Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Buch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Riga, 1785
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Ein Höhepunkt der Philosophie

Die Grundlegung der Metaphysik der Sitten von 1785 sticht selbst aus dem ohnehin mon­u­men­talen Werk des deutschen Philosophen Immanuel Kant heraus: Kein schweres und dunkles Buch wie die drei berühmten Kritiken, sondern ein kurzer, eleganter Text, der mit viel Elan und Klarheit die Moral­philoso­phie für immer umgekrem­pelt hat und noch heute zu einem der meist­ge­le­se­nen und -disku­tierten Texte der Philosophie zählt. Auch die schärfsten Kritiker seiner Schriften kommen um Kant nicht herum, und selbst zeitgenössische Util­i­taris­ten wie Richard M. Hare oder Marcus G. Singer zollen ihm Tribut, indem sie seine Ethik in ihren Ansatz einarbeiten. In der Grundlegung finden sich die Herzstücke der Kantschen Moral: der kat­e­gorische Imperativ, die absolute Würde der Person und die entsch­iedene Zurückweisung aller gefühlsbegründeten Moral zugunsten eines strengen Pflicht­be­griffs. Dass sich mit Jürgen Habermas und John Rawls zwei der promi­nen­testen Positionen der zeitgenössischen Ethik ausdrücklich in die Nachfolge Kants stellen, ist kein Zufall. Die Grundlegung inspiriert wie provoziert heute noch genauso wie damals.

Take-aways

  • Die Grundlegung der Metaphysik der Sitten ist ein Höhepunkt der Philoso­phiegeschichte.
  • Inhalt: Die Grundsätze der Moral müssen im guten Willen gesucht werden, der allein als Wesen des Guten gelten kann. Der gute Wille folgt ausschließlich dem kat­e­gorischen Imperativ, wonach jeder subjektive Hand­lungs­grund zugleich allgemeines Gesetz für alle vernünftigen Wesen sein können muss.
  • Die Grundlegung ist einer der meist­ge­le­se­nen und -disku­tierten philosophis­chen Texte.
  • Sie erschien 1785 und war Kants erste Veröffentlichung zum Thema Moral.
  • Es handelt sich um einen der kürzesten, aber gelun­gen­sten Texte Kants.
  • Das Buch ging aus einer Replik auf den Kant-Kri­tiker Christian Garve und dessen Ci­cero-Rezep­tion hervor.
  • Kant fordert eine von subjektiven oder kulturellen Bedingungen bereinigte Moral.
  • Kritiker wie Hegel, Schopen­hauer oder Nietzsche bemängelten Kants Rigorismus, seine unerfüllbar hohen moralischen Ansprüche.
  • Die Diskursethik von Habermas oder die Moralthe­o­rie von Rawls verstehen sich als Fort­set­zun­gen der Kantschen Ethik.
  • Zitat: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“
 

Zusammenfassung

Die Bestimmung des Guten

Eine Metaphysik der Sitten soll die Grundsätze der Moral ermitteln und erklären. Sie geht davon aus, dass die Verbindlichkeit moralischer Gesetze weder in der men­schlichen noch in der physikalis­chen Natur, sondern allein in der Vernunft wurzelt.

Welche Eigen­schaften eines Menschen können wir ohne jede Einschränkung als gut bezeichnen? Mut, Entschlossen­heit oder Verstand können – abhängig vom Charakter – sowohl in den Dienst guter wie auch böser Handlungen gestellt werden. Dasselbe trifft auf Geschenke des Zufalls wie Reichtum, Macht oder Gesundheit zu. Selbst die viel gelobten ethischen Tugenden wie Mäßigung, Nüchternheit und Selb­st­be­herrschung können von einem bösen Willen missbraucht werden. Alles hängt also von einem zugrunde liegenden guten Willen ab. Nur der gute Wille ist absolut gut – und das an sich, also unabhängig davon, ob er sich durchsetzen und ver­wirk­lichen kann. Zufälle und unglückliche Umstände können zwar verhindern, dass der gute Wille umgesetzt wird. Doch dieses Gelingen oder Misslingen in der Praxis ändert nichts daran, dass der gute Wille selbst absolut gut ist.

„Bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen.“ (S. 6)

Nun mag diese Vorstellung als schwärmerische Fantasie erscheinen, sie muss daher überprüft werden. Würde es in der men­schlichen Existenz bloß um das Erreichen von Glückseligkeit gehen, hätte die Natur dem Menschen keine Vernunft geben müssen – für das Erreichen von Zufrieden­heit hätten Instinkte völlig ausgereicht. Da zudem die Vernunft als Wegweiser zur Bedürfnis­be­friedi­gung nicht besonders gut geeignet ist, in der Natur jedoch alles zweckmäßig arrangiert ist, muss die Vernunft einen anderen Zweck haben, nämlich einen guten Willen zu erzeugen, was nur sie vermag. Dieser an und für sich gute Wille ist gle­ichbe­deu­tend mit Pflicht.

Handeln aus Pflicht

Es ist schwer festzustellen, wann Menschen aus Pflicht handeln – und nicht bloß aus ego­is­tis­chen Motiven der Pflicht gemäß, wie etwa Geschäftsleute, die nur deshalb ehrlich zu ihren Kunden sind, um sie nicht zu vergraulen. Die moralisch gute Handlung erkennen wir am ehesten dann, wenn sie gegen die persönlichen Interessen und Neigungen des Handelnden geht. Es ist zum Beispiel Pflicht, sein Leben zu erhalten oder wohltätig zu sein. Doch wenn wir unser Leben nur erhalten wollen, solange wir ohne Schmerzen und Unglück bleiben, oder den Ärmeren nur helfen, solange wir persönliche Sympathie für sie verspüren, hat dieses pflichtgemäße Handeln keinen moralischen Gehalt.

„Es ist überall nichts in der Welt (…), was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (S. 11) 

Die gute Handlung aus Pflicht erfolgt nicht um ihrer Folgen willen, sondern aus Prinzip, aufgrund einer Maxime. Moralisches Handeln besteht nicht darin, nach persönlichen Neigungen oder erhofften Kon­se­quen­zen zu handeln, sondern darin, ein objektives Moralgesetz so zu befolgen, dass man versucht, es zur Maxime des eigenen Handelns zu machen. Man handelt moralisch und pflichtgemäß dann, wenn man wollen kann, dass die Maxime des eigenen Handelns auch für alle anderen gelten soll.

„Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird.“ (S. 18) 

Wenn wir uns etwa fragen, ob wir etwas versprechen dürfen, was wir nicht zu halten vorhaben, können wir einerseits bewerten, ob ein solches falsches Versprechen klug ist, an­der­er­seits ob es pflichtgemäß ist. Ersteres wird uns entweder zur Lüge oder zur Aufrichtigkeit drängen – je nachdem, welche Option uns vorteil­hafter scheint. Die moralische Bewertung hingegen wird eindeutig sein: Ich muss aufrichtig sein, denn würde jeder ständig lügen, gäbe es so etwas wie ein Versprechen gar nicht mehr. Doch unsere Begierde nach Glückseligkeit bildet ein starkes Gegengewicht gegen die Gebote der Pflicht. Deshalb gibt es eine „natürliche Dialektik“ in uns, die Vernunftgründe erfindet oder so verdreht, dass unsere Neigungen letztlich doch moralisch gerecht­fer­tigt erscheinen. Umso wichtiger ist es daher, mithilfe der praktischen Philosophie echte Grundsätze zu finden.

