Rede über den Geist des Positivismus

Buch Rede über den Geist des Positivismus

Paris, 1844
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Ordnung und Fortschritt für die menschliche Gesellschaft

Die sozialen und politischen Umwälzungen im Zuge der Französischen Revolution in­spiri­erten den Math­e­matiker und Philosophen Auguste Comte zu einer bahn­brechen­den Neukonzep­tion der noch jungen Sozial­wis­senschaften. Mit seiner nicht immer leicht zu ver­ste­hen­den Rede über den Geist des Pos­i­tivis­mus wollte er seine Ideen kurz und bündig darlegen. Zentrales Motiv ist der Fortschritt der Menschheit in drei Stufen. Die dritte, pos­i­tivis­tis­che habe soeben begonnen, sagt Comte. Er wähnt sich also – typisch für die Fortschrittse­uphorie des 19. Jahrhun­derts – mitten im Goldenen Zeitalter der Vernunft. In der Rede wird er deshalb auch nicht müde, die Vorzüge des Pos­i­tivis­mus und einer auf math­e­ma­tisch-natur­wis­senschaftlichen Grundlagen aus­gerichteten Sozial­wis­senschaft zu betonen. Er kämpft gegen Theologie und Metaphysik und streitet für eine allgemeine Volks­bil­dung, für Ordnung und Fortschritt sowie für die Neuordnung der Wis­senschaften. Comtes Ideen waren ebenso ein­flussre­ich wie umstritten. Das gilt in gewissem Maß bis heute: Nach wie vor lassen sich Ratio und Religion nicht einfach vereinen.

Take-aways

  • In seiner Rede über den Geist des Pos­i­tivis­mus fasst Auguste Comte die Ideen des Pos­i­tivis­mus zusammen.
  • Inhalt: Die Menschheit gelangt zum Pos­i­tivis­mus, nachdem sie ein the­ol­o­gis­ches und ein meta­ph­ysis­ches Stadium durchlaufen hat. Der Pos­i­tivis­mus beruft sich nur auf wahrgenommene Tatsachen und schließt Religion und Aberglauben aus. Dank klarer, pos­i­tivis­tis­cher Erkenntnis lässt sich die Gesellschaft planen und verbessern, lassen sich Ordnung, Fortschritt und Bildung für alle Schichten etablieren.
  • Comtes Rede hatte den Zweck, seine Philosophie einem großen Publikum zugänglich zu machen.
  • Er hielt sie 1844 anlässlich einer As­tronomievor­lesung.
  • Die Kern­be­griffe Ordnung und Fortschritt gehören zusammen: kein Fortschritt ohne Ordnung, keine Ordnung ohne das Ziel des Fortschritts.
  • Jede in­di­vid­u­al­is­tis­che Philosophie oder Theologie war Comte ein Gräuel: Für ihn bestand Fortschritt immer im Fortschritt der Gesellschaft.
  • Comte wies dem Pos­i­tivis­mus und der Soziologie die Aufgabe zu, künftige soziale En­twick­lun­gen vorherzuse­hen und die Lebensumstände der Menschen zu verbessern.
  • Er versuchte, soziale Phänomene wie Naturphänomene zu betrachten. Daran entzündete sich die Kritik am Pos­i­tivis­mus.
  • Comtes Wortpaar Ordnung und Fortschritt ist als Spruchband „Ordem & Progresso“ auf der Flagge Brasiliens zu sehen.
  • Zitat: „So besteht der wahre positive Geist vor allem darin zu sehen um vo­rauszuse­hen (…)“
 

