Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand

Buch Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand

London, 1748
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Praktische Erfahrung statt meta­ph­ysis­cher Spekulation

Mit seinem Traktat über die menschliche Natur hatte David Hume keinen Erfolg, also versuchte er es knapp zehn Jahre später noch einmal. Seine straffere, lesbarere Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand, die 1748 erschien, verhalf dem schot­tis­chen Philosophen zwar auch nicht zu der erhofften akademis­chen Karriere; es erwies sich aber als beste Werbung, dass sie kontrovers diskutiert und wegen ihres angeblichen Atheismus von Kirchen­vertretern scharf angegriffen wurde. Bis heute zählt die Schrift, die Kant nach eigener Aussage aus dem „dog­ma­tis­chen Schlummer“ weckte, zu den wichtigsten und ein­flussre­ich­sten Texten der Philoso­phiegeschichte. Als Empirist, der nur auf die eigenen Sinne und Erfahrungen vertraut, leuchtet Hume die menschliche Erkenntnisfähigkeit und ihre Grenzen aus. Statt meta­ph­ysis­che Speku­la­tio­nen anzustellen, sollten wir uns auf die Erforschung der alltäglichen Dinge beschränken, fordert er. Bei aller an­a­lytis­chen Schärfe erinnert das elegant geschriebene Werk daran, dass Philosophie zuallererst für den Menschen da sein sollte.

Take-aways

  • Die Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand ist das Hauptwerk des schot­tis­chen Philosophen David Hume.
  • Inhalt: Dass die Sonne morgen aufgehen wird, glauben wir nur, weil es immer so gewesen ist – sicher wissen oder verstandesmäßig begründen können wir es nicht. Allein die Erfahrung führt den Menschen dazu, bestimmte Dinge als Tatsachen anzunehmen und kausale Schlüsse zu ziehen. Durch das Leben führt ihn weniger sein Verstand als sein Instinkt.
  • Wie schon John Locke wandte David Hume die ex­per­i­mentellen Methoden der Natur­wis­senschaft auf die An­thro­polo­gie an.
  • Er sah im Skep­tizis­mus eine angemessene philosophis­che Denkrich­tung, die allerdings für das Leben keinerlei Nutzen habe.
  • Bei aller gedanklichen Schärfe und Ab­strak­theit schreibt Hume sehr pragmatisch.
  • Er fordert die Menschen auf, die alltäglichen Dinge zu erforschen, statt sich in meta­ph­ysis­chen Speku­la­tio­nen zu verlieren.
  • Zeitgenössische Kritiker warfen dem Werk Atheismus und Un­ter­grabung der Moral vor.
  • Humes Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand trug wesentlich zur Begründung der modernen Erken­nt­nis­the­o­rie bei.
  • Das Werk weckte Immanuel Kant aus seinem „dog­ma­tis­chen Schlummer“ und regte ihn zu eigenen Un­ter­suchun­gen an.
  • Zitat: „Sei ein Philosoph; aber inmitten all deiner Philosophie bleibe Mensch!“
 

Zusammenfassung

Zwei Arten von Philosophie

Von der leichten, praktischen Philosophie, die bloß banale Lebensweisheiten in schöne Worte fasst, ist die abstrakte, reine Philosophie zu un­ter­schei­den, die allgemein als schwer und unzugänglich gilt. Ein guter Philosoph muss die Vorzüge beider Denkarten miteinander verbinden, um die allgemeine Un­wis­senheit zu bekämpfen, den Aberglauben aus den Köpfen zu vertreiben und Platz für die Vernunft zu schaffen. Seine Gedanken müssen klar und nachvol­lziehbar sein, ohne dass sie an Wahrheit und Tiefe einbüßen.

