Kein Markt ist perfekt
Zwei Glaubenssätze sind in Unternehmen weit verbreitet. Der erste: Der Finanzmarkt hat immer Recht. Der zweite: Also müssen wir uns anpassen. Beides lässt sich so absolut nicht behaupten. Strategisch denkende Unternehmen schauen, wann sich die Chance bietet, aus den Vorgaben des Kapitalmarkts auszubrechen. Dann agieren sie am Markt vorbei oder sogar scheinbar gegen seine Gesetzmäßigkeiten. In der Rückschau zeigt sich oft: Das war schlau!
„Der Finanzstratege macht die großen Deals und setzt sich mit ihnen bewusst über den Markt hinweg. Dieses Vorgehen kennzeichnet die Strategic Corporate Finance.“
Die meisten Unternehmen scheuen allerdings vor unkonventionellen Entscheidungen zurück. Sie halten weiterhin an der Annahme fest, es gebe einen gut funktionieren Kapitalmarkt. Und sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass auf diesem Markt mit den unternehmensintern geläufigen Messzahlen wie Return on Investment oder EBIT (earnings before interest and taxes) operiert wird. Seit einem halben Jahrhundert predigen Wissenschaftler: Das klingt zwar logisch, entspricht aber nicht der Realität an den Kapitalmärkten. Dort kommt es darauf an, Wertsteigerungen zu erwirtschaften und diese an Zahlungsüberschüssen festzumachen.
„Kein Unternehmen kann sich dauerhaft den Mechanismen der Finanzmärkte entziehen.“
Alle Informationen fließen – so die Theorie des perfekten Markts – in die Bewertung von Unternehmen am Kapitalmarkt ein und verändern den Kurs. Weil im Kurs alle Informationen eingespeist sind, ist er immer gerecht. Kein Investor weiß mehr als der andere, niemand wird übervorteilt. Der Preis der Aktie entspricht ihrem Wert. Auf dieser Basis öffnet sich der Kapitalmarkt für alle Interessenten. Heute wissen wir jedoch: Der Markt mag perfekt sein, der Mensch aber ist es nicht. Entscheidungen sind nicht immer logisch, daher sind es auch Kapitalanlagen nicht. Wird dann noch berücksichtigt, dass Eigenkapital den Unternehmen wichtiger ist als Fremdkapital, dass vor dem Fiskus nicht alle in allen Ländern gleich sind und dass manche Akteure eben doch mehr wissen als andere, wird klar: Die Theorie vom perfekten Markt ist nur eine Theorie.
Finanzstrategisch denken
Dennoch gehen die meisten Akteure am Kapitalmarkt davon aus, dass es sich, wenn schon nicht um perfekte, so doch um gut funktionierende Märkte handelt, in denen sämtliche relevanten Informationen eingespeist sind. Darüber kann man sich streiten, über die folgenden drei Punkte aber nicht:
- Märkte machen transparent, was alles zum Verkauf steht.
- Sie erlauben den Vergleich und gewisse Transaktionen.
- Sie geben Feedback, wie die eigene Leistung von anderen eingeschätzt wird.
„Finanzstrategisch denken heißt, sich vom Korsett der bestehenden Kapitalmärkte zu befreien.“
Besonders wichtig ist der letzte Punkt. Eine Fehleinschätzung der eigenen Leistung öffnet die Räume für strategisch denkende und handelnde Finanzinvestoren. Das gilt beispielsweise für:
- komplexe Transaktionen, die einen hohen Untersuchungs- und Bewertungsaufwand erfordern (etwa bei langfristig angelegten Kooperationen),
- Diversifizierungen, deren strategische Bedeutung und deren Hintergründe von Analysten und Investoren nicht leicht einzuschätzen sind,
- Markteintritte in Felder, deren künftige Bedeutung zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum abzuschätzen ist.
„In der Finanzwirtschaft geht es um Geld, das erst in der Zukunft fällig wird oder verfügbar wird.“
In all diesen Fällen muss die Unternehmensführung notgedrungen in Kauf nehmen, dass der Aktienkurs erst einmal fällt. Auf eine solche Gelegenheit haben strategisch denkende Investoren nur gewartet: In dieser Phase decken sie sich mit Aktien ein.