Zusammenfassung

Das the­ol­o­gis­che Stadium

Die Geis­te­sen­twick­lung sowohl des Individuums als auch der gesamten Menschheit lässt sich in drei Zeitab­schnitte unterteilen. Gemäß diesem Dreis­ta­di­enge­setz durchläuft der Mensch zuerst das the­ol­o­gis­che, dann das meta­ph­ysis­che und zuletzt das positive Stadium. Diese drei Stufen sind die Basis jeder er­den­klichen Theorie, die man in den Wis­senschaften finden kann. Die Grundstufe der Erkenntnis bildet das the­ol­o­gis­che Stadium: Mangels besseren Wissens behilft sich der Mensch damit, die Phänomene der Welt durch übernatürliche Kräfte zu erklären. Das the­ol­o­gis­che Stadium wiederum durchläuft nacheinan­der drei ver­schiedene Phasen:

  • Beim Fetis­chis­mus schreibt der Mensch allen äußeren Er­schei­n­un­gen, z. B. den Himmelskörpern, ein ähnliches Dasein zu wie den Menschen. Dies führte in der Geschichte der Menschheit beispiel­sweise zur Verehrung von Himmelskörpern.
  • Beim Poly­the­is­mus legt der Mensch eine große Ein­bil­dungskraft an den Tag, indem er den Dingen das Leben wieder entzieht und es auf fiktive Wesen überträgt – auf Götter, die in den Lauf der Welt eingreifen.
  • Beim Monothe­is­mus lässt die überbordende menschliche Fantasie wieder nach und er kommt zur Erkenntnis, dass alle Phänomene auf nur ein Wesen zurückzuführen bzw. an unveränderliche Gesetze gebunden sind.

Das meta­ph­ysis­che Stadium

Der Instinkt, sich stets auf die Suche nach neuen Antworten zu begeben, sorgte im Lauf der Zeit für eine Weit­er­en­twick­lung des Geistes. Ohne diese wäre man zu maßgeblichen Erken­nt­nis­sen der Menschheit gar nicht erst gekommen. Intelligenz und Philosophie traten ins meta­ph­ysis­che Stadium ein. Im Denkansatz folgt die meta­ph­ysis­che Un­ter­suchung zwar noch der the­ol­o­gis­chen Anschauung, doch sie konzen­tri­ert sich auf tatsächliche Strukturen und Prinzipien von Phänomenen und Ursachen und beschäftigt sich zudem mit dem Sinn und Zweck dieser Wesenheiten. Übernatürliches bleibt zur In­ter­pre­ta­tion der Welt erlaubt, aber es werden auch neue, abstrakte Ideen verfolgt. An die Stelle Gottes tritt die Natur als überge­ord­nete Wesenheit und als Urheberin der natürlichen Phänomene. Das meta­ph­ysis­che Stadium stellt eine Art Zwis­chen­philoso­phie analog zur men­schlichen Pubertät dar: Sie hinterfragt frühere Antworten, löst sie teilweise auf und ebnet somit den Weg zum dritten und letzten Stadium.

Das positive Stadium

Die Denkweise des Menschen wandelte sich von den beiden Vorstufen hin zum positiven Stadium. Dieses ist das fortschrit­tlich­ste. Der Begriff „Pos­i­tivis­mus“ umfasst alle Erken­nt­nisse, die die tatsächlichen wech­sel­seit­i­gen Verbindun­gen der Phänomene un­tere­inan­der ans Licht bringen, ohne den Hintergründen ihrer Entstehung oder ihrer let­z­tendlichen Bestimmung auf die Spur kommen zu können. Das heißt: Der frühere Zweck der Philosophie, mittels Ein­bil­dungskraft alles erklären zu wollen, wird aufgegeben. Stattdessen geht es ab sofort um eindeutige, reale Beobach­tun­gen und Beweise. Erkenntnis beruht nur auf Beobach­tun­gen dessen, was ist.

