Die Stimmen von Marrakesch

Buch Die Stimmen von Marrakesch

Aufzeichnungen nach einer Reise

München, 1968
Diese Ausgabe: Hanser,


Worum es geht

Schillernde Mo­men­tauf­nah­men

Die Eindrücke einer Reise nach Marrakesch im Jahr 1954 ve­r­ar­beit­ete Elias Canetti zu lit­er­arischen Im­pres­sio­nen. In immer neuen Versuchen fängt er den flüchtigen Charme Marrakeschs ein: das Stim­mengewirr der far¬benprächtigen Märkte, ori­en­tal­is­che Gerüche, Kameltreiber, Straßenverkäufer, Bettler und Blinde – all das findet Eingang in diese wie hinge­tuschten Skizzen einer Stadt. Herzstück der Im­pres­sio­nen ist der Besuch im jüdischen Viertel; dort fühlt sich Canetti, der als jüdischer Autor aus Wien fliehen musste, wie an einem lang ersehnten Ziel. Der Autor hatte vor seiner Abreise nach Marrakesch bewusst nichts über das Land gelesen, er wollte die Stadt ohne Vorbehalte mit all seinen Sinnen aufnehmen und ganz mit dem Fremden ver­schmelzen. In den Bildern, die er zeichnet, zeigt er Marrakesch in all seiner Schönheit und auch seiner Hässlichkeit. Sein ungewöhnlicher Blick erfasst, was sich hinter der wahrnehm­baren Wirk­lichkeit verbirgt. So wurde dieses Buch auch die poetische Ethnografie einer Stadt und ist damit auf­schlussre­icher als so manche wis­senschaftliche Studie. Wenngleich Die Stimmen von Marrakesch lediglich als Nebenwerk in Canettis Œuvre gelten, so attestieren Lit­er­aturkri­tiker diesem Reise­bericht dennoch, dass es das persönlichste Buch des Autors sei.

Take-aways

  • Die Stimmen von Marrakesch sind die zu einem lit­er­arischen Werk ve­r­ar­beit­eten Reiseer­fahrun­gen Elias Canettis.
  • Inhalt: Canetti unternimmt Streifzüge durch die Stadt Marrakesch: Auf dem Basar wird gefeilscht, blinde Bettler bitten um Almosen, Kamele werden zum Schlächter getrieben, und im jüdischen Viertel fühlt sich Canetti wie an einem lang ersehnten Ort angekommen.
  • Das Buch besteht aus 14 lose aneinan­derg­erei­hten lit­er­arischen Im­pres­sio­nen.
  • Canetti verfasste das Werk erst 14 Jahre nach seiner Reise nach Marrakesch.
  • Beim Schreiben stützte er sich in erster Linie auf seine Erin­nerun­gen. Seine Reiseno­ti­zen umfassten lediglich drei Seiten.
  • Vor allem die Begegnungen mit den Kamelen, die in der Stunde ihres Todes störrisch um ihr Leben kämpfen, beein­druck­ten ihn nachhaltig.
  • Der Kampf ums Überleben zieht sich als Leitmotiv durch das gesamte Buch.
  • Canetti vermeidet es, auf ori­en­tal­is­che Klischees zurückzugreifen. Er schildert vor­be­halt­los, relativ wertfrei und ohne jegliches Überlegen­heits­gefühl.
  • Der Lit­er­aturkri­tiker Marcel Re­ich-Ran­icki attestierte diesem un­ortho­doxen Reise­bericht ein größeres Maß an Reife und Weisheit als Canettis Hauptwerken.
  • Zitat: „Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Lande mehr versteht, was gesagt wird.“
 

