Erst verstehen, dann verändern
Veränderungsprozesse in Unternehmen zu managen, ist eine überaus komplexe Aufgabe. Deswegen macht es keinen Sinn, mit einem festen Konzept an die Sache heranzugehen und entsprechende Methoden dann auf Biegen und Brechen durchsetzen zu wollen. Auch wenn die gängige Ratgeberliteratur Ihnen etwas anderes verheißen mag: Den einen richtigen Führungsstil, den Sie, um erfolgreich zu sein, nur kennen und anwenden müssen, gibt es leider nicht. Jede Organisation und jede Situation ist anders, und auf diese Gegebenheiten müssen Sie flexibel und angemessen reagieren. Veränderung im Unternehmen bedeutet immer auch eine Veränderung der Unternehmenskultur. Beschäftigen Sie sich deshalb als Erstes gründlich mit der gewachsenen Kultur Ihrer Firma, ehe Sie Neuerungen ins Auge fassen.
Die Angst vor dem Neuen
Wie bei jeder Menschengruppe entwickeln die Angehörigen eines Unternehmens bestimmte Normen und erschaffen so ihre eigene Wirklichkeit. Wenn sich eine solche Kultur einmal entwickelt hat, muss sich der Einzelne ihr anpassen. Veränderungen sind nur möglich, wenn auch diese Normen angepasst werden – und sie sind nur dann erfolgreich, wenn das neue Verhalten besser funktioniert als das alte.
„Den einen richtigen Führungsstil gibt es nicht, Mitarbeiterführung ist vielmehr grundsätzlich situationsabhängig.“
Forschungen mit ehemaligen Kriegsgefangenen haben gezeigt, dass sich Menschen eher für eine Veränderung gewinnen lassen, wenn sie die Neuerung als relativ sicher empfinden. Löst die Veränderung Unsicherheit aus, tendiert der Einzelne dazu, sich an den Menschen in seiner Umgebung zu orientieren. Veränderungen lassen sich nur dann dauerhaft umsetzen, wenn sie über längere Zeit immer wieder angegangen und verstärkt werden. Ohne diese Verstärkung ist bald alles wieder beim Alten.
Eine große Familie
Führung bedeutet u. a., eine Unternehmenskultur mit aufzubauen und weiterzuentwickeln. Oft gibt es in einem Unternehmen neben der offiziellen Kultur aber auch Subkulturen, die ihr entgegenstehen oder sie sogar unterminieren. Konflikte zwischen verschiedenen Subkulturen sind eine erhebliche Belastung für das ganze System. Dazu kommt, dass Subkulturen noch veränderungsresistenter sind als die allgemeine Firmenkultur. Versuchen Sie zunächst einmal, die Subkulturen einfach wahrzunehmen und zu akzeptieren.
„Exakt dieser Punkt ist es, an dem 90 % der Veränderungsprogramme fehlschlagen: Das Ziel der Änderung ist sehr genau beschrieben, der Weg dorthin nicht.“
Jedes Unternehmen stellt ein System dar, ähnlich wie eine Familie. Der Versuch, die Kultur eines Betriebs zu beeinflussen, ähnelt im Grunde einer Familientherapie. So gesehen, brauchen Sie im Veränderungsmanagement die Qualitäten eines systemischen Familientherapeuten – und selbst ein Therapeut scheitert oft genug mit seinen Bemühungen. Denn Systeme lassen sich generell nur schwer verändern, und auch nur an bestimmten Stellen. Versuchen Sie herauszufinden, wo genau die Probleme ihren Ursprung haben und an welchen Punkten Sie überhaupt ansetzen können, um etwas zu verändern. Verzichten Sie darauf, Dinge erzwingen zu wollen, damit vergeuden Sie nur Ihre Kraft, ohne wirklich etwas zu erreichen.
Keine fertigen Lösungen
Auch ein externer Berater hat im Prinzip eine therapeutische Funktion. Die Unternehmen hören das nicht gern, deshalb muss er sich einer anderen Begrifflichkeit bedienen. Wie ein Therapeut sollten Sie als Berater vor allem die Stärken des Unternehmens herausarbeiten und auf dieser Basis die Probleme angehen.