Mergers & Acquisitions
Fusionen und Aufkäufe sind in der Unternehmenswelt normal. Am Kapitalmarkt wird oft spekuliert, wer mit wem zusammengehen könnte und ob das wohl sinnvoll (also wertsteigernd) ist oder nicht. Entsprechend steigt oder fällt der Aktienkurs. Im Vordergrund steht dabei die Erwartung von Synergien oder von Expansionen. Wird durch eine Übernahme die Marktmacht gestärkt, reagieren die Anleger meist positiv, wagt sich das Unternehmen dagegen auf neue Felder vor und diversifiziert, sinkt der Aktienkurs nicht selten. Komplexe, längerfristig angelegte Entscheidungen werden von Analysten und Investoren häufig vernachlässigt oder unterschlagen – nicht zuletzt, weil die erhofften Kurssteigerungen weit in die Zukunft verlagert sind. Je schwieriger eine Übernahme, eine Fusion oder eine Allianz zu bewerten ist, desto zögerlicher reagiert der Kapitalmarkt.
„Finanzstrategische Überlegungen müssen über die bloße Analyse von Unternehmensdaten hinausgehen und Strategieentscheidungen beleuchten.“
Damit Diversifizieren sinnvoll ist, muss das Unternehmen wissen, warum es diesen Schritt wagt. Ein Grund wäre etwa, wenn neu auftretende Kundenbedürfnisse eher durch den Kauf einer Firma als durch interne Forschung und Entwicklung befriedigt werden können. Das neue Feld muss in die Gesamtstrategie eingebaut, das bestehende Unternehmen entsprechend umgebaut werden. Unprofitable Felder – auch das gehört zu einem erfolgreich diversifizierten Unternehmen – müssen abgestoßen werden.
„Mit geeigneten Kommunikationsstrategien können Unternehmen ihre Bewertung am Kapitalmarkt beeinflussen.“
Zu den selten hinterfragten Gegebenheiten des Kapitalmarkts gehört, dass diversifizierte Unternehmen mit einem Konglomeratsabschlag bestraft werden. Und das, obwohl Studien belegen, dass Mischkonzerne eine bessere Wertentwicklung aufweisen als der Durchschnitt der Unternehmen. Eine Spezialisierung solcher Konglomerate klappt nur in jedem dritten Fall, in etwa der Hälfte der Fälle sinkt der Unternehmenswert.
„Schweige- oder besser noch Täuschungsstrategien sind scharfe Waffen in der Abwehr unerwünschter Akquisitionen.“
Wer finanzstrategisch denkt, wagt sich – oft mit eigens entwickelten Geschäftsmodellen – an Unternehmen, vor denen ein Großteil der Investoren zurückschreckt. Oder er geht in Schwellenländer, trotz politischer Unwägbarkeiten. Klar ist: Wo Renditen einzufahren sind, steckt immer auch ein Risiko. Wenn Jahre später in den Schwellenmärkten die Gewinne eingestrichen werden und die anderen aufmerksam werden, rollt der große Treck an. Die Herausforderung besteht jedoch darin, die Chancen zu entdecken, für die andere (noch) keine Augen haben.
Die Rolle Unternehmenskommunikation
Aktiengesellschaften müssen kommunizieren: zwangsweise über Ad-hoc-Meldungen, Quartalsberichte und Jahresabschlüsse mehr oder minder freiwillig gegenüber Analysten und Journalisten. Es ist sinnvoll, sich mit einer schlüssigen und auf die Strategie zugeschnittenen Kommunikation an alle zu wenden – Mitarbeiter, Lieferanten, Investoren, Öffentlichkeit –, um so das Bild vom Unternehmen gestalten oder zumindest beeinflussen zu können. Dabei kann ein Unternehmen drei unterschiedliche Absichten verfolgen:
- Stärke zeigen (Schmückungsstrategie),
- Investoren über die Stärke im Ungewissen lassen (Schweigestrategie) oder
- auf die falsche Fährte locken (Täuschungsstrategie).
„Es zeichnet sich ab, dass Unternehmer mehr Verantwortung übernehmen müssen.“
Für jede dieser Strategien gibt es ein angemessenes Umfeld. Allein ist jedoch keine auf Dauer tragfähig. Zudem lassen alle drei ein wichtiges Element vermissen: Ehrlichkeit. Das bestraft der Kapitalmarkt auf Dauer mit Vertrauensverlust.
Es muss also klug und dosiert informiert werden. Wer die eigenen Stärken ausschmückt, macht eventuelle Partner (und Investoren) auf sich aufmerksam. Wer die Konkurrenten auf Abstand halten will, sollte über die Schweigestrategie nachdenken oder auf die Täuschungsstrategie setzen, etwa indem vor allem über Flops berichtet wird. Auf diese Weise kann ein Unternehmen seine Bewertung am Kapitalmarkt beeinflussen.
