Materie und Gedächtnis

Buch Materie und Gedächtnis

Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist

Paris, 1896
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Eine der ältesten Fragen der Philosophie

Die Beziehung zwischen Leib und Seele – heute würde man eher sagen: zwischen Körper und Geist – beschäftigt Philosophen seit den Anfängen ihrer Disziplin. Platons Höhlen­gle­ich­nis war einer der Aus­gangspunkte für eine Debatte, die in ihren Grundzügen bis heute weitergeführt wird: Wenn alles, wie die Natur­wis­senschaft behauptet, Materie und damit durch die Naturge­setze de­ter­miniert ist, was ist dann die Seele? Oder moderner gefragt: Wie kann man dann Wil­lens­frei­heit besitzen? Macht das Ich nicht mehr aus als die Gehirnzustände? In dieser Debatte standen sich über Jahrhun­derte Ma­te­ri­al­is­ten, die alles Geistige rein aus dem Körperlichen erklären wollten, und Idealisten, die alles Materielle rein aus dem Geistigen zu erklären suchten, gegenüber. Bergson po­si­tion­iert sich zwischen diesen beiden Polen. Wenn es seiner Theorie insgesamt auch oft an Überzeu­gungskraft fehlt, so sind doch viele einzelne Gedanken aus diesem Werk bis heute be­merkenswert. Die in­spiri­erende Kraft von Bergsons Thesen zeigt sich deutlich in der vielfältigen Wirkungs­geschichte seiner Schriften.

Take-aways

  • Materie und Gedächtnis ist das wohl ein­flussre­ich­ste Werk des französischen Philosophen Henri Bergson.
  • Inhalt: In welchem Verhältnis stehen Geist und Materie zueinander? Gemäß dem Idealismus besteht Materie nur durch den Geist, gemäß dem Realismus beruht der Geist auf Materie. Die Wahrheit liegt in der Mitte: Die Materie besteht aus Bildern, die vom Geist aufgenommen werden. Geist und Körper sind verschieden, aber in der Wahrnehmung, die durch das Gedächtnis unterstützt wird, wirken sie zusammen.
  • Das Werk ist Teil einer weit zurück­re­ichen­den Debatte über das Leib-Seele-Prob­lem.
  • Den Unterschied zwischen Körper und Geist überträgt Bergson auf den Gegensatz zwischen reiner Wahrnehmung und Erinnerung, womit seine Theorie dualistisch ist.
  • Materie und Gedächtnis ist das zweite von vier Hauptwerken, die locker aufeinander aufbauen.
  • Einige von Bergsons Thesen wurden später von ver­schiede­nen Disziplinen, wie der Quan­ten­physik und der Soziologie, bestätigt bzw. weit­ergedacht.
  • Den größten Einfluss auf die ver­schiede­nen philosophis­chen Schulen des 20. Jahrhun­derts hatte Bergsons Un­ter­schei­dung von Zeit und Dauer.
  • Viele Denker en­twick­el­ten gerade aus der Ablehnung von Bergsons Thesen neue Ansätze.
  • Bergson ve­r­ar­beit­ete in dem Werk die Erken­nt­nisse der noch jungen Psy­chophys­i­olo­gie.
  • Zitat: „Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel seiner Freiheit aufgedrückt hat.“
 

Zusammenfassung

Gedanken sind keine Gehirnzustände

Sowohl der Geist als auch die Materie haben eine eigene Realität. Die vielfältigen Probleme, die in der Geschichte der Philosophie aus dieser du­al­is­tis­chen Annahme erwachsen sind, sind weit weniger unlösbar als angenommen. Sowohl der Idealismus, der die Materie auf die Vorstellung von ihr reduziert, als auch der Realismus, der den Geist rein ma­te­ri­al­is­tisch erklären will, haben Unrecht. Statt von Vorstel­lun­gen und von Dingen sollte man von Bildern sprechen, die ein Mittleres zwischen den beiden Extremen sind. Sie sind der men­schlichen Intuition viel näher. Philosophen gehen im Allgemeinen davon aus, dass der menschliche Geist vollständig auf Gehirnzustände zurückgeführt werden kann, dass man also, wenn man das Gehirn nur genau genug kennt und beobachtet, sagen kann, was genau der Mensch gerade denkt. Diese Grun­dan­nahme gilt es infrage zu stellen. Denn Gehirnzustände greifen nur einzelne Elemente des Gedankens auf: Wenn das Denken ein Theaterstück wäre, dann würden die Gehirnzustände den Bewegungen der Schaus­pieler auf der Bühne entsprechen, was allerdings kaum dabei hälfe, den Inhalt des Stücks zu begreifen.