„Wir entwickeln einen funktionierenden Weg, um erfolgreich unsere Aufgabe erledigen zu können. Aber dieser Weg muss nicht notwendigerweise der sein, der durch die Regeln vorgegeben wird.“
Egal ob Manager oder Berater: Ihre Arbeit lässt sich auch als die eines Anthropologen oder Künstlers beschreiben. Wie ein Anthropologe müssen Sie zunächst einmal die Kultur des Unternehmens so akzeptieren, wie sie ist, und sie ohne Vorurteile erforschen, um sie zu verstehen. Erst wenn Sie sie durch und durch kennen, können Sie überhaupt sinnvolle Maßnahmen zur Veränderung und Problemlösung ergreifen. Auf der Suche nach den richtigen Lösungen brauchen Sie die Qualitäten eines Künstlers. Jedes Unternehmen ist anders, deshalb können Sie nicht einfach auf Patentrezepte zurückgreifen. Stattdessen müssen Sie, wie ein Künstler, auf Ihre Intuition hören, spontan und kreativ sein. Verzichten Sie darauf, dem Unternehmen fertige Lösungen zu präsentieren – Sie werden damit keinen Erfolg haben. Denn Menschen nehmen nur Lösungen an, die sie selbst erarbeitet haben. Als Berater ist es Ihre Aufgabe, ein Team bei diesem Prozess zu unterstützen. Doch die Lösungen müssen vom Team selbst kommen, nur dann wird es sie auch akzeptieren und umsetzen.
Gründer prägen die Unternehmenskultur
Die Unternehmenskultur ist meist stark mit der Entstehungsgeschichte des Unternehmens und mit der Persönlichkeit seines Gründers verknüpft. In manchen Firmen hat sie sich direkt aus den persönlichen Werten des Gründers entwickelt: Er hat eine Geschäftsidee, baut eine Firma auf und stellt Mitarbeiter ein. Er leitet das Unternehmen in Übereinstimmung mit seinen eigenen Werten; die Mitarbeiter müssen entweder diese Werte akzeptieren oder sich einen anderen Arbeitnehmer suchen.
„Individuen erschaffen Organisationen, die Kulturen entwickeln, und Organisationen akkulturieren Individuen.“
Ein gutes Beispiel ist das Unternehmen IBM. Dessen Gründer Tom Watson war ursprünglich Verkäufer. Entsprechend standen bei IBM nicht Neuentwicklungen, sondern vor allem der Verkauf im Mittelpunkt. Einen ganz anderen Ansatz verfolgte Ken Olsen, der Gründer der Digital Equipment Corporation. Ihm waren in erster Linie Innovationen wichtig. Außerdem stattete er seine Mitarbeiter mit möglichst großen Freiheiten aus und erwartete im Gegenzug, dass sich jeder diesen Befugnissen entsprechend einbrachte, selbstständig Entscheidungen traf und Leistung zeigte. Manche waren damit überfordert, aber generell sorgte diese Kultur für begeisterte, eigenverantwortliche Mitarbeiter – und zunächst auch für Erfolg. Das Unternehmen scheiterte erst, als Olsen seine eigenen Projektteams gegeneinander konkurrieren ließ und so seine Ressourcen vergeudete.
Manager kommunizieren anders
Wenn ein Unternehmen wächst, verändert sich notwendigerweise auch seine Kommunikation. In kleinen Unternehmen kommunizieren Sie als Führungskraft direkt mit den Beteiligten, in großen findet der Austausch oft indirekt statt und ist eng mit Kontrollen und Anreizen verbunden.
„Führungskräfte müssen fähig sein zu akzeptieren, dass die verschiedenen Subkulturen ihres Unternehmens jeweils eigene partikulare Wertmaßstäbe besitzen.“
Oft fällt es Managern schwer, ihren Stil umzustellen und statt einzelner Menschen plötzlich ganze Systeme zu lenken. Gerade in großen Unternehmen braucht ein Manager scharfes analytisches Denken und hohe emotionale Intelligenz. Er muss Kompetenz beweisen und darf bei aller Freundlichkeit gegenüber seinen Mitarbeitern nie die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens aus den Augen verlieren. Keine einfache Aufgabe, vor allem wenn die Wirtschaftlichkeit mit anderen Werten des Unternehmens konkurriert.
Werte und Wirtschaftlichkeit
Der besagte Ken Olsen z. B. verpasste es, die Innovationsfreudigkeit seiner Firma in wirtschaftlich sinnvolle Bahnen zu lenken. So wurde bei der Digital Equipment Corporation einmal eine große Werbekampagne noch vor dem Start wieder aufgegeben: Die Führungskräfte des Unternehmens, allesamt Ingenieure, interessierten sich schlicht nicht dafür. Jeden Dollar, der nicht in die Entwicklung floss, betrachteten sie als vergeudet.
„Die besten Entscheidungen werden meiner Meinung nach intuitiv getroffen und diejenigen, die Entscheidungen auf solche Art und Weise treffen, haben etwas von den ‚kreativen Instinkten‘ eines Künstlers.“
Bei der Firma Ciba-Geigy war der gute Umgang mit den Mitarbeitern über lange Zeit ein wichtiger Wert. Entlassungen waren sozusagen tabu. Erst als die Zukunft des gesamten Unternehmens auf dem Spiel stand, konnten sich die Verantwortlichen zu Personalkürzungen durchringen. Aber sie versuchten, auch in dieser Situation noch die Werte des Unternehmens zu wahren: Erst beschränkten sie sich darauf, frei werdende Stellen nicht wieder neu zu besetzen, dann sprachen sie zwar Entlassungen aus, stellten die betroffenen Mitarbeiter aber danach befristet als Berater wieder ein, um ihnen den Übergang zu erleichtern.