„Gemäß dieser grundle­gen­den Lehre müssen alle unsere Theorien, welcher Art sie auch sein mögen, beim Individuum wie bei der Gattung notwendig nacheinan­der drei ver­schiedene the­o­retis­che Stadien durchlaufen, die (...) als the­ol­o­gis­ches, meta­ph­ysis­ches und positives (Stadium) hier (...) hinlänglich genau bezeichnet sein können.“ (S. 5)

Die Entwicklung hin zum Pos­i­tivis­mus verläuft kollektiv und sozial. Entsprechend groß ist ihre Bedeutung für die Menschheit als Ganzes. Das pos­i­tivis­tis­che Denken richtet sich nach den Bedürfnissen der Menschen und bestimmt den Ord­nungsrah­men der Gesellschaft. Wis­senschaft bedeutet nicht mehr das Anhäufen von Tatsachen ohne Relation zueinander, sondern die Ergründung von Ursache und Wirkung. Endzweck der positiven Wis­senschaft ist die rationale Voraussicht: Mittels bekannter Zusammenhänge sollen künftige En­twick­lun­gen vorherge­se­hen werden.

Die Aufgaben des Pos­i­tivis­mus

Der Pos­i­tivis­mus soll helfen, jedes Individuum sowohl in the­o­retis­chen als auch in praktischen Fragen zu unterstützen. Er ermöglicht eine Harmonie des Geistes: the­o­retis­ches und aktives Leben kommen gleichermaßen zu ihrem Recht. Allerdings kann unser Geist nicht objektiv sein, d. h. er kann nicht zugleich das Universum erschließen und unser irdisches Leben erforschen. Er ist subjektiv und konzen­tri­ert sich ausschließlich auf irdische Belange. Für die Menschheit macht das Sinn: Die Forschungen des Pos­i­tivis­mus ermöglichen ein ein­heitliches System und eine menschliche Ordnung und sorgen damit für sozialen Einklang. Harmonie entsteht, wenn die Wis­senschaft Techniken her­vor­bringt, die der Mensch politisch und moralisch begreift und entsprechend einsetzt. Dieser soziale Zweck veredelt jede herkömmliche Forschung.

„Die Metaphysik ist also in Wahrheit im Grunde nichts anderes als eine Art durch auflösende Vere­in­fachun­gen schrit­tweise entnervter Theologie.“ (S. 13)

Die positive Wis­senschaft tritt automatisch an die Stelle der Theologie. Denn Theologie und Wis­senschaft sind nicht vereinbar: Auf der einen Seite regiert ein göttlicher Wille, der schwankend und un­berechen­bar ist und als Zukun­ftss­chau nur die Weissagung zulässt. Auf der anderen Seite herrschen Naturge­setze, deren Regelmäßigkeiten die Zukunft planbar und berechenbar machen.

Pos­i­tivis­mus und gesunder Men­schen­ver­stand

Der Begriff „positiv“ bündelt vier Haupt­merk­male:

  • Tatsächlichkeit (statt Einbildung),
  • Nützlichkeit (statt Müßigkeit),
  • Gewissheit (statt Un­entsch­ieden­heit) und
  • Genauigkeit (statt Ungewis­sheit).
„So besteht der wahre positive Geist vor allem darin zu sehen um vo­rauszuse­hen (...)“ (S. 20)

Diese Merkmale un­ter­schei­den den Pos­i­tivis­mus eindeutig von anderen Philoso­phien. Dazu kommt sein organischer Charakter, der ihn vom meta­ph­ysis­chen, negativen Denken abhebt, weil er statt Zerstörung eben Or­gan­i­sa­tion zulässt. Der Pos­i­tivis­mus ist nicht dogmatisch und besitzt keinen Ab­so­lutheit­sanspruch, verliert aber bei aller Toleranz für andere Ideen sein eigenes Ziel nicht aus den Augen. Letztlich entsprechen die Merkmale des Pos­i­tivis­mus den Prinzipien der Vernunft, wie sie die Menschen trotz the­ol­o­gis­cher oder meta­ph­ysis­cher Einflüsse im Alltag immer schon angewendet haben. Heute geht es darum, diese Prinzipien allgemein und in jeder Hinsicht umzusetzen. In allen sozialen und moralischen Aspekten ist den Prinzipien des Pos­i­tivis­mus zu folgen. Hieraus entsteht ein für alle Menschen prak­tik­ables System der positiven Philosophie.