„Dieses Buch bejaht die Realität des Geistes und die Realität der Materie und versucht die Beziehung zwischen beiden klarzulegen an dem speziellen Beispiel des Gedächtnisses.“ (S. I)

Das ganze Universum besteht aus Bildern, wobei der menschliche Körper eine Son­der­stel­lung einnimmt: Er ist seinem Besitzer sowohl von außen, über die Wahrnehmung, als auch von innen, über Affektionen, bekannt. Der Körper kann Einfluss auf die äußeren Bilder nehmen und erhält umgekehrt von ihnen Impulse, auf die er entweder reagiert oder nicht. Die Wirkung der äußeren Gegenstände ändert sich je nach dem Standpunkt des Individuums. Das Wahrnehmungsvermögen des Gehirns setzt empfangene Reize in Bewegung um – genau wie die Nerven des Rückenmarks, nur sehr viel komplexer und mit der Option, die Bewegung unter Umständen nicht auszuführen.

Wahrnehmung als Reflex

Die Bilder existieren gle­ichzeitig in zwei Systemen: zum einen im System der äußeren Bilder, die in genau gleich bleibendem Verhältnis zueinander stehen, zum anderen im System der inneren Bilder, das sich, mit dem Ich im Mittelpunkt, immer verändert und das eine Wahrnehmung des Universums ist. Der Annahme dieser beiden Systeme entspricht die Wis­senschaft („science“) auf der einen und das Bewusstsein („conscience“) auf der anderen Seite. Der Idealismus führt das erste System auf das zweite zurück, der Realismus hingegen das zweite auf das erste. Dadurch wird jedoch für den Realisten die Wahrnehmung und für den Idealisten die Wis­senschaft zum Rätsel. Beide gehen davon aus, dass Wahrnehmung reine Erkenntnis ist. Das ist falsch: Wahrnehmung ist wie ein Reflex, nur sehr viel kom­plizierter. Das Gehirn ist eine komplexe Tele­fonzen­trale, die Reize aufnimmt, weit­er­leitet oder aufschiebt. Je höher entwickelt ein Lebewesen ist, desto größer wird der Abstand zwischen Reiz und Reaktion – die Handlung wird zunehmend in­de­ter­miniert.

„Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von ‚Bildern‘. Und unter ‚Bild‘ verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist, als was der Idealist ‚Vorstellung‘ nennt, aber weniger, als was der Realist ‚Ding‘ nennt (...)“ (S. I)

Das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und äußerem Bild soll nicht so verstanden werden, dass das Gehirn einem Gegenstand etwas hinzufügt. Es entsteht kein Plus, sondern ein Minus: Das Gehirn selektiert und nimmt nur bestimmte Beson­der­heiten am Gegenstand wahr, nie das äußere Bild als Ganzes. Gewissermaßen bricht sich das Licht eines Gegenstands an uns und wir werfen es auf ihn zurück. Wir re­flek­tieren jedoch nur das, was für uns nützlich ist, und ignorieren den Rest. Während die äußeren Bilder immer vollständig aufeinander wirken, erfasst unser Bewusstsein also nur Teile. Ein Gefühl für unseren Körper, ein Verständnis unserer Persönlichkeit entsteht deshalb, weil sich alle Bilder um uns herum verändern, wenn wir uns bewegen, der Körper aber dabei unveränderlich bleibt. Es ist daher nur logisch, dass er in unserer Wahrnehmung zum Mittelpunkt wird.

