Komplexität reduzieren mit PLM
Was gestern neu war, ist heute schon veraltet und morgen bereits vergessen. Das zwingt Unternehmen, ihre Produkte schneller als zuvor auf den Markt zu bringen. Wer hier den Überblick verliert, fällt zurück, denn wenn Entwicklungs- und Konstruktionskosten beim falschen Produkt verursacht werden, geht viel Geld verloren. Dennoch werden immer wieder Ressourcen für Produkte verschwendet, die von den Kunden letztlich nicht angenommen werden. Wer nun einfach das Risiko scheut und alles auf die vermeintlich sichere Karte setzt, verliert garantiert: Der Markt entwickelt sich einfach zu schnell, es gibt keine sichere Karte mehr.
„Eine neue Technologie muss möglichst kostengünstig und kurzfristig eingeführt werden, um ihre eigenen Forschungs- bzw. Entwicklungskosten zu decken.“
Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet das Product Lifecycle Management, kurz PLM. Dabei wird jede Phase eines Produkts – Entwicklung, Konstruktion, Fertigung, Montage, Wartung – gesondert beobachtet und gesteuert. Dieser Prozess wird in der Praxis mithilfe eines Produktdatenmanagementsystems (PDMS) umgesetzt. In dieses IT-System fließt das vorhandene Unternehmenswissen. Ziel des PLM ist es, die Komplexität der Unternehmenssteuerung zu senken. PLM ist auf mehreren Ebenen wirksam:
- Aufbau und Struktur der Produkte
- Entwicklung konfigurierbarer Produkte
- Entwicklung von Produktstandards
- Modularisierung der Produkte
- Aufbau und Struktur der Prozesse
- schnellere Markteinführung
- weniger Teilprozesse
- Aufbau der Unternehmensorganisation
- kürzere Wege
- flexiblere Organisation bei klarerer Aufgabenverteilung
Vom Variantenreichtum zum Baukastenprinzip
Um den Bedürfnissen der Kunden nachzukommen, variieren Unternehmen ihre Produkte. Mit der Zahl der Varianten steigt allerdings die Komplexität, was wiederum dafür sorgt, dass der Weg zu neuen Produkten langsamer und teurer wird. Wie gegensteuern, ohne die Kunden zu verärgern? Die Herausforderung liegt darin, die interne Zahl der Varianten herunterzufahren, aber den Kunden weiterhin fast dasselbe Angebot zu machen. Nur offenkundig unrentable Varianten sollten eingestellt werden. Dafür ist es notwendig, die interne und die externe Vielfalt zu kennen – und sie im nächsten Schritt zu entkoppeln.
„Einer der wichtigsten Aspekte von PLM liegt in der gezielten Nutzung und Bereitstellung des im Unternehmen vorhandenen Wissens.“
Produkte müssen in verschiedene Module zerlegt bzw. aus Modulen zusammengebaut werden können. Diese Module muss man ohne Einfluss auf die Funktion des Endprodukts hinzufügen, entfernen oder gegen andere austauschen können. Genau dasselbe gilt auch für Prozesse. Unternehmen sind gefordert, Standardprozesse zu bestimmen, die aus festen Prozessmodulen („muss immer durchlaufen werden“) und variablen bestehen („kommt nicht immer zur Anwendung“). Um dieses Baukastenprinzip in der Produkt- und Prozessarchitektur konsequent umzusetzen, muss das gesamte Unternehmen modular restrukturiert werden. Hierzu empfiehlt sich der Aufbau einer Matrix-Organisation, um möglichst flexibel agieren zu können.
„Die Zeitspanne, die zur Verfügung steht, um mit einem Produkt Geld zu verdienen, wird immer kürzer.“
Das ist natürlich aufwändig. Für den Start ist es ratsam, die rentabelsten oder meistverkauften Produkte zu ermitteln und daraus jeweils ein Referenzprodukt zu formen, sozusagen als Keimzelle aller Varianten. Daraus lässt sich ableiten, wie viele Varianten es gibt, welche sinnvoll sind, auf welche künftig verzichtet werden sollte und welche evtl. sogar noch fehlen. So lässt sich innerhalb eines relativ überschaubaren Zeitraums das Referenzprodukt standardisieren und die Zahl der Produktvarianten beherrschen.