Zusammenfassung

Ein tollwütiges Kamel

Gleich nach der Ankunft in Marrakesch geht Elias Canetti mit einem Freund zu einem Kamelmarkt. Doch die beiden kommen zu spät, denn statt der Kamele sind nur noch erbärmliche Esel zu sehen. Schließlich bemerken sie aber doch ein einzelnes Kamel in der Mitte des Platzes: Eines seiner Beine ist hochge­bun­den, und ein Strick ist ihm durch die Nase gezogen worden, zudem trägt es einen roten Maulkorb. Dem Mann, der das Kamel gegen dessen Willen am Strick fortziehen will, scheint das Tier nicht geheuer. Endlich erklärt man den Fremden die Umstände: Das Kamel habe die Tollwut und werde zum Schlachthaus geführt. Diese Begegnung beschäftigt den Erzähler und seinen Freund eine geraume Zeit, denn in Erwartung, einen ganzen Markt mit Kamelen zu sehen, haben sie lediglich ein einziges und zudem elendes Tier zu Gesicht bekommen, das in seiner letzten Stunde um sein Leben kämpft.

Karawane im Abendrot

Ein andermal erblickt der Erzähler im abendlichen Rot eine Kamelka­rawane am Fuß der Stadtmauer. Zwischen den niederknien­den und wiederkäuenden Tieren gehen Männer mit Turbanen umher. Canetti kommt es so vor, als hätten die Kamele menschliche Gesichter; sie erinnern ihn an alte englische Damen, die würdevoll und scheinbar gelangweilt gemeinsam den Tee einnehmen und dennoch ganz von der ihnen eigenen Bosheit durch­drun­gen sind. Auch diese Tiere blicken dem Tod entgegen: Sie sind aus dem fernen Süden des Landes hi­er­hergekom­men, um geschlachtet zu werden.

„Die Luft um das Kamel war von Angst geladen; am meisten Angst hatte es selbst.“ (S. 6)

Einem weiteren Kamel wurde auf brutale Weise ein Strick durch die Nasenwand gezogen, an dem ein furchter­re­gen­der Mann das Tier hinter sich herzerrt. Nase und Strick sind blutrot verfärbt. Auch dieses Tier wehrt sich nach Kräften, weil es riecht, dass seine letzte Stunde naht. Denn der Mann ist ein Schlächter und verströmt den Geruch von Kamelblut. Canetti erträgt den Anblick des leidenden Kamels nicht mehr länger und schleicht sich vom Platz.

Auf dem Basar

Die Farben und Gerüche in den Suks sind überwältigend. Händler, die gleiche Waren anbieten, haben ihre Buden jeweils nebeneinan­der. Sie scheinen organisiert wie Gilden. So gibt es einen Basar für Gewürze, einen für Seile, einen für Teppiche, und jeder ist wie eine eigene kleine Stadt. Besonders angetan ist Canetti von den Taschen. Selb­st­be­wusst entfalten sie ihre Pracht; Canetti wäre gar nicht weiter verwundert, wenn sie vor seinen Augen anfingen, sich rhythmisch zu bewegen. Dann aber entdeckt er unter all den erhabenen Waren auch welche, die nicht von Hand, sondern maschinell hergestellt wurden.

„Man findet alles, aber man findet es immer vielfach.“ (über den Basar, S. 19)

Die Händler sitzen inmitten ihrer Waren und scheinen mit ihnen eins zu werden. Fasziniert ist Canetti von der lei­den­schaftlichen und geheimnisvollen Kunst des Feilschens. Den Rat, den Preis auf ein Drittel herun­terzuhan­deln, erkennt er als eine jener schalen All­ge­mein­heiten, mit denen Leute abgefertigt werden, die dieser Prozedur des Handelns nichts abzugewin­nen wissen. Denn gerade das haltlose Hin und Her ist erwünscht, die Argumente für und gegen einen Preis werden lustvoll vom Händler her­vorge­holt. Mit überzeu­gen­der Bered­samkeit, mit der man die Entschlossen­heit des Gegners aufweicht, mit Argumenten, die Hohn erwecken oder gar ins Herz treffen, mit un­berechen­baren Abläufen und ent­waffnen­dem Charme ist dieses Spiel zu spielen.