Empfind­un­gen sind keine Wahrnehmungen

Jede Wahrnehmung wird von Empfind­un­gen beeinflusst. Wir nehmen die äußeren Gegenstände außerhalb von uns selbst wahr, während wir unsere Empfind­un­gen in uns erleben. Die Psychologen liegen falsch, wenn sie behaupten, Wahrnehmung sei, gleich wie ein Rohstoff, aus lauter Empfind­un­gen zusam­menge­setzt. Vielmehr handelt es sich um zwei dem Wesen nach un­ter­schiedliche Dinge. Empfind­un­gen sind nichts anderes als die Wirkung unseres Körpers auf sich selbst. Sie sind jeder reinen Wahrnehmung beigemischt und verun­reini­gen diese gewissermaßen. Um zur reinen Wahrnehmung zu gelangen, müssten also die Empfind­un­gen von ihr abgezogen werden.

Erin­nerun­gen sind keine Wahrnehmungen

Neben den Empfind­un­gen spielen in jede Wahrnehmung auch Erin­nerun­gen hinein. Sie tragen die Ver­gan­gen­heit in die Gegenwart und mod­i­fizieren dadurch die Reaktion, die eine reine Wahrnehmung vorgeben würde. Die Entschei­dung darüber, welche Reaktion auf einen Reiz folgt, ist nie willkürlich, sondern immer von der Erfahrung und damit vom Gedächtnis abhängig. Je größer der Er­fahrungss­chatz ist, desto mehr vermindert sich die Rolle der aktuellen Wahrnehmung zum reinen Anlass, die zurückliegenden Erfahrungen her­vorzu­holen. Durch das Gedächtnis wird die Wahrnehmung subjektiv. Erinnerung und Wahrnehmung sind deswegen dem Wesen nach un­ter­schiedlich. Erklärt man sie für dasselbe, entstehen viele Probleme. Die reine Wahrnehmung ist aktiv, direkt mit Bewegung verbunden und wirkend – hier wird die Realität erfasst und durch­drun­gen, nicht konstruiert. Ein Vorgang verhindert aber die reine Wahrnehmung: Wir können die Wahrnehmung nicht aus dem Konzept der Dauer, das unserem Bewusstsein eigen ist, herauslösen. Jede Wahrnehmung wird einer bestimmten Dauer zugeordnet. Damit beinhaltet sie eine Leistung des Be­wusst­seins und ist nicht mehr rein.

Zwei Formen des Gedächtnisses

Grundsätzlich gibt es zwei Formen des Gedächtnisses: Die erste Form speichert die einzelnen Bilder unseres Lebens und gibt im Moment der Wahrnehmung vergangene Bilder dazu. In der zweiten Form wird durch Wieder­hol­ung eine Erinnerung her­vorgerufen. Diese Erin­nerun­gen sind mehr Tat als Vorstellung, sie sind aktiv, gegenwärtig und werden erlebt. Ein Beispiel: Ein auswendig gelerntes Gedicht ist einerseits eine gespe­icherte Erinnerung, an­der­er­seits aber auch eine aktive Tat, nämlich dann, wenn wir es innerlich aufsagen und das Aufsagen als aktuellen Moment erleben. Das erste Gedächtnis stellt also vor, das zweite wiederholt. Das erste braucht Abstand vom aktiven Tun, das zweite findet im Tun statt. Im Leben arbeiten beide Arten des Gedächtnisses Hand in Hand.

„Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die nicht mit Erin­nerun­gen gesättigt ist.“ (S. 18)

Beim aufmerk­samen Wieder­erken­nen wird die gegenwärtige Wahrnehmung zurückgestellt, um vergangenen Erin­nerungs­bildern Raum zu geben. Dann verstärken sich Gedächtnis und Wahrnehmung und ver­i­fizieren sich dabei wech­sel­seitig. Aufmerk­samkeit bedeutet nicht, dass ein Gegenstand besonders aus­geleuchtet wird, sondern vielmehr, dass eine Wahrnehmung auf ihre Richtigkeit hin überprüft wird. Die bewusste Wahrnehmung ist ein Stromkreis, der in immer engeren Runden durch die Erin­nerungs­bilder geht und wiederholt zur aktuellen Wahrnehmung zurückkehrt. Aktuelle Wahrnehmung und Erin­nerungs­bild ver­schmelzen bei diesem Vorgang.