Eindrücke und Vorstel­lun­gen

Auch bei den Auf­fas­sun­gen des men­schlichen Geistes lassen sich zwei Arten un­ter­schei­den: zum einen die lebhaften Eindrücke, die entstehen, wenn wir etwas sehen oder hören, fühlen oder wünschen, lieben oder hassen; zum anderen die Vorstel­lun­gen dieser Eindrücke, die nur ein schwaches Abbild der Sinneswahrnehmungen liefern und wesentlich aus diesen hervorgehen. Ein Blinder kann sich keine Farben und ein Sanftmütiger keine Rachegefühle vorstellen, und jemand, der noch nie Wein getrunken hat, macht sich keinen Begriff von dessen Geschmack. Alle unsere Vorstel­lun­gen sind durch Ähnlichkeit, Berührung oder das Prinzip von Ursache und Wirkung verknüpft, woraus in unseren Gedanken lange As­sozi­a­tions­ket­ten entstehen, die überhaupt erst geordnete Überlegungen oder Gespräche ermöglichen. Auch Träume und Fantasien, die zunächst absurd erscheinen, lassen sich auf diese Weise immer logisch erklären.

Das Prinzip von Ursache und Wirkung

Die Entdeckung von Tatsachen wie etwa jener, dass Magnete sich anziehen oder Feuer Licht und Wärme erzeugt, beruhen nicht auf einer abstrakten Ver­standesleis­tung, sondern stets auf Erfahrung. Wir neigen dazu, Naturge­setze und andere Dinge des täglichen Lebens, die uns vertraut sind, als selbstverständlich zu betrachten. Dabei vergessen wir leicht, dass wir das zugrunde liegende Prinzip von Ursache und Wirkung allein durch Erfahrung kennen. Dass ein Stein, den man hochhält und loslässt, fallen wird, wissen wir nicht a priori, d. h. rein verstandesmäßig, sondern nur, weil wir es immer wieder beobachtet haben. Aus den Erfahrungen der Ver­gan­gen­heit schließen wir, dass die Dinge in Zukunft genauso sein werden, etwa dass auch morgen die Sonne aufgehen wird. Die Gewohnheit, als eine Art Instinkt, die unser gesamtes Verhalten regelt und men­schliches Zusam­men­leben überhaupt erst möglich macht, lehrt uns das Prinzip von Ursache und Wirkung – verstandesmäßig begründen aber können wir es nicht. Auch wenn wir die Ursachen noch so weit zurückverfolgen und eine Tatsache auf die andere zurückführen: Die Ursache, die allen Ursachen zugrunde liegt, ist im Dunkeln. Die letzten Dinge bleiben der men­schlichen Vernunft für immer ver­schlossen.

Glaube ersetzt Wissen

Der Glaube ist eine Vorstellung, ein Produkt der Ein­bil­dungskraft. Er un­ter­schei­det sich von der reinen Erdichtung – mag sie auch noch so glaubwürdig erscheinen – dadurch, dass er intensiver und beständiger ist als diese und unsere Handlungen stärker beeinflusst. Der Anblick von Bildern und sinnlichen Gegenständen belebt die Ein­bil­dungskraft, was etwa die katholische Kirche nutzt, wenn sie Symbole, Reliquien und Rituale einsetzt, um ihre Anhänger in ihrem Aberglauben zu bestärken. Allerdings muss man vorher schon an etwas glauben, damit dieser verstärkende Effekt von Vorstel­lungs­bildern seine Wirkung entfalten kann.