Ruf der Blinden

Canetti reflektiert auf seiner Reise die Bedeutung von Sprache. Man nimmt etwas auf, versteht es aber nicht, dennoch bleibt eine Substanz zurück, deren Sinn sich einem allmählich erschließt. Es gibt etwas, was jenseits der Worte liegt, was tiefer und mehrdeutiger ist. In Marokko will sich Canetti ganz den Lauten hingeben, ohne deren Sinn enträtseln zu müssen, sich von ihnen treffen lassen, ohne dass die Suche nach einer Bedeutung dieses Gefühl schmälern würde. Er will sich ohne jegliche Kenntnisse auf dieses Land einlassen. Dies fällt ihm ein, als er die Blinden auf dem Platz Djemaa el Fna sieht. Hunderte rufen hier für ein Almosen Allah an, indem sie wundersame akustische Verschnörkelungen um das Wort schlingen. Man sagt, dass die Armen 500 Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen, weshalb man ihnen durch ein Almosen etwas von ihrem Paradies abkauft.

Der Speichel des Marabu

Canetti reicht einem in Lumpen gekleideten blinden Bettler eine Münze, die dieser im Mund ver­schwinden lässt, um sie kurze Zeit später samt Speichel in seine Hand zu spucken und in seine Tasche zu packen. Zunächst voller Ekel, dann aber neugierig beobachtet Canetti diesen Vorgang noch mehrere Male. Ein Verkäufer erklärt ihm schließlich, dass es sich um einen Marabu handle, einen heiligen Mann mit besonderen Kräften. Da fällt Canetti auf einmal auf, dass er in seinem Staunen und Unverständnis die Neugier der Umstehenden geweckt hat. Eine Woche später trifft er wieder auf den Marabu und gibt ihm erneut eine Münze. Ein Mann erklärt ihm, dass der Marabu durch das Kauen der Münze spüre, wie viel man ihm gegeben habe. Der Marabu spricht sechsmal ein Gebet für Canetti, und niemals zuvor hat dieser eine solche Fre­undlichkeit und Wärme gespürt.

Besuch im jüdischen Viertel

In der Mellah, dem jüdischen Viertel, ist Canetti fasziniert von der Ver­schiedenar­tigkeit der Gesichter: Manch einer sieht aus wie ein Araber, ein anderer wie ein katholis­cher Priester, einer gar wirkt in seiner Besser­wis­serei wie Goebbels, wieder andere sehen aus wie rötliche Russen. Hier haben sich offenbar viele ver­schiedene Seelen ihre Körper ausgesucht, und Canetti kommt der Gedanke an See­len­wan­derung. Vielleicht muss jede Seele eines Menschen einmal zum Juden werden? Trotz der Ver­schieden­heit des Aussehens verbindet die Leute etwas miteinander. Alle sind in ihrer ver­meintlichen Abwesenheit hellwach, davon zeugen die in­tel­li­gen­ten Blicke, die Canetti von überall her zugeworfen werden: Blicke von Menschen, die immer auf der Hut sind. Canetti begibt sich immer tiefer hinein ins Viertel; der Reichtum der Waren weicht nun ärmlicheren Auslagen. Schließlich gelangt er zu einem kleinen Platz, dem Herz des Viertels, und ihm kommt es vor, als sei er am Ziel einer Lebensreise angelangt, als sei er vor Hunderten von Jahren schon hier gewesen und erinnere sich nun wieder. Auf einem jüdischen Friedhof wird er von armseligen Bettlern bedrängt, einer stürzt sich gar auf ihn. An diesem Menschen war nichts Mitlei­der­re­gen­des, sondern nur die blanke Forderung, ihm etwas zu geben.