Die Metaphysik der Sitten

Da das Gute einer Handlung nicht in ihren Folgen liegt, also nicht beobachtbar ist, gab es schon immer Skeptiker, die die Existenz der Moralität infrage stellten. Tatsächlich können wir nicht einmal durch Prüfung unseres eigenen Gewissens mit Sicherheit feststellen, ob wir jemals etwas rein aus Pflicht getan haben oder doch nur aus Neigung. Das beweist aber nicht, dass es keine Moralität gibt, sondern nur, dass Pflicht ein außer aller Erfahrung liegender Gegenstand der Vernunft ist. Deshalb können wir von einer Metaphysik der Sitten sprechen und festhalten, dass Moralge­setze für alle ver­nun­ft­be­gabten Wesen gelten müssen. Selbst unsere Vorstellung von Gott ist bloß die von der Vernunft aufgestellte Idee eines vollkommen moralischen Willens. Eine Metaphysik der Sitten hat daher auch nichts mit empirischen Beispielen zu tun. Sie ist eine reine An­gele­gen­heit der Philosophie.

Der kat­e­gorische Imperativ

Alles Wirken in der Natur folgt Gesetzen. Doch nur vernünftige Wesen können sich Gesetze vorstellen und aus ihnen Handlungen ableiten. Diese Fähigkeit heißt Wille. Der Wille ist praktisch wirksame Vernunft. Als vollkommen objektiver Wille wäre er stets unmittelbar auch guter Wille. Im Menschen jedoch wird die praktische Vernunft durch Triebe und Interessen abgelenkt, weshalb ihr Verhältnis zum men­schlichen Wollen als Nötigung beschrieben werden muss. Der an sich gute Wille nötigt den nach dem Angenehmen strebenden Willen des Menschen zu moralischem Handeln. Deshalb erscheint die praktische Vernunft dem Menschen als Gebot eines Sollens, als Imperativ. Im göttlich-heili­gen Willen dagegen gibt es keinen Unterschied zwischen Sollen und Wollen.

„Der kat­e­gorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (S. 45)

Es gibt hy­po­thetis­che und kat­e­gorische Imperative. Erstere bestimmen, welche Handlung als Mittel zur Erreichung eines Zweckes gut ist. Hier geht es um Geschick­lichkeit. Hy­po­thetis­che Imperative können auch Glückseligkeit als Zweck betreffen, wo sie als prag­ma­tis­che Klugheit vorgeben, welche Mittel zur Erreichung der größtmöglichen Glückseligkeit zu wählen sind.

„In einer praktischen Philosophie ist es uns nicht darum zu tun (…), Gründe anzunehmen, von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht (…).“ (S. 52) 

Dagegen stehen kat­e­gorische, moralische Imperative. Diese gebieten eine Handlung nicht mit Blick auf einen Zweck, sondern als Folgerung aus einem Prinzip. Nur für kat­e­gorische Imperative lässt sich sagen, dass sie aus Pflicht zu befolgen sind. Imperative der Geschick­lichkeit sind leer, da sie von einem zufällig gewählten Zweck abhängen, und Imperative der Klugheit können nur zu bestimmten Handlungen raten, aber niemals garantieren, dass diese tatsächlich Glückseligkeit bewirken werden. Nur kat­e­gorische Imperative sind frei von zufälligen Vo­raus­set­zun­gen und unabhängig von glücklichen Umständen.

„Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst.“ (S. 53) 

Tatsächlich gibt es nur einen einzigen kat­e­gorischen Imperativ. Er gebietet dem Willen, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, die er auch als allgemeines Gesetz wollen kann. Da alles in der Natur nach Gesetzen funk­tion­iert, gebietet der kat­e­gorische Imperativ dem men­schlichen Willen also, einem allgemeinen moralischen Gesetz zu folgen, so, als ob es das Naturgesetz des men­schlichen Willens sei. Ob eine Maxime moralisch ist, lässt sich daran erkennen, dass sie als Naturgesetz gewollt werden kann und sich als solches nicht selbst wider­spricht. Der Wunsch etwa, ein auf Genuss aus­gerichtetes Leben zu führen, kann nicht als allgemeines Naturgesetz gewollt werden, da er die Entwicklung unserer vernünftigen Anlagen völlig vernachlässigt. Auch wider­spricht die Maxime, anderen zwar nicht zu schaden, aber auch nicht zu helfen, sich selbst, da niemand in einer Gesellschaft leben will, in der ihm niemand hilft.