Ordnung und Fortschritt

Es reicht nicht, unsere Erken­nt­nisse auf abstrakte Theorien zu stützen. Die Theorien müssen auch pragmatisch betrachtet werden, z. B. im his­torischen Kontext. Universitäten und Regierungen wurden in den letzten fünf Jahrhun­derten immer mehr vom meta­ph­ysis­chen Geist zerrüttet. Die Macht an den Universitäten verlagerte sich weg von ihren priester­lichen Gründern hin zu den Gelehrten und die Macht in der Politik weg von den Richtern hin zu den Advokaten. Es kam zu einem kollektiven Ruf nach politischer und sozialer Ordnung, dem sich schließlich alle Schichten anschlossen, um eine Verbesserung ihrer sozialen Lebensumstände zu bewirken. Doch unter den gegenwärtigen Umständen in Wis­senschaft und Politik bleiben Ordnung und Fortschritt eine Illusion. Allein eine aufgeschlossene pos­i­tivis­tis­che Philosophie kann eine Versöhnung der beiden Begriffe herbeiführen: Ordnung wird zur Bedingung des Fortschritts und der Fortschritt zum Ziel der Ordnung.

Positive Moral stärkt das öffentliche Wohl

Will man den Menschen Ori­en­tierung geben, spielt die Moral eine wesentliche Rolle. Nachdem sich in der Antike die Religion von der Politik gelöst hatte und sich im Mittelalter durch Einflüsse des Katholizis­mus erste echte Regeln für ein privates und soziales Verhalten her­aus­bilden konnten, wurde im Folgenden jede weitere ethische Entwicklung durch den Konflikt zwischen in­tellek­tuellem Anspruch und natürlicher Sit­tlichkeit erstickt. Ein Mehr an Religion schadet der men­schlichen Ethik: Obwohl die Theologie im Lauf der Geschichte immer weiter zurückgedrängt wurde, erlebte die Moral große Fortschritte, was beweist, dass sie keinesfalls an die Theologie gebunden ist. Es war vielmehr das Zusam­men­spiel von positivem Geist und Rationalität, das die moralische Entwicklung beflügelte.

„Eine un­mit­tel­bare Spezialun­ter­suchung (...) würde uns übrigens leicht erkennen lassen, dass allein die positive Philosophie schrit­tweise das hohe Ziel einer uni­versellen Vereinigung ver­wirk­lichen kann (...)“ (S. 31)

Wir müssen uns von alten Denkweisen lösen: Die alte moralische Haltung war in­di­vid­u­al­is­tisch und egoistisch, weil sie das Heil nur für die einzelne Person suchte. Die pos­i­tivis­tis­che Moral schaut darüber hinaus auf das öffentliche Wohl, das jede einzelne Existenz einbindet. Pos­i­tivis­mus ist grundsätzlich sozial und für die gesamte Menschheit bedeutsam.

Bildung für alle

Um der pos­i­tivis­tis­chen Schule zum Durchbruch zu verhelfen, ist eine bessere Bildung des gesamten Volks nötig. Immer noch stehen Theologen, the­o­retis­che Denker und engstirnige Wis­senschaftler der Ausbreitung der neuen Lehre im Weg. Diese ungünstige Kon­stel­la­tion macht es notwendig, eine neue Erziehung für das ganze Volk zu gestalten. Dabei soll vermieden werden, dass Einzelnen ein spezielles Fachstudium vorbehalten ist. Stattdessen soll jeder Mensch, wie schon Molière sagte, Klarheit über alles bekommen. So werden einerseits die Wis­senschaften beflügelt und an­der­er­seits wird eine kompetente und gelehrte öffentliche Mei­n­ungs­bil­dung ermöglicht. Besonders die bisher be­nachteiligten und von jeder Bildung aus­geschlosse­nen Proletarier werden hiervon profitieren.