Ein Besuch mit Folgen

Am nächsten Tag gelingt es Canetti endlich, einmal ein Haus der Mellah von innen zu sehen. Das erste und vermutlich beste Zimmer im Haus der Familie Dahan, in das man ihn bringt, ist ganz nach europäischem Geschmack ein­gerichtet. Dort begegnet er einer frisch vermählten jungen Braut. Er überlegt sich, ob sie ihn mit ihrem Gemahl vergleicht und wer bei diesem Vergleich wohl besser abschneidet. Ihr jüngerer Bruder Élie bietet sich als Führer durch die Stadt an, aber Canetti vertraut lieber auf seine eigenen Erkundungen. Élie sucht dringend eine Ar­beitsstelle, und Canetti soll für ihn einen Brief an den amerikanis­chen Lagerkom­man­dan­ten schreiben. Der Blick ins Innere des Hauses, der ihm gewährt wurde, verlangt also nach einer Belohnung; Canetti soll sich für die Leute bei einem ihm fremden Kom­man­dan­ten einsetzen. Wie nur findet er aus dieser Zwickmühle wieder heraus? Die An­gele­gen­heit zieht sich hin, schließlich beschafft Canetti den Brief, der jedoch den Ansprüchen des Bittstellers nicht genügt: Die Adresse von Canettis Hotel müsse noch drauf, und drei Abschriften will er haben.

Erzähler und Schreiber

Auf dem Platz Djemaa el Fna bilden die Zuschauer Ringe um die Geschicht­en­erzähler. Gebannt hängen sie an den Lippen derer, die voller Kraft die Worte hervorstoßen. Wenngleich Canetti die Erzähler nicht versteht, so begreift er doch, dass die Sprache ihnen genauso wichtig ist wie ihm selbst. Worte sind ihre Nahrung, und Canetti betrachtet fasziniert, wie sie mit diesem Machtin­stru­ment umgehen. Stolz erkennt er, dass auch er mit seinen Worten Menschen versammeln kann. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Canetti nicht von Ort zu Ort zieht, sondern nieder­schreibt, was er zu sagen hat. Er bewegt sich im Schutz von Tischen und Türen, während die Erzähler im Gewühl des Marktes leben, von keinem Wissen belastet, gänzlich ohne Bücher und Ehrgeiz. Nur wenige Schritte weiter stößt Canetti auf die Zunft der Schreiber. Hier zählt einzig die stille Würde des Papiers. Canetti beobachtet eine vierköpfige Familie, die feierlich vor einem Schreiber sitzt. Dieser nimmt ihren Respekt entgegen, hört aufmerksam zu und überlegt sich wohl in Gedanken schon, wie sich das Gehörte in Worte fassen lässt. Canetti sinniert darüber, was so wichtig sein kann, dass es die Anwesenheit der ganzen Familie erfordert.

Lebenskraft

Das Restaurant, in dem Canetti regelmäßig speist, wird von bettelnden Kindern umlagert, die ihm inzwischen ans Herz gewachsen sind. Der Restau­rantbe­sitzer aber, ein selbstgefälliger Franzose, mag die Kinderschar nicht leiden. Er zweifelt die Ehrhaftigkeit so mancher jungen Bettlerin an und gibt einige Zoten zum Besten.

„Denn zur Verödung unseres modernen Lebens gehört es, dass wir alles fix und fertig ins Haus und zum Gebrauch bekommen, wie aus hässlichen Za­uber­ap­pa­raten.“ (S. 21)

Eines Nachts stößt Canetti auf eine Men­schenansamm­lung. Die Leute umringen einen Mann mit einem Stock in der Hand, der ein­dringlich auf einen Esel einspricht. Er will das Tier offenbar zu etwas überreden, doch dieses bleibt störrisch. Nach einer Weile dreht sich der Esel im Kreis und der Mann mit ihm. Die Menschen biegen sich vor Lachen. Canetti ist sich sicher, dass der armselige Esel die Nacht nicht überleben wird. Das Geschöpf tut ihm leid – aber am nächsten Tag steht der Esel wieder auf dem Platz, diesmal ganz allein. Seine elende Knochengestalt tritt im Sonnenlicht noch stärker hervor. Plötzlich hängt dem Tier ein ungeheures Glied zwischen den Hin­ter­beinen herab. Angesichts dieser Lebenskraft im Elend ist Canetti wieder mit dem Schicksal versöhnt.