„Sei ein Philosoph; aber inmitten all deiner Philosophie bleibe Mensch!“ (S. 7)

All unsere Vorstel­lun­gen sind bloß Abbilder von wirklichen Eindrücken. Man kann also nicht ein Ding denken, von dem man zuvor keinen Sin­ne­sein­druck hatte. Die Kraft oder Wirkung, die ein Gegenstand entfaltet, bleibt den Sinnen allerdings verborgen. So verrät nichts am äußeren Er­schei­n­ungs­bild einer Bil­lard­kugel, dass sie, einmal angestoßen, eine zweite Kugel in Bewegung setzen kann. Auch die Wil­len­skraft, mit der wir einen Muskel unseres Körpers bewegen, ist uns un­be­grei­flich. Wir können beobachten, dass bestimmte Ereignisse anderen Ereignissen regelmäßig folgen, und dadurch in unserem Denken eine Verknüpfung zwischen beiden herstellen. Diese nennen wir Ursache und Wirkung. Erklären aber können wir sie nicht. Manche Philosophen führen daher alle Dinge unmittelbar auf Gottes Willen zurück, ohne zu merken, dass sie seine Schöpfer­leis­tung damit mindern. Denn ein wahrhaft allmächtiger Gott müsste nicht dauernd in das Räderwerk des von ihm geschaf­fe­nen Getriebes eingreifen, sondern hätte in weiser Voraussicht die Geschöpfe mit eigener Kraft aus­ges­tat­tet. Auf welche Weise sollte diese göttliche Wil­len­skraft auch wirken? Wir können uns davon keine Vorstellung machen, ebenso wenig wie von der Kraft oder Energie, durch die Körper aufeinander wirken.

Freiheit oder Notwendigkeit?

So wie in der Natur Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit herrschen, so sind die Triebfedern des men­schlichen Handelns über Zeit und Raum hinweg die gleichen. Bei aller Ver­schieden­heit der Charaktere lassen sich daher aus der Erfahrung im Umgang mit Menschen Regeln und Voraussagen zu ihrem künftigen Verhalten ableiten. Der alte philosophis­che Streit um Freiheit oder Notwendigkeit des men­schlichen Handelns beruht allein auf einer unscharfen Be­griffs­de­f­i­n­i­tion. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass bestimmte Beweggründe und Umstände, Charak­tereigen­schaften und Neigungen stets zu bestimmten Wil­len­shand­lun­gen führen. Erst diese Gleichförmigkeit von Ursache und Wirkung – nennen wir sie ruhig Notwendigkeit – macht men­schliches Verhalten überhaupt berechenbar. Das Leben in der Gemein­schaft, unsere Politik, Moral und Gesetze beruhen auf diesem Prinzip.

„Genauigkeit kommt immer der Schönheit zugute, und richtiges Denken dem zarten Gefühl.“ (S. 8)

Lohn und Strafe, Schuld und Rache wären unsinnig, wenn man nicht davon ausginge, dass eine Person aufgrund ihres Charakters so oder so handelt und für ihre Handlungen auch ve­r­ant­wortlich ist. Wer einwendet, jede menschliche Handlung lasse sich letztlich auf den Schöpfer der Welt zurückführen, gibt Gott die Schuld für die Verbrechen der Menschen und leugnet die göttliche Vol­lkom­men­heit. Die Annahme der Stoiker wiederum, alles in­di­vidu­elle Leid habe in Bezug auf das Ganze sein Gutes, ist reine Spekulation und bietet demjenigen, der gerade unter Schmerzen leidet, kaum Trost. Auch die Auffassung, wonach Handlungen, die jemandem schaden, mit Blick auf das Ganze doch nützlich sein können, wider­spricht dem natürlichen Empfinden der Menschen. Wem eine beträchtliche Summe Geld geraubt wurde, wird sich mit solchen abgehobenen philosophis­chen Erklärungen nicht zufriedengeben. Laster und Tugend sollten ehrlich und ohne philosophis­che Spitzfind­igkeiten als solche bezeichnet werden. Die große Frage, wie sich göttliche Vorsehung und menschliche Wil­lens­frei­heit vereinbaren lassen, wird die Philosophie nie auf be­friedi­gende Weise beantworten können.