Grundsteine einer neuen Volk­spoli­tik

Der neue, pos­i­tivis­tis­che Geist wird durch die Aufhebung der Klassen und die Einführung der Bildung für alle die Politik maßgeblich bee­in­flussen. Aufgrund ihrer Klasse und ihrer Lebensumstände wurden die Proletarier fortwährend unterdrückt und von der Macht fer­nge­hal­ten. Alle Kämpfe um politische Macht wurden bislang ausschließlich innerhalb der Mit­telschicht ausgetragen; das gemeine Volk blieb unbeachtet und hatte nie eine Chance, Teilhabe an der Macht zu erhalten. Worauf aber können die Angehörigen der Un­ter­schicht hoffen? Sie haben ein Recht auf Erziehung und ein Recht auf regelmäßige Arbeit.

„Diese spontane Tendenz zur un­mit­tel­baren Herstellung einer vollständigen Harmonie zwischen the­o­retis­chem und aktivem Leben muss schließlich als das er­freulich­ste Privileg des Geistes des Pos­i­tivis­mus angesehen werden (...)“ (S. 34)

Es ist die Aufgabe pos­i­tivis­tis­cher Philosophie und Politik, diese Rechte durchzuset­zen und alle auftre­tenden Probleme zu lösen. Der Pos­i­tivis­mus muss in den Schulen, Universitäten und Gemeinden Einzug halten, um zunächst eine geistige, dann eine moralische und schließlich eine politische Umwälzung auszulösen. Er hat stets auch den Erhalt von innerer Ordnung und äußerem Frieden im Blick, weil sie ihm als die besten Bedingungen für geistige und sittliche Erneuerung erscheinen.

Die Ordnung der Wis­senschaften

Um die moderne Gesellschaft durch den Pos­i­tivis­mus zu erneuern, muss die Einhaltung der richtigen Reihenfolge aller Wis­senschaften beachtet werden. Ihre Ordnung unterliegt einer dog­ma­tis­chen und einer his­torischen Bedingung. Die dogmatische lautet: Jeder Zweig ist abhängig von den Erken­nt­nis­sen des vorherigen. Die historische: Der Fortschritt entwickelt sich von den ältesten zu den jüngsten Disziplinen. Die wis­senschaftlichen Einzeld­iszi­plinen haben sich parallel zur men­schlichen Gattung entwickelt, gemäß dem „enzyklopädischen Gesetz“. Die Grundlage für alle Wis­senschaft bildet die Mathematik. Das Ziel der Wis­senschaft ist die Soziologie, die sich aller anderen Wis­senschaften bedient. Die Rangfolge lautet also: Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie.

Vom Dreis­ta­di­enge­setz zur Zukunft des Pos­i­tivis­mus

Schaut man von dieser wis­senschaftlichen Hierarchie zurück auf das anfangs formulierte Dreis­ta­di­enge­setz, ist leicht ersichtlich, dass die beiden Theorien einander ergänzen und miteinander verzahnt sind. Der Pos­i­tivis­mus nimmt nicht für sich in Anspruch, bereits ein fertiges System für Volk­serziehung, In­di­vid­ualerziehung und Kollek­tiven­twick­lung zu bieten – aber er will wegweisende Impulse für diese Ziele liefern.