Scheherazade

In der Nähe des Djemaa el Fna gibt es eine kleine französische Bar namens Scheherazade. Nur Ausländer und wohlhabende Araber wagen sich dort hinein. Der Gegensatz zwischen dem Platz mit seinen Bettlern und dieser Kneipe könnte nicht größer sein: Während sie dort so gut wie kein Geld haben, kostet hier ein Gläschen Cognac 120 Franken; dort lauscht man arabischer Musik, hier legt die Inhaberin, Madame Mignon, die neuesten Schlager auf. Sie ist die Tochter eines Franzosen und einer Chinesin und unerschütterlich in ihren Vorurteilen. Ihr Mann, ein ehemaliger Frem­den­le­gionär, bringt die Kunden gern ins französische Bordell auf der anderen Straßenseite.

„Ich träume von einem Mann, der die Sprachen der Erde verlernt, bis er in keinem Lande mehr versteht, was gesagt wird.“ (S. 29)

Madame Mignon hat eine Freundin namens Ginette. Obwohl diese bereits mit einem jungen, her­aus­geputzten und eitlen Araber verheiratet ist, lebt sie ganz in der Erwartung, dass eines Tages jemand kommen und sie aus Marokko fortbringen wird. Das Paar erscheint Canetti äußerst rätselhaft, bis eines Tages Madame Mignon erzählt, was es mit dem seltsamen Gebaren der beiden auf sich hat: Der junge Gatte ist zwar der Sohn eines reichen Mannes, der aber hat ihn wegen der Ehe mit Ginette enterbt. Ginettes Vaters wiederum will nichts von ihr wissen, weil sie einen Araber geheiratet hat. Geld haben sie also keines, weswegen sie sich an einen Freund des jungen Gatten halten – den Sohn des örtlichen Machthabers –, der die beiden zur Pros­ti­tu­tion zwingt. Da man denkt, Canetti sei reich, bittet Madame Mignon ihn darum, Ginette von hier fortzubrin­gen.