Der praktische Imperativ

Warum aber muss der kat­e­gorische Imperativ für alle vernünftigen Wesen gelten? Um diese Frage zu beantworten, kann er aus dem Begriff eines vernünftigen Willens abgeleitet werden. Das ist die Aufgabe einer praktischen Philosophie, die nicht untersucht, wie wir tatsächlich handeln, sondern wie wir handeln sollten. Der Wille wurde bereits als Fähigkeit bestimmt, das Handeln nach der Vorstellung bestimmter Gesetze auszurichten. Der Wille bestimmt sich also selbst, doch welche Zwecke wählt er sich dafür? Sind es be­ab­sichtigte Wirkungen, wie im Falle des hy­po­thetis­chen Imperativs, so sprechen wir von materiellen Zwecken und bloß subjektiven Triebfedern des Willens. Ist der Zweck allerdings formal, also frei von allen subjektiven Zweck­set­zun­gen, lässt sich von einem objektiven Willen, einem allgemeinen Beweggrund sprechen. Ein solcher objektiver Zweck, ein Zweck an sich, ist der Mensch. Alle subjektiven Neigungen und Zwecke sind beliebig – das vernünftige Wesen, die Person als Zweck an sich jedoch hat einen absoluten Wert. Der praktische Imperativ gebietet uns daher, dass wir in jeder Handlung uns selbst und andere Personen niemals als reine Mittel, sondern immer auch als Zwecke selbst behandeln und damit ihre Würde achten sollen.

Die Autonomie des Willens

Indem der Wille von allen subjektiven Neigungen und Interessen abstrahiert und allgemein gültig wird, hört er auf, bloß in­di­vidu­eller Wille zu sein, und wird zum unbedingten und allgemeinen Willen eines jeden vernünftigen Wesens. Dadurch tritt unser Handeln in ein „Reich der Zwecke“, eine Gemein­schaft mit allen vernünftigen Wesen ein, die einer gemeinsamen Geset­zge­bung folgen. Wenn wir moralisch und aus Pflicht handeln, un­ter­stellen wir uns selbst einem allgemeinen Gesetz, das für alle gilt, und zu dem wir uns freiwillig entscheiden. In diesem formalen Prinzip der Autonomie des Willens allein gründet alle Moralität. Nur ein solcher Wille ist absolut gut, der ohne Selb­st­wider­spruch als allgemeines Gesetz im „Reich der Zwecke“ gelten kann, der also von jedem vernünftigen Wesen gewollt werden kann. In der Fähigkeit des vernünftigen Menschen, von seinen subjektiven Mo­ti­va­tio­nen abzusehen und in einem fiktiven „Reich der Zwecke“ sich selbst und allen anderen Ver­nun­ftwe­sen Gesetze zu geben, liegt seine Personenwürde begründet. Wird sein Wille jedoch durch materielle Zwecke und hy­po­thetis­che Imperative bestimmt, hört er auf, sich selbst zu bestimmen und wird unselbstständig.

„Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (S. 54–55)

