Die Finanzkrise, ein Lehrstück der Globalisierung
Zur weltweiten Finanzkrise 2008 konnte es nur kommen, weil sich Schuldner und Gläubiger gegenseitig anfeuerten, und zwar über Ländergrenzen hinweg. Die USA als ein Land, in dem jeder Haushalt durchschnittlich 13 Kreditkarten und mehr als 100 000 $ Schulden (in Form von Hypotheken) besitzt, ist auf Kredite angewiesen. Es ist dort normal, dass man auf Pump lebt. Im Gegensatz dazu gehört China als aufstrebende Wirtschaftsnation eher zu den vorsichtigen Ländern. Die Chinesen haben ihr Geld auf die hohe Kante gelegt und es – statt es im eigenen Land zu investieren – an Nationen wie die USA verliehen. Das ermunterte die Amerikaner dazu, immer schön weiter Kredite aufzunehmen. Irgendwann brach das gigantische Kartenhaus zusammen, und zwar mit einem weltweiten Knall.
„Dieses Buch handelt nicht vom Niedergang Amerikas, sondern vom Aufstieg der Anderen.“
Die Finanzkrise ist vor allem deshalb so schlimm, weil sie im kapitalistischsten Land der Welt ausgebrütet wurde. Der Kapitalismus ist aus dem Kalten Krieg als siegreiches Wirtschaftssystem hervorgegangen und hat weltweit die aufstrebenden Nationen umgarnt, gelockt und gewonnen. Und jetzt so etwas: Der Kapitalismus frisst seine Kinder! Die Krise kann in einer globalisierten Wirtschaft nur durch eine gemeinsame Anstrengung der vernetzten Nationen – mit teilweise sehr unterschiedlichen politischen Systemen – gelöst werden. Das birgt auch Chancen: Wenn alle miteinander vernetzt und voneinander abhängig sind, kann keiner ausscheren und sein eigenes Ding machen. Wirtschaftlicher Aufschwung und friedliches Miteinander bedingen sich gegenseitig.
Der Siegeszug des Westens
In der Geschichte gab es bisher drei große Machtverschiebungen. Im 15. Jahrhundert kam es zum Aufstieg der westlichen Welt, befördert durch Wissenschaft und Entdeckungen. China hätte bereits im 15. Jahrhundert eine der größten Seefahrernationen der Welt werden können: Die Kaiser der Ming-Dynastie bauten Schiffe, gegen die die Santa Maria von Christoph Kolumbus wie eine Nussschale gewirkt haben muss. Aber dann gab es einen Politikwechsel: Die Chinesen igelten sich ein, verbrannten ihre Schiffe und untersagten sogar jede Bemühung, das Meer zu befahren. Ihre Kultur stagnierte, sie fielen in einen Dornröschenschlaf und überließen es dem Westen, die großen Entdeckungen der Neuzeit zu machen und auszubeuten. Europa unterschied sich von Asien auch in der politischen Organisation: Hier gab es in der frühen Neuzeit bereits unzählige Stadtstaaten, Herzogtümer, Republiken, Königreiche, die alle ihr eigenes Süppchen kochten und miteinander in Konkurrenz standen. Wer in einem Fürstentum schlecht behandelt wurde, zog einfach weg. Wer an einem Ort seine Erfindungen nicht machen konnte, folgte den Verlockungen der Konkurrenz. In China und Indien gab es dagegen eine Zentralgewalt, die nötigenfalls auch befehlen konnte, dass die Uhren rückwärts gehen. So etwas unterband jede Innovation und jeden Forschergeist.
„Im Verlauf der letzten 20 Jahre begaben sich etwa zwei Milliarden Menschen in die Welt der Märkte und des Handels – eine Welt, die bis vor kurzem einem kleinen Klub westlicher Länder vorbehalten war.“
Im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es zum Aufstieg der USA zur unangefochtenen Nummer eins der Welt. Jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, erleben wir den Aufstieg der anderen Nationen, die bislang wirtschaftlich eher im Schatten standen. Was sind das für Nationen, die den USA zukünftig den Rang ablaufen könnten? Wer sind diese Anderen, die ein postamerikanisches Zeitalter einläuten? Es sind Staaten wie China, Brasilien, Mexiko, Südkorea, Taiwan, Indien, Argentinien, Chile, Malaysia und Südafrika. Von einem asiatischen Jahrhundert zu sprechen, wäre genauso falsch, wie vom Untergang der USA zu reden. „Postamerikanisch“ bedeutet nicht, dass die USA gänzlich in die Bedeutungslosigkeit absinken. Aber Entscheidungen auf geopolitischer Ebene werden sich künftig nur noch im Konzert mit den Anderen treffen lassen.