Der Unsichtbare

In der Dämmerung geht Canetti auf den Platz, um nach einem Menschen zu suchen, der immer wie ein braunes Bündel auf dem Boden hockt und einen einzigen Laut – „ä-ä-ä“ – von sich gibt. Hinter der bunten Kakofonie des Platzes ist dieser Laut stets zu vernehmen. Canetti ist immer bang, wenn er sich auf die Suche nach dieser Stimme begibt. Es scheint, als würde das Wesen nur aus diesem einzigen Laut bestehen. Der braune, schmutzige Stoff ist wie eine Kapuze über den Kopf gezogen und hält das Geschöpf verborgen, das am Boden kauert. Würde das Bündel nicht den Laut von sich gegeben, würden die Menschen sicherlich darüberstolpern. In der Dunkelheit, wenn der Platz sich leert, liegt es da wie ein wegge­wor­fenes, altes Kleidungsstück. Canetti wartet nie darauf, ob sich jemand um dieses Bündel kümmert, er schleicht sich stattdessen jedes Mal mit gemischten Gefühlen davon. Er sieht auch nie, wie das Wesen die Münzen aufhebt, die man ihm hinwirft. Mehr als dieses „ä-ä-ä“ bringt es nicht heraus – vielleicht fehlt dem Geschöpf die Zunge, um das l in „Allah“ auszus­prechen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Einen chro­nol­o­gisch genauen Ablauf der Reise enthält Canetti dem Leser vor. Den 14 Kapiteln scheint auf den ersten Blick keine wohldurch­dachte Struktur zugrunde zu liegen: Dem Besuch des Kamel­mark­tes folgt die Schilderung des Basars; Reflexionen über das Schreiben werden abgelöst von der Beschrei­bung des Marabus, der Münzen kaut. Das Herzstück bildet das Kapitel „Besuch in der Mellah“, das in der Mitte der Reisebeschrei­bun­gen platziert ist. Das Buch reiht die fein ziselierten Bilder lose aneinander. Zusam­menge­hal­ten werden sie vom Ich-Erzähler, der allerdings zurückhaltend ist und mehrheitlich beobachtet. Unentwegt vernimmt er Laute und Stimmen, die vom unge­heuer­lichen Überleben­skampf in der Stadt zeugen. Die Stimmen ver­schmelzen zu einem Chorwerk, zu einer Polyfonie, die sich aus Rufen des Todes und der Lust, des Ekels und der Faszination zusam­mensetzt. Die Kapitel lassen sich zu Paaren zusam­men­fassen, die jeweils in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen. Die leichtfüßigen Szenen, die zunächst absichtslos hingetuscht wirken, bilden also ein wohlkom­poniertes Erzählwerk. Canetti lässt die Welten zwar aufeinan­der­prallen, am Ende schließt er jedoch den Bogen, der mit dem tollwütigen Kamel am Anfang aufgenommen wurde, mit dem geheimnisvollen Bündel.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Erzähler in den Stimmen von Marrakesch ist ein behutsamer Reisender: Statt vorzupreschen, wartet er, bisweilen unsicher und verlegen, auf eine Begegnung. Er tastet sich vorsichtig vor, dringt nicht ein und legt kein Überlegen­heits­gefühl an den Tag. Vielmehr akzeptiert er seine eigene Rat­losigkeit.
  • De­mentsprechend wertet er das Fremde nicht ab. In der Art, wie sich Canetti den fremden Eindrücken nähert und diese auf sich wirken lässt, zeigt sich der Kosmopolit. Er begegnet Unbekanntem mit Anteilnahme und Empathie. Eventueller anfänglicher Ekel weicht dabei manchmal echter Bewunderung.
  • Canetti widersetzt sich den ori­en­tal­is­chen Klischees, die sich in der westlichen Literatur oftmals finden und mit denen sich der Okzident in den vergangenen Jahrhun­derten vom Orient abzugrenzen versuchte. Dazu gehört das Mys­ti­fizierende, Zauberhafte ebenso wie die ras­sis­tis­che Abwertung des Ostens.
  • Grundsätzlich wohnt dem Buch ein Skep­tizis­mus gegenüber allem Künstlichen und Maschinellen inne; möglicher­weise war es Canettis Absicht, in Marrakesch auf die Suche nach dem Originären, von der Moderne Unberührten, dem Natürlichen zu gehen.
  • Eine wichtige Rolle im Text spielt das Kamel: Während es in der westlichen Literatur oftmals als Metapher für den Orient an sich dient und de­mentsprechend abgewertet wird, iden­ti­fiziert sich Canetti mit den gequälten Tieren.
  • Anders als mit dem Untertitel „Aufze­ich­nun­gen nach einer Reise“ angedeutet wird, ist das Buch kein Reise­bericht im üblichen Sinn, sondern eine Sammlung skizzen­hafter Erin­nerungsstücke, die Canetti erst 1968, also 14 Jahre nach der Reise, veröffentlichte. Mit nachträglich er­ar­beit­eten Mo­men­tauf­nah­men der Stadt versuchte er, den Charme Marrakeschs einzufangen.
  • Alles kreist um das Thema Überleben: das Kamel in seiner Todesstunde, die rufenden Bettler oder das geheimnisvolle Bündel auf dem Platz Djemaa el Fna. Möglicher­weise ist dies als Hinweis auf die Schoah zu verstehen, auf den Kampf ums Überleben als jüdisch-deutscher Schrift­steller.