Der autonome Wille ist immer auch ein freier Wille. Er muss sich unabhängig von fremden Ursachen selbst bestimmen können, also frei sein. Die Freiheit des Willens muss also als Eigenschaft jedes vernünftigen Wesens gedacht werden, allerdings bloß als ideelle. In der natürlichen Sinnenwelt sind wir Menschen natürlich äußeren Umständen und fremden Ursachen unterworfen, also nicht frei. Wir können uns aber vorstellen, gle­ichzeitig auch Teil einer nicht empirisch beobacht­baren Ver­standeswelt zu sein, in der wir unseren Willen rein durch Vernunft bestimmen können, wodurch unser subjektives Wollen mit dem absolut guten Willen zusam­men­fallen würde. Da wir Teil der natürlichen Kausalität sind, nimmt das Wollen des an sich guten Willens in uns die Form eines Sollens, des kat­e­gorischen Imperativs an. So weit lässt sich erklären, wie ein kat­e­gorischer Imperativ möglich ist. Die Frage dagegen, wie reine Vernunft aus sich selbst heraus praktisch werden und einen Willen bestimmen kann, kann innerhalb unserer Ver­standes­gren­zen nicht geklärt werden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Grundlegung der Metaphysik der Sitten gilt als ein Höhepunkt der Kantschen Prosa. Mit lit­er­arischer Verve und messer­schar­fer Ar­gu­men­ta­tion führt Kant auf etwas über 100 Seiten durch die Grundsätze seiner Moral­philoso­phie und ihren be­grif­flichen Zusam­men­hang. Auf eine kurze Vorrede, in der er das Projekt einer Metaphysik der Sitten im Gesamtgebäude der Philosophie verortet und ihre Methoden und Fragestel­lun­gen benennt, folgen drei Abschnitte. Die Titel dieser Abschnitte kündigen jeweils einen Übergang an. Der erste ist mit „Übergang von der gemeinen sittlichen Ver­nun­fterken­nt­nis zur philosophis­chen“ überschrieben. Hier definiert Kant das Wesen des Guten als guten Willen und arbeitet die Umrisse einer genuin philosophis­chen Moralthe­o­rie heraus. Darauf folgt der „Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten.“ Dieser Abschnitt ist das Herzstück des Textes. Hier finden sich Kants berühmte Ausführungen zum kat­e­gorischen Imperativ, zur Würde der Person und zur Autonomie des Willens. Schließlich unternimmt der dritte Übergang als „Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft“ eine Erklärung des freien Willens und bereitet das Nach­fol­ge­pro­jekt der Grundlegung vor, die Kritik der praktischen Vernunft, die 1788 erschien. Die letzten Passagen der Grundlegung weben den Text geschickt in das umfassende erken­nt­nis­the­o­retis­che Gebäude ein, das Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft 1781 vorgestellt hatte.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Kants Moral­philoso­phie setzt viel Vertrauen in die Gründungskraft der Vernunft. Moral soll darin durch die Vernunft völlig unabhängig von subjektiven Weltbildern und Gefühlen, von kulturellen oder zei­this­torischen Umständen motiviert und begründet werden können.
  • Die Grundlegung gilt als Kernstück der kritischen Philosophie Kants. Die erken­nt­nis­the­o­retis­chen Un­ter­schei­dun­gen zwischen Ding-an-sich und Erscheinung oder zwischen sinnlicher und in­tel­li­gi­bler Welt, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft eingeführt hat, erlangen hier lebensweltliche Bedeutung.
  • Die Moral­philoso­phie Kants steht in der philosophis­chen Tradition Ciceros. Diese zeichnet sich durch einen rationalen Zugang zur Ethik aus, der sich gegen affektive Impulse und Gefühlsurteile richtet. Zentrale Bedeutung hat der Begriff der Pflicht.
  • Zeitkri­tisch ist Kant in seiner expliziten Zurückweisung der Ehre als eines ethischen Konzepts. Der Begriff der Ehre war in der damaligen preußischen Gesellschaft enorm wirkmächtig und bestimmte das soziale Leben, doch für Kant können Rang und Status niemals moralische Vernunftgründe ersetzen.
  • Kants Ethik ist nicht die erste, die den Wil­lens­be­griff benutzt. Doch im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Christian Wolff oder Christian Garve spricht Kant explizit von einem reinen Willen, also einem ausschließlich durch die Vernunft bestimmten und von persönlichen Interessen freien Willen.
  • Die Grundlegung gilt als der Text, in dem Kants Persönlichkeit am deut­lich­sten zum Vorschein kommt. Un­verkennbar treten seine berühmte preußische Korrektheit, aber auch sein hu­man­is­tis­ches Men­schen­bild und sein aufklärerischer Optimismus zutage.