Die Macht des Instinkts

Tiere beobachten ihre Umwelt und sammeln Erfahrungen. So wie Kinder und die aller­meis­ten anderen Menschen – in ihrem alltäglichen Leben übrigens auch die Philosophen – ziehen sie aus ihren Beobach­tun­gen keine kom­plizierten Ver­nun­ftschlüsse. Es ist die Gewohnheit, die einen Hund lehrt, dass ihm eine zum Schlag erhobene Peitsche Schmerzen bereiten wird, und die sein Verhalten entsprechend lenkt. Bei Tieren kommt zusätzlich der Instinkt ins Spiel, den wir bewundern und bestaunen. Doch auch das menschliche Verhalten wird von einer Art Instinkt, von einer mech­a­nis­chen Kraft in unserem Innern gesteuert, die uns aus Erfahrung lernen lässt und für die wir letztlich keine Erklärung haben.

Wunder gibt es nicht

Die Lehre von der leib­hafti­gen Anwesenheit Jesu Christi beim Abendmahl steht in Widerspruch zu allen Regeln der Wahrschein­lichkeit. Es handelt sich dabei um ein Wunder, also eine Verletzung der Naturge­setze, die ihrerseits auf der Beobachtung immer wiederkehren­der, gleichförmiger Erfahrungen beruhen. Wenn ein anscheinend gesunder Mensch plötzlich stirbt, ist das zwar ungewöhnlich, aber noch lange kein Wunder, denn Ähnliches wurde vereinzelt schon beobachtet. Wenn allerdings ein Toter plötzlich wieder lebendig sein sollte, dann wäre das ein Wunder, weil es für so etwas niemals und nirgends auf der Welt glaubwürdige Zeugen gab. Derartiges hat es in der Natur noch nie gegeben, und das allein schon ist der schlagende Beweis dafür, dass es dieses Wunder nicht gibt – zumindest so lange, bis jemand mit vol­lkommener Sicherheit das Gegenteil beweisen kann.

„Die Finsternis ist tatsächlich für den Geist so peinlich wie für das Auge; Licht aus der Finsternis gewinnen, sei diese Arbeit auch noch so schwer, kann deshalb nur angenehm und erfreulich sein.“ (S. 9)

Gerade weil Wunder allen Erfahrungen wider­sprechen, sind die Menschen bereit, an sie zu glauben. Die Berichte darüber stillen ihre natürliche Neugier und Sen­sa­tion­slust. Mehr noch als Reise- und Aben­teuer­berichte versetzen religiöse Wundermärchen die Leute auf angenehme Weise in Erstaunen und regen ihre Fantasie an. Sie verbreiten sich wie Klatsch und Tratsch; für die Vernunft bleibt da wenig Platz. Allein schon die Tatsache, dass solche übernatürlichen Vorfälle vor allem von bar­barischen, unwissenden Völkern überliefert werden, spricht gegen ihre Existenz. Je mehr wir uns in der Geschichte der aufgeklärten Gegenwart nähern, desto seltener werden denn auch die Zeugnisse von Wun­der­heilun­gen, Orakeln und Gottes­gerichten. Wie alle betrügerischen Berichte von angeblich er­staunlichen Vorfällen, die irgendwann durchschaut werden, sind auch die Geschichten über religiöse Wunder nichts als Lügen – nur dass sie auf frucht­bar­eren Boden gefallen sind.

Die Lügen der Religion

Alle Volk­sre­li­gio­nen sind nichts als Betrug. Solange sie sich noch in ihrem An­fangssta­dium befinden, kümmert das die Gelehrten nicht, und irgendwann ist es mangels Beweisen und Zeugen zu spät, die Lügen aufzudecken. Keine noch so seriös er­scheinende Quelle darf uns darüber hinwegtäuschen, dass Wunder ein lächerlicher Betrug sind und nicht als Grundlage eines Re­li­gion­ssys­tems taugen. Auch wenn noch so viele Menschen glaubwürdig die Aufer­ste­hung eines Toten bezeugen, kann er nicht wirklich tot gewesen sein, denn das widerspräche den Naturge­set­zen. Eine Religion, die auf solchem Betrug gegründet ist, verdient unsere Beachtung nicht, ganz gleich welche Pracht sie entfaltet. Religion ist eine Sache des Glaubens, und alle Versuche, sie mit vernünftigen Argumenten zu verteidigen, schaden ihr mehr, als dass sie ihr nutzen. Die in der Bibel erzählten Geschichten sind Märchen, denen mit Vernunft nicht beizukommen ist. Wer dennoch daran glaubt, tut dies wider alle Prinzipien seines Verstandes.