Gedanken sind Bewegung

Wenn wir eine kom­plizierte körperliche Be­we­gungs­folge lernen wollen, machen wir sie erst in der Gänze nach und zerteilen sie dann in einzelne Elemente, die wir Schritt für Schritt durch Wieder­hol­ung einüben. Wir brauchen also ein Schema. Ebenso verstehen wir Gehörtes mithilfe eines Schemas. Die Höreindrücke, die einzelnen Silben, werden mithilfe von Sprachken­nt­nis­sen, also gespe­icherten Erin­nerun­gen, in uns nachge­spielt – und aus dem Schema wird ein lebendiges Bild.

„Mein Leib benimmt sich also wie ein Bild, das andere Bilder reflektiert, indem es sie unter dem Gesicht­spunkte der ver­schiede­nen Wirkungen, die es auf sie ausüben kann, analysiert.“ (S. 34)

Es hat sich gezeigt, dass Erin­nerun­gen nicht klar im Gehirn lokalisiert werden können. Alle Versuche, eine Ordnung des Gehirns anzufer­ti­gen, bei der es klare Bereiche mit ver­schiede­nen Vorstel­lungszen­tren gibt, sind fehlgeschla­gen. Das kommt daher, dass Gedanken keine festen Punkte sind, sondern Bewegungen. Das Zusam­men­spiel von Erinnerung und Wahrnehmung ist ein dynamischer Vorgang, bei dem beide nur im Zusam­men­spiel wirksam und nützlich sein können.

Gegenwart und Ver­gan­gen­heit

Begrifflich lassen sich die reine Erinnerung, das Erin­nerungs­bild und die Wahrnehmung voneinander un­ter­schei­den. Allerdings taucht nichts davon isoliert auf: Das Erin­nerungs­bild hat teil an der reinen Erinnerung, und die Wahrnehmung ist wiederum mit Erin­nerungs­bildern durchsetzt; das Ganze ist ein Kontinuum. Psychische Zustände sind nicht, wie die As­sozi­a­tion­spsy­cholo­gie voraussetzt, einfache Elemente, die starr für sich stehen, und sie lassen sich auch nicht auf die Aspekte Empfindung und Bild reduzieren, zwischen denen angeblich nur graduelle Un­ter­schiede bestehen. Viel wesentlicher ist der Unterschied zwischen reiner Erinnerung und gegenwärtiger Wahrnehmung: Er entspricht dem Unterschied zwischen Gegenwart und Ver­gan­gen­heit und ist damit viel mehr als graduell.

„Man könnte sagen, dass ohne einen Rückblick von entsprechen­der Weite keine Be­sitzer­grei­fung der Zukunft möglich ist; dass der Vorstoß unserer Aktivität nach vorwärts eine Leere hinter sich lässt, in die sich die Erin­nerun­gen stürzen (...)“ (S. 53)

Die Gegenwart ist lebendig und aktiv, die Ver­gan­gen­heit machtlos. Zwar besteht die Gegenwart für uns sowohl aus Ver­gan­gen­heit (da unsere Empfindung immer bereits vergangen ist, sobald sie wahrgenom­men wird) als auch aus Zukunft (insofern sie sich immer auf etwas Zukünftiges hinbewegt); wir empfinden sie also als Dauer. Die reine Erinnerung aber hat an der Gegenwart keinen Anteil. Erst wenn die Erinnerung aktiv und damit zur Empfindung wird, tritt sie in die Gegenwart ein. Dann werden Erin­nerun­gen, die für die bevorste­hende Tätigkeit nützlich sind, zu Bildern vergegenwärtigt und haben damit aktiv Anteil am Handeln. Im Unterschied dazu ist der Körper an der reinen Erinnerung nicht beteiligt.