His­torischer Hintergrund

Das kurze Jahrhundert der deutschen Aufklärung

Das junge, erst 1701 gebildete Königreich Preußen erlebte ab 1740 unter Friedrich II. – als „Friedrich der Große“ zur welth­is­torischen Legende aufgestiegen – eine kulturelle und militärische Blüte. Unter Friedrichs Re­gentschaft stieg Preußen im Siebenjährigen Krieg zwischen 1756 und 1763 zur europäischen Großmacht auf. Sozialpoli­tisch war Friedrich ein Reformer, der die Folter abschaffte, Toleranz in Glaubens­fra­gen übte und sich selbst als ersten Diener des Staates bezeichnete. Der Ab­so­lutismus verschmolz in ihm mit dem neuen Geist der Aufklärung, dessen Treibhäuser die in­tellek­tuellen Salons von Paris und Berlin waren und die sich hauptsächlich gegen religiösen Dogmatismus und wis­senschafts­feindlichen Aberglauben richtete. Die in­tellek­tuelle Debatte blühte in dieser liberalen Atmosphäre auf und wurde im Gegensatz zu früher großteils in der Öffentlichkeit geführt. Am 17. August 1786 starb Friedrich der Große nach fast 50-jähriger Herrschaft. Mit seinem Tod endete das Jahrhundert der deutschen Aufklärung – unter seinem Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., kehrte die strenge Zensur nach Preußen zurück, ins­beson­dere in religiösen Belangen. Immanuel Kant kam damit mehrmals in Konflikt und wurde schließlich mit einem Veröffentlichungsver­bot zu religiösen Themen belegt.

Entstehung

Nach der Kritik der reinen Vernunft von 1781, der ersten von Kants drei großen Kritiken über Erkenntnis, Moral und Ästhetik, folgte mit der Grundlegung der Metaphysik der Sitten seine erste veröffentlichte Schrift zum Thema Moral. Der Schluss der Kritik kündigte diesen The­men­wech­sel von der Erkenntnis zur Moral bereits an. Und zu diesem Zeitpunkt – der 60-jährige Kant stand kurz vor seiner Pen­sion­ierung – hatte er sich bereits seit gut 20 Jahren intensiv mit Moral au­seinan­derge­setzt. Um 1781 dürfte die Arbeit an der Grundlegung begonnen haben. Be­ab­sichtigt war aber zunächst kein moral­philosophis­ches Grund­la­gen­werk, sondern die Abrechnung mit einem zeitgenössischen Kritiker: Christian Garve. Dieser hatte nicht nur Kants Kritik mit einer äußerst negativen Rezension bedacht, sondern auch in einem Buch über Cicero die Gefühle als Moral­fun­da­ment verteidigt – das wollte Kant so nicht stehen lassen. Der „Gege­nan­griff“, wie ihn der ebenfalls aus Königsberg stammende Johann G. Hamann nannte, wandelte sich aber schnell zu einem grundsätzlichen Text über Moral­philoso­phie. Garve spielt darin keine Rolle mehr, dafür umso mehr ci­cero­nis­che Begriffe wie „Wille“, „Würde“ oder „Autonomie“. Durch die Arbeit an der Renovierung seines Al­terssitzes sowie an den Prolegomena von 1783 verzögerte sich die Fer­tig­stel­lung des Textes immer wieder. Im Sommer 1783 arbeitete Kant aber, zusammen mit seinem Sekretär, konzen­tri­ert daran, und im August jenes Jahres dürfte der Text im Großen und Ganzen abgeschlossen worden sein. Im September 1784 sandte Kant das fertige Manuskript an seinen Verleger Johann Friedrich Hartknoch.