Zum Text

Aufbau und Stil

Comte verfolgte mit seiner Rede über den Geist des Pos­i­tivis­mus den Zweck, seine Lehre einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Er hielt sie anlässlich einer As­tronomievor­lesung. Das erklärt, warum er dem Text eine Schluss­be­tra­ch­tung anfügte, in der es vor allem um den Einfluss des Pos­i­tivis­mus und seiner di­dak­tis­chen Methode auf den Unterricht der Astronomie geht. Die Rede an sich ist jedoch nicht spezifisch as­tronomisch, sondern reka­pit­uliert vor allem Ideen aus Comtes langjähriger Beschäftigung mit dem Pos­i­tivis­mus. Der Aufbau ist drei­gliedrig: Im ersten Teil widmet sich Comte ausführlich dem Dreis­ta­di­enge­setz und stellt die Überlegen­heit des Pos­i­tivis­mus als neuer und zeitgemäßer wis­senschaftlicher Methode heraus. Im zweiten Teil geht es um die nähere Bestimmung des Pos­i­tivis­mus als sozial­re­for­ma­torisches Instrument, das Ordnung und Fortschritt zu etablieren hilft. Im dritten Teil wird eine neue, allgemeine Volks­bil­dung the­ma­tisiert, die schließlich den Fortschritt der pos­i­tivis­tis­chen Wis­senschaften beflügeln soll. Stilistisch ist Comtes Rede sehr her­aus­fordernd: Der Leser muss viel Geduld aufbringen, um der Ar­gu­men­ta­tion folgen zu können und bei vielen Ab­schwei­fun­gen, unkonkreten Andeutungen und umständlichen For­mulierun­gen des Autors den roten Faden nicht zu verlieren.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Zwei Schlüsselwörter in Comtes Text sind „Ordnung“ und „Fortschritt“, die in der sozi­ol­o­gis­chen Forschung auch mit den Begriffen „Statik“ und „Dynamik“ ausgedrückt werden. Comte sah vergangene Rev­o­lu­tio­nen als notwendig an, denn durch sie gelangte die Menschheit erst auf den Weg des Fortschritts. Nur mit einer festen Ordnung aber glaubte er diese Er­run­gen­schaften auch sichern zu können. Mit anderen Worten: Der Fortschritt muss sys­tem­a­tisiert werden, um nicht ins Leere zu laufen.
  • Die Vorstellung des „savoir pour prévoir“, also des Wissens, um vorherzuse­hen, weist dem Pos­i­tivis­mus und der von Comte zur Krone der Wis­senschaften gemachten Soziologie die Aufgabe zu, künftige soziale En­twick­lun­gen vo­rauszuse­hen und die Lebensumstände der Menschen zu verbessern.
  • Bei Comte ist – ähnlich wie bei Marx – der Mensch immer Teil eines Kollektivs. Nicht zuletzt deshalb wettert er fortwährend gegen eine meta­ph­ysis­che und the­ol­o­gis­che Vorstellung der Moral, in der der Einzelne nur sein eigenes Heil suche.
  • Die Menschheit entwickelt sich gemäß Comte nach dem Dreis­ta­di­enge­setz. Comtes Kritiker sehen darin aber nur eine bloße Typologie vorge­fun­dener gesellschaftlicher Formen und kein wirkliches Gesetz. Der Vorwurf: Comte habe der Wirk­lichkeit sein Schema einfach übergestülpt, ohne beweisen zu können, dass sich jede Gesellschaft zwangsläufig nach diesem Gesetz entwickle. Tatsächlich gelang es ihm nicht zu erklären, warum sich ver­schiedene Gesellschaften in derselben Epoche auf un­ter­schiedlichen En­twick­lungsniveaus befinden.
  • Im Rahmen des Pos­i­tivis­mus werden soziale Phänomene wie Naturphänomene betrachtet. Beide sind unveränderlichen Gesetzen unterworfen. Kritiker sehen darin einen fun­da­men­talen Denkfehler: Denn soziale Phänomene sind dem Menschen nicht in der gleichen Weise gegeben wie die Phänomene der Objektwelt; vielmehr werden sie durch das menschliche Bewusstsein her­vorge­bracht, das sich immer in einem ganz bestimmten sozialen und his­torischen Kontext befindet.

His­torischer Hintergrund

Frankreich zwischen Revolution und Restau­ra­tion

Gegen Ende des 18. Jahrhun­derts setzte sich in aufgeklärten Ländern die Überzeugung durch, dass die Strukturen von Gesellschaften und politischen Systemen auf men­schliches Handeln zurückzuführen seien – nicht auf eine göttliche Fügung. Eine sys­tem­a­tis­che Sozial­wis­senschaft verhieß die Chance, durch Beobachtung und Wis­sensauf­bau die Gesellschaft perfekt gestalten zu können. Dass die Sehnsucht danach in Frankreich besonders groß war, hat historische Gründe. Zwischen 1789 und 1848 wechselte das dortige politische Systems fast fortwährend. Ziel der Französischen Revolution von 1789 war es gewesen, die Ideale der Aufklärung durchzuset­zen und die Monarchie und Willkürherrschaft abzuschaf­fen. Es gelang ihr aber nicht, ein neues, politisch stabiles System aufzubauen. Die Erste Republik versank in der Ter­rorherrschaft von Maximilien Robespierre.