Wie All­ge­mein­be­griffe gebildet werden

Wenn wir einen Gegenstand zum ersten Mal wahrnehmen, nehmen wir zuerst eine her­vorstechende Eigenschaft an ihm wahr. Sie rührt vom Gegenstand selbst her und ruft Reaktionen hervor, die wir mittels unserer Erin­nerun­gen mit vergangenen Zuständen vergleichen. Verstand und Gedächtnis erkennen dann zusammen Un­ter­schiede und Ähn­lichkeiten und bilden so All­ge­mein­be­griffe von Arten. Das Un­ter­schei­den von Individuen schließt relativ schnell damit ab, dass ein Bild kreiert wird, das Erfassen von Arten ist dagegen ein offener Prozess, in dem Wahrnehmung und Erinnerung immer wieder abgeglichen werden. Zwischen der Ebene der reinen Erinnerung („Traumebene“) und der der reinen Wahrnehmung („Tätigkeit­sebene“) gibt es Tausende Zwis­ch­enebe­nen. Indem wir unser Bewusstsein ausbreiten und uns von der Tätigkeit zum Traum bewegen, bilden sich unsere All­ge­mein­be­griffe. Der Körper festigt dabei den Geist, er ist der Fixpunkt, an dem der Geist seine Entschlüsse und Begriffe ausrichten muss.

Wir machen uns die Welt

Im Grunde erkennen sowohl die Wis­senschaft als auch das Bewusstsein die gesamte Materie als Ganzes. Erst unser Geist zerteilt die Kontinuität in Elemente, etwa in einzelne Gegenstände, und stellt dann wieder Verbindun­gen zwischen diesen Elementen her. Es sind praktische Gründe, die uns dazu bringen, die einzelnen Gegenstände voneinander abzugrenzen und einen abstrakten Raum anzunehmen. Handeln ist nur durch dieses Auss­chnei­den und Abgrenzen möglich. Die Materie ist aber nie mit Teilchen erklärbar: Solche anzunehmen, ist uns im praktischen Leben vielleicht hilfreich, allerdings nicht in der wis­senschaftlichen Erkenntnis der Materie. Auch die Physiker haben das eingesehen und gehen inzwischen von der Annahme aus, dass im­ma­terielle Kräfte zwischen den Atomen wirken. Der Realismus setzt, in seinen ver­schiede­nen Ausprägungen, den Raum als Schranke zwischen Geist und Welt und geht zuerst von ihm aus. Wenn der Raum nun aber nicht Bedingung, sondern ein Hil­f­skon­strukt unseres Geistes ist, um die Materie zu gliedern und so handlungsfähig zu werden, lösen sich die scheinbar unüberbrückbaren Abgründe zwischen Idealismus und Realismus auf.

Zeit und Dauer

Unser Bewusstsein gibt uns ein Gefühl der Dauer, das grundsätzlich zu un­ter­schei­den ist von dem, was die Physik unter Zeit versteht. Wenn wir wahrnehmen, greifen wir immer Bruchstücke heraus und verdichten diese zu unserem Leben. Um zur reinen Wahrnehmung zu gelangen, muss man sich von der Annahme einzelner Gegenstände und des teilbaren Raums lösen. Die Akte der Zerteilung und Verdichtung sind notwendige Funktionen des wahrnehmenden Geistes, der auf Tätigkeit aus­gerichtet ist. Will er aber die eigene Position festlegen, braucht er die Schemas eines homogenen Raums und einer homogenen Zeit.

„Das Vergangene lebt in zwei ver­schiede­nen Formen fort: erstens in motorischen Mechanismen; zweitens in unabhängigen Erin­nerun­gen.“ (S. 66)

Mit alldem kann die wahre Beziehung zwischen Körper und Geist zwar noch immer nicht eindeutig bestimmt, der Widerspruch zwischen Materie und Freiheit nicht endgültig gelöst werden – doch die Lösung rückt zumindest näher, weil in der reinen Wahrnehmung der „niedrigste Grad des Geistes“, nämlich der gedächtnislose Geist, eine Einheit mit der Materie bildet.