His­torischer Hintergrund

Das Ende des Kolo­nial­is­mus in Marokko

Mitte des 19. Jahrhun­derts stritten sich Spanien und Frankreich um Marokko. Gegen Ende des Jahrhun­derts konnte Frankreich seine Macht­po­si­tion ausbauen, und Marokko wurde 1912 schließlich französisches Protektorat. Der alte Sultan Mulai Abd al-Hafiz wurde durch einen neuen ersetzt, seinen Bruder Mulai Yusuf, der Frankreich genehm war. Auf ihn wiederum folgte 1927 dessen Sohn Muhammad V. als Sultan. Er arbeitete zunächst mit den Franzosen zusammen, sprach sich aber 1947 offen für die Unabhängigkeit seines Landes aus, woraufhin er 1953 zur Abdankung gezwungen und ins Exil gebracht wurde. Zwei Jahre später kehrte er jedoch nach Marokko zurück, und im Folgejahr erlangte das Land die Unabhängigkeit von Frankreich.

Während des Sultanats von Muhammad V. war Thami El Glaoui, der auch in Canettis Reise­bericht erwähnt wird, Pascha von Marrakesch. Für die Franzosen sollte er ein Garant für ihre Einflusssphäre sein. Der Berber El Glaoui sicherte sich die Herrschaft über Südmarokko, er ging mehrfach militärisch gegen den Sultan vor und war an dessen Absetzung maßgeblich beteiligt. Doch die marokkanis­che Unabhängigkeits­be­we­gung war letztlich stärker, und 1956 musste sich El Glaoui dem Sultan unterwerfen.

Entstehung

Nach Kriegsende 1945 war Canettis vor­dringliches Ziel die Fer­tig­stel­lung seines Hauptwerks Masse und Macht. Anderen Werken widmete er sich nur nebenbei. Seine dreiwöchige Reise nach Marrakesch unternahm Canetti im Frühjahr 1954 auf Einladung seines Freundes, des Film­pro­duzen­ten Aymer Maxwell, dessen Filmteam er begleiten sollte. Er wusste bis zu diesem Zeitpunkt nur wenig über Marokko und war bestrebt, sich vor­be­halt­los auf die Eindrücke des Landes einzulassen. Ähnlich wie schon in dem au­to­bi­ografis­chen Text Die gerettete Zunge schrieb Canetti in Die Stimmen von Marrakesch die ve­r­ar­beit­eten Eindrücke einer ihm fremden Kultur nieder.

Canetti nahm sich Zeit und beobachtete die Menschen in Marokko ohne jeglichen Hochmut. Mit dieser Haltung begegnete er sogar der gewalttätigen Seite des Landes, die er im Umgang mit Tieren, ins­beson­dere mit Kamelen, erlebte. Auch mit dem un­ter­schwellig aufkeimenden Rassenhass, den viele Ein­heimis­che aufgrund ihrer un­ter­schiedlichen Herkunft empfanden, machte Canetti Bekan­ntschaft; im Buch drückt sich diese Rassendiskri­m­inierung besonders deutlich in der Rede des französischen Restau­rantbe­sitzers aus, der die von Canetti so geliebten Bet­telkinder als „Kokotten“ abwertet.

In der fremden Welt, die Canetti in Marrakesch entdeckte, fand er, der schon in Manchester, Wien, Zürich, Frankfurt und London gelebt hatte, das Flair seines bul­gar­ischen El­tern­hauses genauso wieder, wie er auch auf die span­iolisch-jüdischen Wurzeln seiner Vorfahren traf. Welche Bedeutung die Reise nach Marrakesch für Canetti haben musste, lässt sich auch einem Text aus seinen Aufze­ich­nun­gen entnehmen. In Die Provinz des Menschen schrieb er 1956: „Den Rest des Lebens nur an ganz neuen Orten verbringen. Die Bücher aufgeben (...) In Länder gehen, deren Sprache man nie erlernen kann (...) Schweigen, schweigen und atmen, das Un­be­grif­f­ene atmen.“ Die Mar­rakesch-Reise nimmt in Canettis Notizen nur gerade drei Seiten in Anspruch. Für die Erstellung des Werks war Canetti also vor allem auf seine Erinnerung angewiesen.