Änderungsdruck am Beispiel Con Edison
Der amerikanische Energieversorger Con Edison war ein patriarchalisch strukturiertes Unternehmen, das sich kaum um Fragen des Umweltschutzes kümmerte. Doch dann wurde bei einem Zwischenfall Asbest freigesetzt, und ein Gericht verdonnerte das Unternehmen dazu, in Zukunft peinlich genau Rechenschaft über die Einhaltung von Umweltvorschriften abzulegen. Con Edison wurde von außen gezwungen, seine Unternehmenskultur grundlegend zu ändern.
„Man stellte sich also der Aufgabe, die unumgänglichen Entlassungen vorzunehmen, tat dies aber auf eine humane Art und Weise. Aufgrund dieser Maßnahmen konnte man sagen, dass Ciba-Geigy ein Unternehmen sei, das Menschen gut behandle, auch bzw. sogar dann, wenn Mitarbeiter entlassen werden müssen.“
Die Firmenleitung ging darauf ein, aber bei den Mitarbeitern lösten die tief greifenden Änderungen zunächst vor allem Angst aus. In dieser Situation kam Con Edison seine althergebrachte Firmenkultur zugute: Der patriarchalische Führungsstil half, die Änderungen rasch auf allen Ebenen durchzusetzen. Schließlich setzten sich die Mitarbeiter so engagiert für die neuen Unternehmenswerte ein, dass sie selbst wesentliche Verbesserungsvorschläge einbrachten.
Theorie und Praxis
Veränderungen und neue Ziele zu propagieren, ist eine Sache, die praktische Umsetzung eine ganz andere. In der Regel werden Vorgaben vor Ort nie genau so umgesetzt, wie die Firmenleitung sie formuliert hat. Jeder Beteiligte modifiziert Anweisungen so, wie es für seine Arbeit günstig ist. Das ist wie beim Autofahren: Die meisten Menschen wissen, wie man sicher fährt, aber die wenigsten befolgen wirklich alle Regeln, die sie im Fahrunterricht gelernt haben.
„Niemand kann gezwungen werden, die Arbeit genau auf die vorgeschriebene Art und Weise zu tun, es sei denn, es würde ihn jemand die ganze Zeit beaufsichtigen, was freilich keinen Sinn macht.“
Besonders gefährlich wird es, wenn die Ziele der Firmenleitung von den unteren Führungsschichten nicht mitgetragen werden. Mitarbeiter müssen sich vor allem an ihren direkten Vorgesetzten orientieren, mit denen sie auch zusammenarbeiten, und deren Vorgaben erfüllen. Wenn die Firmenleitung Umweltschutz propagiert, der direkte Vorgesetzte aber die Arbeit nur möglichst schnell erledigt haben möchte, stehen die Chancen schlecht, dass die Mitarbeiter an der Basis die Vorgaben aus der Chefetage erfüllen.
Widerstände ernst nehmen
Machen Sie sich deshalb bei Veränderungsprozessen immer bewusst, dass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis enorm sein kann. Beobachten Sie, wo die Mitarbeiter von den Vorgaben abweichen und warum. Prüfen Sie, welche Modifikationen Sie akzeptieren können und welche nicht. Kommunizieren Sie die Beobachtungen Ihren Vorgesetzten ebenso wie den Mitarbeitern, und versuchen Sie, inakzeptables Verhalten sofort zu stoppen. Dabei ist es ganz wichtig, dass die Mitarbeiter in die Prozesse mit einbezogen werden; nur dann werden sie ihr Verhalten tatsächlich anpassen. Erzwingen können Sie allerdings gar nichts, es sei denn, Sie wollen Ihre Angestellten permanent überwachen, was der Unternehmenskultur wenig förderlich wäre.
„Es muss ein Prozess entwickelt werden, der die Mitarbeiter systematisch beteiligt.“
Nehmen Sie bei Veränderungen die Ängste Ihrer Mitarbeiter ernst, sie sind völlig normal. Jeder Mitarbeiter hat seinen ganz eigenen Weiterbildungsbedarf – wenn Sie z. B. Ihre gesamte Kommunikation auf E-Mail umstellen, kann es sein, dass manche Mitarbeiter erst einmal einen Kurs im Maschinenschreiben brauchen, weil sie bisher nur der Sekretärin Briefe diktiert haben. Gehen Sie auf diesen individuellen Schulungsbedarf ein und geben Sie den Mitarbeitern ausreichend Zeit, sich die nötigen Kompetenzen anzueignen.