Zum Text

Aufbau und Stil

Henri Bergson baut seine Abhandlung Materie und Gedächtnis in vier Kapiteln auf, in denen er jeweils zunächst seine Grund­be­griffe definiert („Bild“, „Gedächtnis“, „Erinnerung“, „Wieder­erken­nen“, „Dauer“, „Bewegung“), um dann seine Theorie über deren Zusam­men­spiel darzulegen. Seine Ar­gu­men­ta­tion beruht auf der These, dass Körper und Geist wesentlich verschieden sind, der Widerspruch zwischen ihnen aber auflösbar und ihre Beziehung erklärbar ist. Bergsons Stil ist geprägt von der psy­chol­o­gis­chen Forschung einerseits und philosophis­chen Vordenkern an­der­er­seits. Das führt dazu, dass seine Thesen nicht immer vollständig klar formuliert sind. Seine De­f­i­n­i­tio­nen, allen voran die des Bildes, bleiben oft sehr vage. Häufig driftet er ins Metapho­rische ab. Ein Beispiel: „Unsere Vorstellung von den Dingen würde also letzten Endes daher stammen, dass die Dinge sich an unserer Freiheit brechen.“ Die Lektüre setzt gewisse Vorken­nt­nisse zum Leib-Seele-Prob­lem und die Kenntnis der einschlägigen Be­grif­flichkeiten voraus. Im Idealfall hat der Leser auch Grund­ken­nt­nisse über die Anatomie des Gehirns.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Bergsons Materie und Gedächtnis ist Teil einer der am längsten und kon­tro­ver­s­es­ten geführten Debatten in der Geschichte der Philosophie: derjenige um das Leib-Seele-Prob­lem. Die Frage, in welcher Wech­sel­wirkung Körper und Geist zueinander stehen, beschäftigte vor Bergson unter anderem René Descartes.
  • Bergson ist entschlossen, einen Mittelweg zwischen Idealismus und Ma­te­ri­al­is­mus zu finden: Zwischen Vorstellung und Gegenstand setzt er das Bild, das Elemente von beidem hat. Den wesentlichen Unterschied zwischen Körper und Geist überträgt er auf einen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Erinnerung. Damit ist seine Theorie grundlegend dualistisch.
  • Bergson verknüpft seine These mit der Frei­heit­s­the­matik: Den Geist sieht er als etwas, was über den Körper hinausgeht. Er steht außerhalb der von Kausal­beziehun­gen geprägten Materie, weil er in der Lage ist, Reaktionen auf äußere Reize zu verzögern oder ganz auszulassen. Darin besteht die Freiheit des Menschen.
  • Bergson bewegt sich im Span­nungs­feld zwischen Psychologie und Metaphysik: Beide, so meint er, beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen und können sich gegenseitig in deren Beant­wor­tung unterstützen.
  • Bergson verarbeitet die neusten Erken­nt­nisse der noch jungen Psy­chophys­i­olo­gie (unter anderem vertreten durch Théod­ule-Ar­mand Ribot) und entnimmt ihnen Belege für seine Theorie, obwohl er gle­ichzeitig einer der psy­chophys­i­ol­o­gis­chen Grun­dan­nah­men wider­spricht, nämlich derjenigen, dass Erin­nerun­gen in den Zellen des Gehirns gespeichert werden.
  • Bergson nimmt Erken­nt­nisse ver­schiedener Wis­senschaften vorweg: Seine Theorie zu den atomaren Teilchen entspricht Elementen der Quan­ten­physik und sein Zeitbegriff zeigt Parallelen zu neueren Erken­nt­nis­sen der Ther­mo­dy­namik. Daneben wurden Teile seiner Theorie des Be­wusst­seins für die moderne Soziologie fruchtbar gemacht.