„Zwischen Vielfalt und Komplexität des Lebenszyklus besteht ein direkter Zusammenhang.“
Dafür müssen Sie allerdings sämtliche notwendigen Daten und Informationen unternehmensweit integrieren und für die PLM-Bedürfnisse neu strukturieren – eine Mammutaufgabe, deren Ziel ein Produktdatenmanagementsystem ist. Dieses PDMS speichert und verwaltet alle produktbeschreibenden Daten während des gesamten Lebenszyklus des Produkts, damit autorisierte Anwender auf sie zugreifen können. Das System einzuführen ist aufwändig und teuer. Jedes Unternehmen sollte sich deshalb genau über den „Reifegrad“ der gegenwärtig benutzten Informationstechnologie informieren und herausfinden, was es kostet, diese PDMS-tauglich zu machen. Die Abbruchquote bei PDMS-Projekten ist hoch, und das liegt meist an unzureichender Vorbereitung.
Einführung mit System
Ein PDMS einzuführen ist ein Projekt und erfordert entsprechende Organisation. Nötig sind ein Projektleiter, ein Projektpate als Schnittstelle zur Geschäftsführung und ein Kernteam, das die einzelnen Arbeitsschritte vorbereitet und umsetzt. Es müssen operative Ziele erarbeitet und benannt werden. Das geschieht in Gesprächen und Workshops, in denen man die Ziele gewichtet. Was unrealistisch ist, fliegt raus. Das Projektteam wird anschließend mit personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet. Es erstellt einen Vorgehens- und Machbarkeitsplan, der mit der Geschäftsleitung abzustimmen und im Verlauf der Einführung ständig abzugleichen ist.
„Die PLM-Strategie bezieht sich zwar im Kern auf die Produkte, beeinflusst aber letztlich das gesamte Unternehmen.“
Um die Machbarkeit abzuklären, müssen Sie in einem ersten Schritt den Ist-Zustand im Unternehmen ermitteln und anschließend einzelne (PDMS-taugliche) Teilprozessschritte festlegen. Diese werden auf so genannten Prozessaufnahmeblättern niedergelegt. Parallel dazu wird der Zustand der IT-Infrastruktur erkundet und als IT-Systemlandkarte dargestellt. Anschließend skizzieren Sie den Sollzustand, am besten in Form verschiedener vorstellbarer Szenarien: von „alles bleibt beim Alten“ bis „alles wird neu“. Für jedes Szenario werden Kosten und Nutzen einander gegenübergestellt. Anschließend wählen Sie jenes Szenario aus, das den ermittelten Zielen zu vertretbaren Kosten am nächsten kommt.
„Um eine Basis für den Einsatz eines PDMS zu schaffen, ist neben einer eindeutigen Datenpräsenz eine leistungsfähige IT-Infrastruktur obligatorisch.“
Darauf aufbauend werden sämtliche relevanten Produkte, Prozesse und Bereiche der Ablauforganisation aus datentechnischer Sicht in PDMS-tauglichen Modellen beschrieben. Diese müssen meist erst aufgebaut werden. Bei Produkten etwa, indem konstruktive, fertigungstechnische und projektbeschreibende Daten gesammelt, aufbereitet und miteinander vernetzt werden. Darauf basiert wiederum eine „Wer“-Matrix und eine „Was“-Matrix, aus denen hervorgeht, wer wann auf welche Daten zugreifen und sie bearbeiten darf. Zugleich zeigt diese Doppelmatrix, welche Mitarbeiter für welche Aufgaben geschult werden müssen.
Simulation kommt vor dem Ernstfall
Der Ernstfall beginnt in ausgewählten, leicht umsetzbaren Teilbereichen. In dieser sechs bis zwölf Monate dauernden Pilotphase wird das PDMS in das bestehende IT-System eingebaut und muss – anfangs unbedingt in Form einer Simulation – seine Tauglichkeit beweisen. Dafür sollten Sie externe Experten hinzuziehen, die mit der verwendeten Software bestens vertraut sind. Aus den Erfahrungen dieser Phase können Sie ableiten, mit wie viel Aufwand und Kosten die komplette Umstellung auf PDMS verbunden wäre.
„Das Pilotsystem darf keinesfalls in die Abläufe des aktuellen Tagesgeschäfts eingreifen.“
Wenig sinnvoll ist es, für die Pilotphase einen Bereich zu wählen, in dem es vorher Probleme gab. Das geht meistens schief. Beginnen Sie in einem Sektor, der modular leicht darstellbar ist. Schließlich sollen schnellstmöglich die Vorzüge eines PDMS erkennbar werden. Sollte die Pilotphase zeigen, dass Ihr Unternehmen derzeit von einem PDMS überfordert ist, müssen Sie ein Ausstiegsszenario erarbeiten. In allen anderen Fällen kann das PDMS nach der Pilotphase unternehmensweit umgesetzt werden. Dabei gilt es,
- sämtliche relevanten Produktdaten zu übertragen,
- Datenaktualität zu gewährleisten,
- die Ressourcen (auch die zeitlichen) zu planen und
- ein Langzeitarchiv für die Produktdaten einzurichten.