„Kurz, aller Stoff des Denkens ist entweder von unserem äußeren oder inneren Gefühl abgeleitet.“ (S. 19)

Jede Aussage über Eigen­schaften des göttlichen Schöpfers, in dem wir den Urheber alles Daseins erkennen, ist rein hy­po­thetisch. Wir wissen nichts über Gott, sondern kennen nur die Wirkungen, die wir in den Na­tur­erschei­n­un­gen beobachten können. Für die große Güte und Weisheit, die unsere Religion dem Schöpfer zuschreibt, gibt es weder in der Natur noch in der Vernunft eine Grundlage. Wenn es um men­schliches Handeln geht, können wir aus der Erfahrung sehr wohl von Wirkungen auf Ursachen und Absichten schließen; über eine göttliche Absicht lassen sich jedoch nur Vermutungen anstellen. Doch die Gläubigen übertragen menschliche Prinzipien und Attribute wie etwa Vol­lkom­men­heit auf ein höheres Wesen, das uns fremd ist und mit uns ebenso wenig zu vergleichen ist wie die Sonne mit einer Kerze. Auch können wir das Böse in der Welt, die Un­vol­lkom­men­heit und das Unglück der Menschen nicht be­friedi­gend erklären, wenn wir von göttlicher Vol­lkom­men­heit ausgehen.

Leben und Denken im Hier und Jetzt

Statt über Fragen nach dem Ursprung der Welten zu spekulieren, die wir ohnehin nicht beantworten können, sollten wir uns lieber den praktischen Dingen des men­schlichen Zusam­men­lebens und der Politik zuwenden. Eine gewisse Skepsis gegenüber Vorurteilen und Meinungen, auch den eigenen, bildet die Vo­raus­set­zung jeder Philosophie. Aus klaren Prinzipien Schlüsse zu ziehen und diese immer wieder zu überprüfen, ist der einzige Weg, der zur Wahrheit führt, wenn er auch beschw­er­lich sein mag. Vom rein philosophis­chen Standpunkt aus betrachtet ist es also richtig, die Zuverlässigkeit der Sin­neser­fahrun­gen und damit die Existenz einer Außenwelt in Zweifel zu ziehen. Allein unser mächtiger Instinkt lässt uns annehmen, dass es eine verlässliche Außenwelt gibt, die nicht von unserer Wahrnehmung abhängt – sonst könnten wir gar nicht leben. Der Skep­tizis­mus mag in Gelehrtenkreisen angebracht sein, er wider­spricht jedoch unseren alltäglichen Erfahrungen und hat keinerlei gesellschaftlichen Nutzen. Grundsätzlich sollte sich die Forschung mit vertrauten Dingen des täglichen Lebens beschäftigen, die auf Erfahrung beruhen. Sie eignen sich für unseren begrenzten Men­schen­ver­stand besser als hochfliegende meta­ph­ysis­che Un­ter­suchun­gen über Raum, Zeit und Ewigkeit.