His­torischer Hintergrund

Frankreich um die Jahrhun­der­twende

Auf das Ende des Deutsch-Französischen Krieges im Jahr 1871 folgte für Europa eine Phase der Entspannung und den Friedens, während der Frankreich zunächst vom Präsidenten der Dritten Französischen Republik Adolphe Thiers geführt wurde. Wie die anderen europäischen Großmächte setzte auch Frankreich seine im­pe­ri­al­is­tis­chen Be­stre­bun­gen fort. Rasante Fortschritte in der Wis­senschaft, besonders in der Medizin (Louis Pasteur entwickelte eine Schutz­imp­fung gegen Tollwut) und der Physik (Pierre und Marie Curie forschten zu ra­dioak­tiven Elementen), verbesserten den Lebens­stan­dard deutlich.

In­nen­poli­tisch sorgte der Prozess um den angeblichen Landesverräter Hauptmann Alfred Dreyfus für Aufsehen, der zum Anlass für Au­seinan­der­set­zun­gen zwischen dem Block der Radikalen und an­ti­semi­tis­chen na­tion­al­is­tis­chen Gruppen wurde.

Die gesamteuropäischen Beziehungen ver­schlechterten sich spätestens ab 1890, als Otto von Bismarck zurücktrat. Vor allem ging nach und nach der „europäische Gedanke“, die Idee einer Gemein­schaft der Nationen, verloren und die Differenzen, ausgelöst auch durch koloniale Au­seinan­der­set­zun­gen, vertieften sich. Frankreich näherte sich außenpolitisch Russland und England an, während Deutschland zunehmend isoliert wurde. In dieser Atmosphäre brach schließlich rund 15 Jahre später der Erste Weltkrieg aus.

Entstehung

Das Leib-Seele-Prob­lem und das Verhältnis zwischen Geist und Materie beschäftigt die Philosophie seit der Antike. Während Platon den Grundstein für den Idealismus legte, entstand durch Demokrit und Epikur die Gegen­po­si­tion des Ma­te­ri­al­is­mus. Die jahrhun­dertealte Debatte bildete durchweg den Hintergrund von Bergsons Ausar­beitun­gen. Dieser ging jedoch vor allem auf die Erken­nt­nisse des Ra­tio­nal­is­ten René Descartes, des englischen Sen­su­al­is­ten George Berkeley und des deutschen Idealisten Immanuel Kant ein. Den größten zeitgenössischen Einfluss auf Bergson nahm Herbert Spencer, von dem Bergson anfangs viel übernahm, um sich dann nach und nach von ihm abzusetzen.

Materie und Gedächtnis ist das zweite von Bergsons vier Hauptwerken. Durch alle vier zieht sich der Begriff der Dauer wie ein roter Faden, dennoch bauen sie nur locker aufeinander auf. Die in diesen Werken en­twick­el­ten Thesen wendete Bergson in ver­schiede­nen kleineren Schriften und Sammelbänden auf un­ter­schiedliche Fragestel­lun­gen an. Aus­gangspunkt seiner gesamten Philosophie ist die einfache Intuition der Dauer, etwas, wie er selbst erklärt, „so Einfaches, so unendlich Einfaches, so außergewöhnlich Einfaches, dass es dem Philosophen niemals gelungen ist, es auszudrücken. Und darum hat er sein ganzes Leben lang darüber gesprochen“. In Materie und Gedächtnis untersuchte er diesen intuitiven Gedanken im Hinblick auf das Span­nungs­feld zwischen Geist und Materie.

Wirkungs­geschichte

Vielen Kritikern gilt Materie und Gedächtnis als das be­deu­tend­ste Buch Bergsons. Martin Heidegger etwa meinte: „Es ist grundlegend für die moderne Biologie und enthält Einsichten, die noch längst nicht ausgeschöpft sind.“ Bergsons Wirkung auf die europäischen und amerikanis­chen Geistesgrößen des 20. Jahrhun­derts ist kaum im Detail anzugeben, weil sie oft un­ter­schwellig erfolgte. Sein Einfluss ist überall und nirgends spürbar: Nirgends, weil sein Name im All­ge­mein­wis­sen keinen festen Platz gefunden hat, überall, weil seine Ideen auch in scheinbar völlig anderen The­men­bere­ichen und ent­ge­genge­set­zten Strömungen weit­er­ver­ar­beitet wurden.