Abseits der Kapitalmärkte
Die meisten Start-ups würden scheitern, wenn sie keine Geldgeber fänden. Banken gehören selten zu diesen: Zu ungewiss, zu neu, zu unvertraut wirken die Geschäftsmodelle auf sie. Private Geldgeber springen in diese Bresche. Die Investoren – Venture-Capital-Gesellschaften und -Fonds – hoffen auf eine vergleichsweise gewaltige Rendite bei einem Weiterverkauf oder Börsengang. Oft sind 30–50 % eingeplant – wenn alles gut geht. Diese Geldgeber investieren in den frühen Phasen der Gründung eines Unternehmens.
„Die verschärften Bedingungen der Fremdkapitalbeschaffung durch Basel II waren ein geradezu heilsamer Schock.“
In späteren Phasen werden Private-Equity-Gesellschaften und -Fonds aktiv. Sie übernehmen Unternehmen oder Teile davon, um sie aufzumotzen und weiterzuverkaufen. Häufig allerdings bürden sie der gekauften Firma die Schulden aus dem Erwerb auf, die samt Zinsen mit den Gewinnen dieses Unternehmens getilgt werden müssen. Ein riskantes Modell.
„Ein Mehr an Rendite ist nur durch ein Mehr an Risiko zu haben.“
Auch Hedgefonds holen sich das Geld für ihre Investments auf dem Finanzmarkt. Obwohl sie meist nur einen Minderheitsanteil an einem Unternehmen halten, beeinflussen sie die Strategie. Das Ziel: durch Sonderausschüttungen oder Aktienrückkäufe die Investoren befriedigen. Oft wird das gekaufte Unternehmen dadurch gelähmt, denn es fehlt an Liquidität.
Gutes vs. schlechtes Kapital
Auch wenn es sicherlich überzogen ist, die Finanzinvestoren pauschal als „Heuschrecken“ zu verschreien: Die durch sie angestoßene Diskussion über Gier und Hemmungslosigkeit an den Finanzmärkten kommt nicht von ungefähr. Dieser Debatte haben sich die Akteure zu stellen. Private-Equity- und Hedgefonds scheinen Nachhaltigkeitsgedanken in Ökonomie, Ökologie und im sozialen Bereich komplett zu ignorieren. Was für sie „gutes Kapital“ ist, wird außerhalb ihrer Kreise häufig als zerstörerisches „schlechtes Kapital“ gegeißelt. Allerdings nutzen diese „Heuschrecken“ Marktineffizienzen – was diese verschwinden lässt und dem Markt insgesamt guttut.
„Das Preisgeschehen auf den Finanzmärkten koppelt sich zunehmend von der Realität ab.“
Was also ist gutes, was schlechtes Kapital? Gemeinhin wird diese Frage danach entschieden, ob das Kapital nachhaltig eingesetzt wird. Gemäß dieser Definition wäre Mezzanine-Kapital gut, denn es erhöht das Eigenkapital und führt zu einem besseren Rating; ein Zwischenkredit hingegen wäre schlecht, weil er dies nicht erreicht. Jedoch ließe sich auch argumentieren: Nur durch den Zwischenkredit ist in einer Krisensituation das Überleben des Unternehmens zu sichern. Somit wäre auch der Zwischenkredit indirekt nachhaltig. Fremdmittel sind, so lässt sich verallgemeinern, nicht „schlecht“, solange sie nach Abzug der Kosten eine Rendite erwirtschaften.
„Seit einigen Jahrzehnten denken und agieren die Finanzmarktteilnehmer zunehmend kurzfristig.“
Basel II hat einiges in Bewegung gebracht: Seit die Kreditkonditionen der Banken vom Zustand der Firma abhängig gemacht werden, haben viele Unternehmen intern aufgeräumt. Das ist langfristig ausgesprochen sinnvoll – insofern sind Kredite wiederum „gutes“ Kapital.
Für den Anleger indes gilt: Ist ihm die Umweltverträglichkeit oder die Nachhaltigkeit der Produkte wichtig, wird er diesen Aspekt in die Abwägung zwischen Risiko und Rendite einbeziehen. Auf jeden Fall sollte er sich an solide Werte halten – nicht an die spekulativen Finanzinstrumente, die mittlerweile das Geschehen auf den Märkten bestimmen. Je mehr sich die Finanzinstrumente von der Realwirtschaft abkoppeln, desto wahrscheinlicher wird es, dass der Kapitalmarkt plötzlich nicht mehr funktionieren wird.