1799 gelangte Napoleon Bonaparte an die Macht. Er errichtete ab 1804 sein Kaiserreich. Nach seiner Abdankung 1814 kehrte Ludwig XVIII. aus dem Exil zurück auf den Thron. In der folgenden Restau­ra­tionszeit sollten die Uhren auf die Zeit vor der Revolution zurückgestellt werden. Als Ludwig 1824 starb, ließ sich sein Bruder zum König Karl X. krönen. Er betrieb die Restau­ra­tion noch vehementer: Die Emigranten, die vor der Revolution geflohen waren, stattete er mit besonderen Privilegien aus, er schränkte das Wahlrecht ein und hob die Presse­frei­heit auf. Als Reaktion fegte 1830 die so genannte Julirev­o­lu­tion durch Paris, an deren Ende Karl X. den Thron räumen musste. 1848 kam es erneut zur Revolution und zur Absetzung des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. Frankreich bekam seine Zweite Republik. Bei so viel Hin und Her lautete einer der dringlich­sten Fragen für die französische Gesellschaft, wie man den Übergang von einer Ordnung zu einer anderen gestalten konnte.

Entstehung

Einen großen Einfluss auf Comtes Philosophie übte der Frühsozialist Henri de Saint-Simon aus, dem er zeitweise als Sekretär diente. Comte nutzte viele von Saint-Si­mons sozia­lu­topis­chen Gedanken und versuchte sie mit der Klarheit der von ihm fa­vorisierten math­e­ma­tis­chen Methode zu verbinden. Nach dem Zerwürfnis mit Saint-Simon stand Comte ab 1824 aber allein da: ohne Professur, ohne Schüler und ohne festes Einkommen. Alles, was er hatte, waren seine pos­i­tivis­tis­chen Ideen, die er sys­tem­a­tisch erforschen und publizieren wollte. Er begann mit einer privaten Vor­lesungsreihe über den Pos­i­tivis­mus. Der Hörsaal war sein Wohnzimmer; seine Zuhörer waren z. T. berühmte Wis­senschaftler. Schon nach kurzer Zeit zwangen ihn jedoch ein Ner­ven­lei­den und schwere De­pres­sio­nen zum Aufenthalt in der Psychiatrie. Nach zehn Monaten in der Anstalt machte er einen Selb­st­mord­ver­such. Später gelang es ihm, seine Vorlesungen wieder aufzunehmen. Er lebte von Zuwendungen von Freunden und privaten Gönnern. Die Vorlesungen erschienen als Cours de philosophie positive zwischen 1830 und 1842 in Buchform. Die Rede über den Geist des Pos­i­tivis­mus bildet ein Konzentrat der wichtigsten Ergebnisse des Cours.

Wirkungs­geschichte

Die in Comtes Rede for­mulierten Ideen einer allgemeinen Volks­bil­dung auf Grundlage des Pos­i­tivis­mus wurden vom französischen Erziehungsmin­is­ter Jules Ferry im Rahmen einer Schulreform teilweise umgesetzt. Allgemeine Schulpflicht und der Wegfall des Schulgeldes waren Teil der Reform, genauso wie die Hinwendung zum Laizismus, also dem re­li­gions­freien Schu­lun­ter­richt, der wiederum auf der Trennung von Staat und Kirche fußte. Karl Marx sprach 1866 in einem Brief an Friedrich Engels vom „Scheißpos­i­tivis­mus“ und bedauerte, dass auch er nun Comte lesen müsse, weil „Engländer und Franzosen so viel Lärm um den Kerl“ machten. Comte selbst hatte von diesen En­twick­lun­gen nichts mehr: Die akademische Anerkennung blieb ihm zeitlebens versagt.