Sein Einfluss ist bei so un­ter­schiedlichen Persönlichkeiten wie Ernst Cassirer, Gilles Deleuze, Walter Benjamin und Jean-Paul Sartre spürbar. Viele Thesen, etwa die des französischen Ex­is­ten­zial­is­mus, entstanden gerade aus der kritischen Au­seinan­der­set­zung mit Bergson. Den größten Einfluss auf die ver­schiede­nen philosophis­chen Schulen des 20. Jahrhun­derts hatte Bergsons Un­ter­schei­dung von Zeit und Dauer.

Die analytische Philosophie war sich – genau wie übrigens die Vertreter der Marxismus – in ihrer Ablehnung Bergsons einig. Die Vorwürfe reichten von Ir­ra­tional­is­mus bis Wis­senschafts­feindlichkeit. Auf Ludwig Wittgen­stein soll das Urteil zurückgehen, Bergson sei „a bad philo­soph­i­cal architect“. Großen Einfluss hatte Bergsons Werk dagegen auf Alfred North Whitehead und George Herbert Mead. Unter den deutschen Philosophen wurde vor allem Georg Simmel stark von Bergson beeinflusst, aber auch bei Edmund Husserl finden sich Parallelen, vor allem in seinem Begriff der Zeit. Max Horkheimer stellte fest, dass er Bergson „Entschei­den­des verdankt“.

Über den Autor

Henri Bergson wird am 18. Oktober 1859 als Sohn des jüdischen Komponisten Michal in Paris geboren. Während seiner Schulzeit wird er für eine math­e­ma­tis­che Problemlösung aus­geze­ich­net. Er beschließt, Literatur und Philosophie zu studieren und besucht von 1877 bis 1881 die berühmte Pariser École normale supérieure. Nach dem Examen in Literatur legt er die Prüfung für eine Gym­nasial­pro­fes­sur in Philosophie ab. Dieses Fach un­ter­richtet er in den folgenden Jahren, zunächst in Angers, dann in Cler­mont-Fer­rand. Neben seiner Lehrtätigkeit widmet er sich seinen philosophis­chen Schriften. Sein erstes Hauptwerk ist der 1889 als Teil seiner Promotion an der Sorbonne entstandene Essay Zeit und Freiheit (Essai sur les donnés immédiates de la conscience). Als zweites Hautpwerk gilt das 1896 erschienene Materie und Gedächtnis (Matière et mémoire)Das dritte, Schöpferische Entwicklung (L’Evolution créatrice), erscheint 1907 und bringt Bergson in­ter­na­tionalen Ruhm ein. Sein viertes Hauptwerk ist Die beiden Quellen der Moral und der Religion (Les deux sources de la morale et de la réligion, 1932). 1890 kann Bergson nach er­fol­gre­icher Ha­bil­i­ta­tion an ein Pariser Gymnasium wechseln. Zwei Jahre später heiratet er und wird Vater einer Tochter. 1900 erscheint sein Essay Das Lachen (Le rire), der sich mit einer Theorie des Komischen beschäftigt und großen Einfluss auf den Symbolismus haben wird. Bergson erhält einen Lehrstuhl am renom­mierten Collège de France, wird in die Académie française aufgenommen und hält unter anderem Vorträge in Oxford und Cambridge. Im Ersten Weltkrieg übernimmt er ver­schiedene diplo­ma­tis­che Missionen, deren wichtigste darin besteht, den US-Präsidenten Wilson zur Unterstützung Frankreichs im Krieg gegen Deutschland zu bewegen. 1927 erhält er den Nobelpreis für Literatur. In seinen letzten Leben­s­jahren leidet Bergson an einer rheuma­tis­chen Erkrankung und lebt zurückgezogen. Obwohl er sich dem katholis­chen Glauben verbunden fühlt, lässt er sich 1940, nachdem auch in Frankreich an­ti­semi­tis­che Tendenzen zunehmen, demon­stra­tiv als Jude eintragen und gibt damit alle Titel, Mit­glied­schaften und Ausze­ich­nun­gen auf. Henri Bergson stirbt am 4. Januar 1941 in Paris.