„Die Einführung und der Betrieb eines PDMS stellt für jedes Unternehmen eine große Herausforderung dar und ist mit erheblichem finanziellem Aufwand verbunden.“
Wenn die nötige Hard- und Software vorhanden ist und die Mitarbeiter entsprechend geschult sind, kann es losgehen. In der Folge ist es nötig, das PDMS immer wieder zu überprüfen, Fehler zu beheben und das System auf den neuesten Stand zu bringen.
Was bringt das alles?
Irgendwann stellt sich unweigerlich die Frage, was das neue System überhaupt bringt. Antworten liefert die an das geläufige Managementtool der Balanced Scorecard angelehnte Capability Scorecard (CSC), mit deren Hilfe ermittelt werden kann, inwieweit die angestrebten Ziele innerhalb des Product Lifecycle Managements erreicht worden sind. Aus der Capability Scorecard lassen sich konkrete Handlungsanweisungen ableiten, und zwar in den folgenden Bereichen:
- Finanzen: Wie wirkt sich die Einführung von PDMS auf den Cashflow etc. aus?
- Produkte: Welche Produkte sind derzeit PDMS-tauglich?
- Prozesse: Inwieweit sind Prozesse momentan PDMS-tauglich dokumentiert und umsetzbar?
- IT: Wie gut versteht sich das vorhandene IT-System mit dem PDMS?
- Organisation: Inwieweit lehnt sich der Aufbau der Organisation an die Vorgaben durch das PDMS an?
„Bereits in der Einführungsphase entstehen enorme Kosten hinsichtlich Software, Hardware und Consultingaufwendungen.“
Schreiben Sie für alle Bereiche notwendige Aktivitäten und angestrebte Ziele fest, bewerten Sie sie und überprüfen Sie sie mit der CSC. So können Schwachstellen früh erkannt, gewichtet und behoben werden. Insofern lässt sich die Capability Scorecard auch als Ansatz für das Projektcontrolling nutzen.
Der verzögerte Nutzen
An die komplexe Aufgabe, ein PDMS einzuführen, macht sich ein Unternehmen nur, wenn sich die Investitionen rentieren. Das zu bemessen ist aus folgenden Gründen nicht so leicht:
- Das PDMS wirkt sich auch auf Abteilungen aus, die nicht direkt betroffen sind.
- Viele Nutzenfaktoren können monetär kaum oder gar nicht erfasst werden.
- Andere Nutzenfaktoren zeigen sich erst zeitlich verzögert.
„Erfahrene Unternehmen investieren am meisten in die Implementierung.“
Um zu entscheiden, ob sich ein PDMS rentiert, ist eine ganzheitliche Sichtweise nötig. Es geht vor allem darum, die erwartete Nutzenrendite in allen Unternehmensbereichen gegenüber dem Ist-Zustand zu beziffern – das betrifft nicht nur Kosten, sondern auch Zeit und Qualität.
Die schwer bezifferbaren und indirekten Kosten werden in den meisten Unternehmen überschlagen und Pi mal Daumen festgelegt. Dazu werden die einmaligen Sach- und Personalkosten zur Einführung plus die laufenden Kosten eingerechnet. Die Investitionen können durchaus zweistellige Millionensummen erreichen, amortisieren sich aber in den meisten Fällen nach spätestens drei Jahren. Wer bei der Implementierung die Kosten drücken will, spart am falschen Ende. Noch etwas zeigt die Praxis: Wer auf ein PDMS-gestütztes Product Lifecycle Management setzt, steigert sowohl seinen Umsatz als auch seinen Marktanteil – in einer Untersuchung traf dies in 100 % der Fälle zu.
Prof. Dr.-Ing. Jörg Feldhusen leitet das Institut für Allgemeine Konstruktionstechnik des Maschinenbaus an der RWTH Aachen. Er hat zehn Jahre in der Industrie gearbeitet, u. a. bei Siemens und AEG Westinghouse. Dr.-Ing. Boris Gebhardt hat an Feldhusens Lehrstuhl an der RWTH Aachen gearbeitet. Er hat Maschinenbau in Aachen, zudem Luft- und Raumfahrttechnik in München studiert. Gebhardt hat mehrere PLM-Projekte in der Industrie eingeführt und umgesetzt.