Wirkungs­geschichte

Die Grundlegung der Metaphysik der Sitten erschien am 8. April 1785 bei Hartknoch in Königsberg und wurde zu einem Ereignis in der Königsberger Gelehrten­welt. Die Erstausgabe war schnell vergriffen, bereits ein Jahr später folgte eine zweite, leicht übe­rar­beit­ete Auflage. Lange hatte das in­tellek­tuelle Preußen auf Kants erstes Werk zu Fragen der Moral gewartet. Die Reaktionen waren allerdings nicht durchwegs positiv. Vor allem Hamann und Johann G. Herder, die bereits die Kritik der reinen Vernunft stark kritisiert hatten, standen dem anspruchsvollen Ra­tio­nal­is­mus skeptischer gegenüber denn je. Was sie an der Moral­philoso­phie Kants störte – Schiller nannte es deren „Rigorismus“ –, haben seither zahlreiche prominente Kritiker wiederholt: Hegel, Schopen­hauer, Nietzsche – sie alle kri­tisierten Kants hohe Ansprüche an Wil­len­skraft und Handlungsfähigkeit des Individuums als weltfremde Überforderung. Andere Denker aber, darunter Sören Kierkegaard oder Ludwig Wittgen­stein, bewerteten Kants Abgrenzung von niederen Begierden und hehren Idealen positiv. Mit der Diskursethik von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel sowie John Rawls Moral­philoso­phie sehen sich auch zwei der be­deu­tend­sten gegenwärtigen Positionen der Moralthe­o­rie in der Nachfolge Kants. Selbst Vordenker des Util­i­taris­mus wie Marcus G. Singer oder Richard M. Hare haben Kants Moral­philoso­phie adaptiert. Obwohl es eines seiner kürzesten Werke ist, bleibt die Grundlegung bis heute einer der meist­ge­le­se­nen und -be­sproch­enen Texte der Philosophie. Sie wird uneingeschränkt als ein Gipfel der Philoso­phiegeschichte anerkannt und hat deren Verlauf entschei­dend beeinflusst.

Über den Autor

Immanuel Kant wird am 22. April 1724 in Königsberg (dem heutigen Kaliningrad) geboren und wächst in beschei­de­nen Verhältnissen auf. Seine Erziehung ist stark von den Überzeu­gun­gen seiner tiefreligiösen Eltern geprägt. Nach seiner Gym­nasialzeit an einer pietis­tis­chen Schule studiert Kant unter anderem Mathematik, Natur­wis­senschaften, Theologie und Philosophie in Königsberg. 1746 verlässt er nach dem Tod seines Vaters die Universität und wird, auch um seine Geschwister ernähren zu können, Hauslehrer bei wohlhaben­den Familien in der Umgebung von Königsberg. Durch seine Kontakte zum Adel erlernt er gehobene Um­gangs­for­men. Nach seiner Rückkehr an die Universität promoviert und habilitiert er mit Veröffentlichun­gen aus dem Bereich der Astronomie und Philosophie. Seine Vorlesungen an der Universität erfreuen sich großer Beliebtheit. Trotzdem bewirbt er sich 1758 vergeblich um die vakant gewordene Stelle eines Professors für Logik und Metaphysik in Königsberg. Angebote einer Professur aus Jena und Erlangen lehnt er aus Ver­bun­den­heit zu seiner Heimatstadt ab. Erst 1770 wird er in seinem Wun­schbere­ich Professor in Königsberg, später auch zeitweise Rektor der Universität. Während der knapp 30 Jahre an der Universität führt Kant ein streng geregeltes Leben. Seine Tagesabläufe sind exakt durchge­plant, die Königsberger können die Uhr nach Kants Tage­spro­gramm stellen. 1781 veröffentlicht er die Kritik der reinen Vernunft, die erste seiner drei Kritiken. Weil seine Thesen weitgehend auf Unverständnis stoßen oder gar nicht erst beachtet werden, veröffentlicht er 1787 eine zweite, veränderte Fassung dieser ersten Kritik. 1788 folgt die Kritik der praktischen Vernunft und 1790 die Kritik der Urteil­skraft. In der Zwis­chen­zeit setzen sich Kants Ideen durch: Zu seinen Lebzeiten gibt es bereits über 200 Schriften zu seinen Werken, und selbst Normalbürger diskutieren seine Ideen beim Friseurbe­such. Am 12. Februar 1804 stirbt Kant, inzwischen weltberühmt, in seiner Heimatstadt Königsberg, angeblich mit den Worten: „Es ist gut.“