Wirkungs­geschichte

Lit­er­aturkri­tiker sehen Canetti mit seiner flanieren­den Erzählerfigur heute in der Tradition Walter Benjamins und Franz Hessels, die den Flaneur zur Lebensform stil­isierten. Wenngleich die Sekundärliteratur eher mager ausfällt und Die Stimmen von Marrakesch als Nebenwerk Canettis gelten, loben Lit­er­aturkri­tiker diesen Reise­bericht für seine Un­verkrampftheit und Gelassen­heit, für das Mitleid ohne Sen­ti­men­talität, für die Ehrfurcht vor dem Unbekannten und Fremden.

Marcel Re­ich-Ran­icki attestierte dem Werk sogar mehr Reife und Weisheit als Canettis anderen Büchern. Und Eberhardt Horst schätzte in der Neuen Frankfurter Rundschau besonders den Verzicht des Autors auf das Zurecht­biegen des Gesehenen nach mit­ge­brachtem Vorurteil.

Über den Autor

Elias Canetti wird am 25. Juli 1905 in Rustschuk in Bulgarien geboren. Beide Elternteile stammen aus Span­iolen­fam­i­lien, jüdischen Auswan­der­ern aus Spanien. Im Juni 1911 zieht die Familie nach Manchester, wo Elias, der noch zwei jüngere Brüder hat, zur Schule geht. Im Oktober des Jahres 1912 verstirbt der Vater überraschend. Die Mutter zieht mit ihren Kindern über Paris und Lausanne nach Wien. Hier erlebt Canetti, der erst jetzt die deutsche Sprache lernt, die allgemeine Begeis­terung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1916 zieht die Familie abermals um: In Zürich fühlt sich Canetti so wohl, dass er es als „Vertreibung aus dem Paradies“ empfindet, als die Familie 1921 nach Frankfurt umsiedelt. Er kehrt drei Jahre später nach Wien zurück, studiert Chemie und promoviert 1929. Während des Studiums lernt er seine spätere Frau Veza Taub­ner-Calderon kennen und wird ein begeis­terter Anhänger des Dichters und Kritikers Karl Kraus. In dieser Zeit reift seine Idee, ein Buch über das Phänomen der Masse zu schreiben. Der Roman Die Blendung entsteht 1931, wird aber erst 1936 veröffentlicht. In Wien schreibt Canetti auch Theaterstücke wie Die Hochzeit und die Komödie der Eitelkeiten. Nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich emigriert er 1938 über Paris nach London. Hier nimmt er die Arbeit an Masse und Macht wieder auf, wohl auch unter dem Eindruck des Na­tion­al­sozial­is­mus. Veröffentlicht wird das Werk aber erst lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1960. Zunächst mehr oder weniger unbekannt, macht Canetti langsam von sich reden, mit seinem Reise­bericht Die Stimmen von Marrakesch (1956), mit Aufsätzen und Essays und schließlich mit seiner Au­to­bi­ografie in drei Bänden: Die gerettete Zunge (1977), Die Fackel im Ohr (1980) und Das Augenspiel (1985). Die zahlreichen Preise, die ihm in den 70er und 80er Jahren verliehen werden, werden gekrönt durch den Lit­er­aturnobel­preis 1981. Elias Canetti übersiedelt 1972 erneut nach Zürich, zu seiner neuen Frau Hera, mit der er auch ein Kind hat. Er stirbt am 14. August 1994.