Zum Text

Aufbau und Stil// David Humes Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand //ist in zwölf längere Abschnitte unterteilt, die teilweise als eigenständige Essays gelesen werden können. Der erste und der letzte Abschnitt bilden eine Art Rahmentext, in dem Hume sich grundsätzlich über ver­schiedene Arten der Philosophie und deren Möglichkeiten äußert. Während er in der ersten Hälfte des Buches seine Theorie über empirisches Wissen entwirft, stehen in der zweiten Fragen der Metaphysik und Re­li­gion­sphiloso­phie im Vordergrund. Egal ob Hume über den Ursprung men­schlicher Erkenntnis, über Wil­lens­frei­heit oder Wunder nachdenkt, stets ist der aufklärerische Impuls spürbar. Und bei aller Ab­strak­theit und Systematik des komplexen Gedankengebäudes spricht aus jeder Zeile der Wunsch, verstanden zu werden und nicht nur für einen geschlosse­nen Gelehrten­zirkel zu philoso­phieren. Immer wieder zieht Hume Beispiele aus dem alltäglichen Leben, aus Farbenlehre und Dichtung, Medizin und Physik heran, um seine Theorie zu untermauern. Selbst in seinen heftigsten Attacken bewahrt er – ganz Gentleman – eine freundliche, ironische Distanz und gibt offen zu, wenn er an die Grenzen seiner Erkenntnis stößt.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Wie schon der von ihm bewunderte John Locke vertritt David Hume die Auffassung, es gebe keine apriorische, rein verstandesmäßige Erkenntnis von Tatsachen, vielmehr beruhe alles Wissen auf Erfahrung. Hume wie Locke richten sich gegen die Theorie angeborener Ideen, die von Ra­tio­nal­is­ten wie Descartes oder Leibniz vertreten wurde.
  • Hume entwickelt Lockes Empirismus weiter, indem er den Glauben an die Kausalität als reine Illusion entlarvt. Das Prinzip von Ursache und Wirkung wohne nicht den Dingen selbst inne, sondern beruhe auf einer subjektiven Verknüpfung, die der menschliche Geist aufgrund gle­ich­bleiben­der Erfahrungen herstelle.
  • Von George Berkeley, der einen extremen subjektiven Idealismus vertrat, übernimmt Hume den Gedanken, eine materielle Außenwelt existiere nicht. Anders als für Berkeley, der im gottgegebe­nen men­schlichen Geist das ordnende Prinzip erkannte, ist für Hume auch die Vorstellung persönlicher Identität eine Illusion: Was wir als Bewusstsein oder Ich begreifen, ist demnach nicht mehr als eine Ansammlung wechselnder Sinneseindrücke.
  • Immer wieder greift Hume auf historische Beispiele zurück – überzeugt davon, dass sich aus der Geschichte allgemeine Prinzipien der men­schlichen Natur ableiten lassen.
  • In einem als fiktionalen Dialog gestalteten Kapitel lässt Hume den antiken Denker Epikur die Philosophie gegen Vorwürfe religiöser Eiferer verteidigen. Mit diesem Plädoyer für die Freiheit des Denkens tritt Hume indirekt seinen Kritikern entgegen, die seinem rund zehn Jahre zuvor er­schiene­nen Traktat über die menschliche Natur Atheismus und Un­ter­grabung der Moral vorgeworfen hatten.
  • Hume, selbst ein sehr geselliger Mensch, vertritt in seiner Schrift ein lebensnahes, prag­ma­tis­ches Men­schen­bild. Der Mensch ist für ihn ein in­stink­t­geleit­etes Wesen, das beständig sein irdisches Glück und die Be­friedi­gung seiner Wünsche als Zweck verfolgt.