Der Aufstieg der Anderen
Zwischen 2000 und 2007 erlebte die globale Wirtschaft einen Boom, der die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen 40 Jahre locker in den Schatten stellte. Trotz aller Kriege und terroristischen Attentate, trotz des Traumas des 11. Septembers 2001, des Irakkriegs, des Gaza-Konflikts usw. ist das weltweite Pro-Kopf-Einkommen jährlich so stark gewachsen wie nie zuvor. Auch wenn uns das Fernsehen etwas anderes erzählt, weil es von schlechten Nachrichten lebt, befinden wir uns derzeit in einer besonders ruhigen und friedlichen Epoche der Geschichte. Diese Rahmenbedingungen machen den Aufstieg der Anderen besonders wahrscheinlich.
„Seit den frühen 80er Jahren verbrauchten die Amerikaner mehr, als sie produzierten – und sie schlossen die Lücke, indem sie Kredite aufnahmen.“
Noch vor dem Fall der Berliner Mauer haben sich aufstrebende Nationen für einen politischen Kurswechsel entschieden und den Kapitalismus oder ihre persönliche Variante davon gewählt. Immer mehr ausländische Studenten kamen an westliche Universitäten und kehrten dann in ihre Länder zurück, um ihr marktwirtschaftliches Wissen in die Tat umzusetzen. Mit dem frei flottierenden Kapital ohne feste Wechselkurse kam in den 70er und 80er Jahren das finanzielle Schmiermittel in die Welt, das ein grenzenloses Kapitalangebot ermöglichte. Die Gründung unabhängiger Zentralbanken und die erfolgreiche Bekämpfung der Inflation führten zu einem stabileren Finanzsystem. Schließlich sorgte die Technologie dafür, dass die Erde „flach“ wurde: Via Internet wurden Informationen weltweit verfügbar. Auch Preise sind Informationen – und so sprang die Outsourcing-Maschinerie an. Logistik und Prozessmanagement führten dazu, dass Kleider, Hosen, Schuhe und Spielzeug heute made in China und Dienstleistungen made in India sind. Das indische Bollywood hat in Sachen Größe sein Vorbild, das amerikanische Hollywood, schon weit hinter sich gelassen.
„Amerika wird ökonomisch dem stärksten Konkurrenzdruck ausgesetzt sein, den es je erlebt hat.“
Mit dem Selbstbewusstsein der Anderen wächst auch deren Nationalstolz – der Nationalismus ist dann oft nicht weit. Aber man kann den neuen Wirtschaftsnationen ihre Unzufriedenheit kaum verübeln, wenn sie nach wie vor keinen Zugang zu internationalen Gremien wie dem UN-Sicherheitsrat haben, die immer noch durch die Großmächte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bestimmt werden.
China – der Herausforderer
Albert Speer jr. ist Architekt wie sein Vater. Doch anders als dieser, der für Hitler die Umgestaltung Berlins vorantreiben sollte, baut Speer jr. in Peking. Aus seiner Feder stammt der Boulevard von der Verbotenen Stadt zum Olympiapark, den China für die Olympischen Spiele 2008 anlegen ließ. Pekings Architektur ist das Symbol für ein Land, das die Gigantomanie in neue Dimensionen gerückt hat. 1978 produzierte China rund 200 Klimaanlagen. Knapp 20 Jahre später sind es 48 Millionen. Diese Entwicklung wurde im Dezember 1978 ausgelöst, als Parteichef Deng Xiaoping auf einer Zentralkomiteesitzung den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes forderte und den programmatischen Satz prägte, dass es egal sei, ob eine Katze weiß oder schwarz sei – solange sie Mäuse fange. Gut gesprochen und konsequent in die Tat umgesetzt: Heute hat China 400 Millionen Arme weniger, das Einkommen der Bevölkerung hat sich versiebenfacht und das Wirtschaftswachstum erreicht durchschnittlich knapp 10 % jährlich. Und das alles unter einem kommunistischen Regime mit zentraler Planung. So etwas dürfte eigentlich gar nicht funktionieren, und dennoch klappt es irgendwie. Die Regierung konnte Reformen rücksichtslos vorantreiben, ohne auf politische Gegenwehr zu treffen. Die Politik der kleinen Schritte, wie Pekings Wirtschaftsreformen genannt werden, funktioniert, auch wenn die Schritte teilweise winzig sind: Nach wie vor sind 34 der 35 größten Aktiengesellschaften, die an der Shanghaier Börse notiert sind, teilweise oder komplett in staatlicher Hand.