Der Pos­i­tivis­mus bee­in­flusste gleichwohl viele Soziologen und Philosophen. Spielarten sind der Em­piriokri­tizis­mus und der ein­flussre­iche Neopos­i­tivis­mus bzw. logische Empirismus des 20. Jahrhun­derts, der vor allem durch den so genannten Wiener Kreis bekannt wurde. Heute haben die Weit­er­en­twick­lun­gen des Pos­i­tivis­mus die ursprünglichen Theorien ihres Gründers überlagert.

Soziologen schätzen Comte als Begründer ihrer Disziplin. Die von ihm angestrebte Stellung der Soziologie als Königs­diszi­plin unter den Wis­senschaften wurde jedoch nie ver­wirk­licht. Außerdem hat der Begriff „Pos­i­tivis­mus“ im heutigen Sprachge­brauch wenig mit der ursprünglichen Bedeutung gemein und wird bisweilen negativ verwendet, z. B. als Bezeichnung un­kri­tis­cher Wis­senschafts- und Tatsachengläubigkeit. Immerhin: Die Gründer der Republik von Brasilien waren noch 1890 so überzeugte Comtianer, dass sie das von ihm geprägte Wortpaar „Ordnung und Fortschritt“ als Spruchband mit der Aufschrift „Ordem & Progresso“ in die Flagge Brasiliens in­te­gri­erten.

Über den Autor

Auguste Comte wird am 19. Januar 1798 in Montpellier geboren. Sein Elternhaus ist von katholis­cher und kleinbürgerlicher Strenge geprägt. Der junge Comte soll eine Laufbahn im Ver­wal­tungs­di­enst einschlagen. Zunächst stehen die Zeichen dafür nicht schlecht: 1814 schließt er das Gymnasium in Montpellier erfolgreich ab und darf die Pariser Eliteschule École Poly­tech­nique besuchen. Ihre natur­wis­senschaftliche Ausrichtung imponiert Comte – hier findet er den Ini­tial­funken für seine späteren Werke. 1816 wird die Schule jedoch wegen einer Stu­den­ten­re­volte geschlossen. Comte wird zum Au­to­di­dak­ten und arbeitet als Pri­vatlehrer für Mathematik. Sein Ziel, einen or­dentlichen Lehrstuhl an einer Universität zu erhalten, wird er sein ganzes Leben lang nicht erreichen. 1817 lernt er den Politiker und Schrift­steller Henri de Saint-Simon kennen, dessen Sekretär er wird. Es entwickelt sich eine Fre­und­schaft, die in gemeinsamen Arbeiten gipfelt. Comte konkretisiert seine Idee des Pos­i­tivis­mus und veröffentlich 1822 einige Ansätze im Rahmen eines Werks von Saint-Simon. Die Fre­und­schaft zwischen Comte und Saint-Simon weicht aber einer immer größeren Rivalität. 1824 kommt es zum Bruch. Comte nimmt seine Lebensweise als Schrift­steller und Pri­vat­gelehrter wieder auf. Er gibt private Vorlesungen über den Pos­i­tivis­mus und veröffentlicht die Manuskripte bis 1842 unter dem Titel Cours de philosophie positive. Comte arbeitet einige Jahre als Repetitor für Analyse und Mechanik an der École Poly­tech­nique und als Math­e­matik­lehrer an einer Pri­vatschule. Nach einer unglücklichen Ehe und der uner­widerten Liebe zur Clotilde de Vaux, die zwei Jahre nach der ersten Begegnung stirbt, entwickelt Comte die Idee einer „Religion der Menschheit“ und gründet kurz nach der Revolution von 1848 die Pos­i­tivis­tis­che Gesellschaft, in deren Rahmen er weitere Vorlesungen hält. Am 5. September 1857 stirbt er in Paris an Magenkrebs.