His­torischer Hintergrund

Die schottische Aufklärung

Noch im 17. Jahrhundert zählte Schottland zu den ärmsten und rückständigsten Regionen Westeuropas. Allerdings blickte das Land auf eine lange und reiche Bil­dungstra­di­tion zurück. Der Pres­by­te­ri­an­is­mus, eine schottische Variante des Protes­tantismus, legte großen Wert auf die in­di­vidu­elle Bibellektüre und sorgte mit seinen Schulen und Büchereien für eine ver­gle­ich­sweise hohe lit­er­arische Bildung der Bevölkerung – Anal­pha­beten waren seltener als anderswo. Durch die politische Union mit England im Jahr 1707 erlangte Schottland freien Zugang zu den Märkten des britischen Kolo­nial­re­ichs und erlebte einen ökonomischen Aufschwung. Unter diesen wirtschaftlich günstigen Bedingungen en­twick­el­ten sich das Land und vor allem die Hauptstadt Edinburgh in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun­derts zu einem der aufre­gend­sten geistigen Zentren Europas. In den Klubs und verrauchten Hin­terz­im­mern der zahlreichen Edinburgher Kneipen kamen regelmäßig Natur­wis­senschaftler, Anwälte, Agronomen, Philosophen und Künstler zusammen, um beim gemeinsamen Essen und Trinken den freien Gedanke­naus­tausch zu pflegen. Anders als die französische Aufklärung, die von einigen wenigen führenden Köpfen wie Denis Diderot und Jean-Bap­tiste le Rond d’Alembert beherrscht wurde, handelte es sich hierbei nicht um einen exklusiven Zirkel mit einer ein­heitlichen Idee, sondern um einen eher lockeren Verbund von In­tellek­tuellen, die durchaus ver­schiedene Ansichten vertraten und diese lebhaft disku­tierten.

Zu den wichtigsten Vertretern der schot­tis­chen Aufklärung zählten neben ihrem Begründer, dem Glasgower Philoso­phiepro­fes­sor Francis Hutcheson, und David Hume so un­ter­schiedliche Figuren wie Adam Smith, James Boswell und James Watt. Bei allen Differenzen teilten sie die Überzeugung, dass es möglich sei, durch Beobachtung die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erfassen und daraus die Prinzipien men­schlichen Verhaltens und gesellschaftlichen Zusam­men­lebens abzuleiten. Von Francis Bacon und dem Physiker Isaac Newton übernahmen die schot­tis­chen Aufklärer die ex­per­i­mentelle Methode und übertrugen sie auf die Moral­philoso­phie. Ihr Ziel war es, den Menschen einen Weg zum dies­seit­i­gen Glück aufzuzeigen und zur Verbesserung ihrer Lebensumstände beizutragen. Weder die Ver­sprechun­gen der Religion noch erhabene philosophis­che Grundsätze sollten das alltägliche menschliche Zusam­men­leben bestimmen, sondern konkrete Neuerungen in politischen und wirtschaftlichen In­sti­tu­tio­nen, in Schule und Wis­senschaft, Handwerk und Handel. Nach Auffassung der schot­tis­chen Aufklärer sollten die Menschen zwar ruhig ihre Religion ausüben und an Gott glauben, sich aber im alltäglichen Leben auf die eigenen Kräfte verlassen.

Entstehung

Bereits mit knapp 30 Jahren hatte David Hume den Traktat über die menschliche Natur geschrieben, der seine akademische Laufbahn begründen sollte, zu seiner Enttäuschung jedoch ein Misserfolg wurde. Die mangelnde pub­lizis­tis­che Resonanz auf das 1739 – seiner Ansicht nach überhastet – veröffentlichte Jugendwerk führte Hume nicht auf dessen Inhalt, sondern allein auf stilis­tis­che und formale Mängel zurück. Wie er in seiner Au­to­bi­ografie schreibt, machte er sich deshalb an eine Neufassung seiner Überlegungen, die 1748 unter dem Titel Philosophis­che Versuche über den men­schlichen Verstand und 1758 erneut als Eine Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand erschien. Nach Humes Aussage enthält die Un­ter­suchung dieselben philosophis­chen Prinzipien wie der dreibändige Traktat, allerdings in einer vere­in­fachten, zugänglicheren Darstellung. Tatsächlich aber nahm er auch inhaltliche Korrekturen vor. So wurde etwa das Kapitel über den Wun­der­glauben gänzlich neu verfasst.