„Eine Dritte Welt im strengen Sinne gibt es eigentlich nirgendwo mehr.“
Der Aufschwung hat natürlich seine Schattenseiten. Die Umwelt leidet unter der massiven Modernisierung der chinesischen Industrie. Von den rund 560 Millionen Chinesen, die in Großstädten leben, atmet nur 1 % gesundheitlich unbedenkliche Luft ein. 26 % der chinesischen Flüsse sind hochgradig verschmutzt. Neben der ökologischen wird auch die soziale Frage immer virulenter: Die Landflucht verändert das soziale Gefüge Chinas, der Verkehr nimmt exorbitant zu (um 26 % jährlich). Tiefgreifende politische Reformen gibt es noch nicht, aber mit dem höheren Einkommen wird sich auch die Ansicht der arrivierten Chinesen zum Regime ändern. Zudem wird die wirtschaftliche Entwicklung die Dezentralisierung fördern. So gut wie alle Länder, die sich zu marktwirtschaftlichen Prinzipien bekennen, werden früher oder später demokratisch organisiert. Interessanterweise war es Karl Marx, der diesen Zusammenhang herstellte. Die politische Wirklichkeit gibt ihm Recht. Die Regierung in China möchte das zwar gern verhindern, muss aber bereits jetzt kleinere Zugeständnisse machen.
Indien – der Verbündete
Die Hochrechnungen sprechen für Indien: Noch ist es wirtschaftlich gesehen Chinas kleiner Bruder, aber in naher Zukunft könnte das Land ein echter Überflieger werden. Wenn sich der derzeitige wirtschaftliche Aufschwung fortsetzt, wird Indien 2020 die Wirtschaftsleistung Großbritanniens erreichen und 20 Jahre später die weltweite Nummer drei sein. Prognosen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen, aber bereits heute tut sich viel in dem Land, in dem die meisten asiatischen Millionäre und gleichzeitig 40 % aller Armen weltweit wohnen. Indien hat viele gut ausgebildete junge Leute: Einen drohenden Engpass an „Humankapital“, wie ihn China mit seiner Ein-Kind-Politik herbeigeführt hat, wird es dort nicht geben.
„Amerika veränderte die Welt nicht nur dank seiner Macht, sondern auch dank seiner Ideale.“
Eines der wichtigsten Argumente für Indien ist die englische Sprache, die als Relikt der Kolonialherrschaft dem Land heute Bildung und Anschluss an westliches Know-how gewährt. 50 % des Bruttoinlandsprodukts werden im Dienstleistungssektor erwirtschaftet. Indien besitzt eine alte Demokratie mit allen wichtigen demokratischen Instanzen – zumindest in der Theorie, denn Korruption und Mittelverschwendung nagen an den Grundlagen des Staates. Das Verhältnis zwischen den USA und Indien ist sehr positiv: Die derzeitige Nummer eins der Welt genießt bei über zwei Dritteln der Inder großen Respekt. Umgekehrt ist es genauso.
Was wird aus den USA?
Während sich China und Indien – die Prototypen der Anderen – auf dem Vormarsch befinden, haben sich die Konturen der amtierenden Wirtschaftsnation Nummer eins verwischt. Zwar sind die USA lange nicht so schlecht, wie sie gern dargestellt werden – die Ausbildungsquote z. B. von Ingenieuren im Vergleich mit China und Indien wurde in den Medien oft verfälscht. Dennoch wird sich das Land auf eine neue globale Aufgabe vorbereiten müssen. Eine Supermacht ist Amerika immer noch: wirtschaftlich, politisch und vor allem militärisch. Treten die USA in Verhandlungen mit anderen Nationen, fühlen diese sich noch immer, als seien sie tributpflichtige Vasallen. Das zeugt vom Einfluss, den die USA nach wie vor haben, aber auch von ihrer Arroganz im Umgang damit.
„Offenheit ist letztlich Amerikas große Stärke.“
Die USA müssen an ihrer Wirkung auf andere Nationen arbeiten, nur dann wird ihre Führungsrolle auch mit Respekt belohnt werden. Das internationale Ansehen der USA wird die zukünftige Rolle der Supermacht in der Welt bestimmen. Der US-Präsident sollte versuchen, zu allen Regierungen gute Beziehungen aufzubauen, um schließlich Dreh- und Angelpunkt bei der Lösung von Konflikten zu werden. Keine säbelklirrende Powernation also, sondern Vermittler, Konfliktlöser und Mediator.