfo stirbt am 7. Januar 1986 in Mexiko-Stadt.