Wirkungs­geschichte

Die Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand, der Hume selbst den Vorzug vor dem Traktat gab und die er später zur letztgültigen Darstellung seiner Philosophie erklärte, weckte endlich die öffentliche Aufmerk­samkeit, die dem Er­stlingswerk versagt geblieben war. Ab 1750 erschienen in England zahlreiche Kommentare und Kritiken zu der Schrift, die der Vatikan zusammen mit Humes übrigem Werk 1761 auf die Liste verbotener Bücher setzte. Viele schottische Philoso­phiepro­fes­soren ebenso wie Kirchen­vertreter griffen Hume scharf an.

Maßgeblichen Einfluss übte die Un­ter­suchung auf die Aufklärung in Deutschland aus. Das Werk, das erstmals 1755 in deutscher Übersetzung erschien, wurde in vielen aufklärerischen Zeitschriften besprochen und war, wie Moses Mendelssohn schrieb, in aller Hände. Immanuel Kant gestand sogar, Humes Schrift habe ihn aus dem „dog­ma­tis­chen Schlummer“ gerissen und zu weiteren Un­ter­suchun­gen angeregt. In der philosophis­chen Erken­nt­nis­the­o­rie wirkte Humes Kritik des Kausalitätsprinzips bis in die Moderne fort und bee­in­flusste den Wiener Kreis ebenso wie die von Karl Popper begründete Denkrich­tung des kritischen Ra­tio­nal­is­mus.

Über den Autor

David Hume gehört neben John Locke und George Berkeley zu den ein­flussre­ich­sten Figuren der Aufklärung in Großbritannien. Als zweiter Sohn eines kleinen schot­tis­chen Landadligen am 7. Mai 1711 geboren, besucht Hume bereits mit zwölf Jahren die Universität von Edinburgh, um Jura zu studieren. Er nimmt jedoch auch an Lehrver­anstal­tun­gen anderer Fächer teil und lernt auf diesem Weg die Schriften von Isaac Newton und John Locke kennen. Hume bricht das Studium nach drei Jahren ohne Abschluss ab. In Bristol betätigt er sich als Kaufmann und begibt sich 1735 auf eine Stu­di­en­reise nach Frankreich, um sich mit neuerer Philosophie zu beschäftigen. Dort verfasst er seinen Treatise of Human Nature (Ein Traktat über die menschliche Natur). Diese Abhandlung erregt jedoch kaum Aufmerk­samkeit. 1745 bewirbt er sich um die Professur für Moral­philoso­phie an der Universität von Edinburgh. Seine skeptische Haltung gegenüber der Religion führt jedoch dazu, dass seine Bewerbung erfolglos bleibt. 1748 erscheint sein Enquiry Concerning Human Un­der­stand­ing (Eine Un­ter­suchung über den men­schlichen Verstand), ein Werk, das Hume zu einem in ganz Europa bekannten Philosophen macht. 1752–1757 arbeitet er als Bib­lio­thekar an der Universität von Edinburgh, was er mit his­torisch-poli­tis­chen Studien verbindet. Das Ergebnis ist die History of Great Britain (Geschichte von Großbritannien), die 1754–1762 erscheint und Humes Ruf als Historiker festigt. In seinem 1757 veröffentlichten Werk The Natural History of Religion (Die Naturgeschichte der Religion) behauptet er, dass Religion vor allem auf Ignoranz, Hoffnung und Furcht basiere und ihre Ausrottung durch Aufklärung einer wahren Erlösung gleichkomme. Damit verwirkt Hume jede Aussicht auf höhere Ämter im calvin­is­tis­chen Schottland. 1763–1766 ist Hume im diplo­ma­tis­chen Dienst in Paris und macht die Bekan­ntschaft von Diderot und Rousseau. 1768 kehrt er nach Edinburgh zurück, wo er nach einer langen Krankheit am 25. August 1776 stirbt.