Der Geisterseher

Buch Der Geisterseher

aus den Papieren des Grafen von O.

Leipzig, 1787–1789
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Ein Mys­tery­thriller im 18. Jahrhundert

Verworrene Intrigen, korrupte Kardinäle, eine düstere Geheimge­sellschaft im dekadenten Venedig und eine Zaubershow, wie sie David Copperfield nicht besser hätte inszenieren können: Wer Friedrich Schillers Geis­terse­her gelesen hat, dem werden die Donna Leons und Dan Browns unserer Zeit wie ein billiger Abklatsch des Meisters erscheinen. Der große Volks­dichter der Deutschen zeigte sich mit diesem brillanten Thriller von seiner modernsten Seite: als Beruf­ss­chrift­steller, der sein zahlendes Publikum nicht nur erbauen, sondern vor allem gut unterhalten musste. Von wegen moral­isierend, humorlos und pathetisch: Der Roman ist ein virtuoses Spiel um Schein und Sein und so fesselnd geschrieben, dass man rückblickend fast Mitleid mit Schillers Zeitgenossen hat – die spannte er nämlich immer am Ende der drama­tis­chsten Szenen mit der süffisanten Ankündigung auf die Folter: „Fortsetzung folgt im nächsten Heft.“ Zwei Jahre ging das so, bis der Autor entnervt das Handtuch warf. Er wollte und konnte nicht mehr weitererzählen. Für ihn war das Projekt zur „Farce“ geworden. Selten hat Schiller mit einer Einschätzung so daneben­gele­gen.

Take-aways

  • Vom Publikum geliebt, vom Autor gering geschätzt: Der Roman Der Geis­terse­her war Schillers erster und letzter Verkauf­ss­chlager.
  • Inhalt: Ein protes­tantis­cher Erbprinz wird in Venedig Opfer einer politischen Intrige. Es treten auf: Geister und ihre Beschwörer, ein zwielichtiger Geheimbund und eine göttliche Schönheit. Der Prinz verfällt einem Lockvogel, ruiniert sich finanziell und überwirft sich mit seiner Familie. Am Ende wird er katholisch.
  • Die Moral: Vernunft ist nicht alles. Ganzheitlich leben heißt, das Schöne, Wahre und Gute zu erkennen.
  • Im Schatten der Aufklärung gedieh Ende des 18. Jahrhun­derts der Okkultismus prächtig. Scharlatane hatten Hochkon­junk­tur.
  • Die Erzählung erschien 1787–1789 in der Zeitschrift Thalia und begründete das Genre des Fort­set­zungsro­mans.
  • Schiller ve­r­ar­beit­ete viele aktuelle Ereignisse, Personen und Verschwörungs­the­o­rien und gab die Erzählung als die echten Memoiren eines Grafen aus.
  • Jede neue Folge war ein gesellschaftliches Großereignis. Die Menschen flehten Schiller an, weit­erzuschreiben.
  • Dieser aber hielt den Roman für eine „Schmiererei“ und weigerte sich schließlich, ihn zu Ende zu bringen.
  • Heute gilt das Werk als Wegbereiter des modernen Krim­i­nal­ro­mans.
  • Zitat: „Wollen Sie lieber ein Wunder glauben, als eine Un­wahrschein­lichkeit zugeben?“
 

Zusammenfassung

Maskerade in Venedig

Der Graf von O. besucht zum Karneval einen Kameraden aus Kriegszeiten in Venedig. Der Prinz von * führt in der La­gunen­stadt unerkannt ein beschei­denes und genügsames Leben. Als dritter Erbprinz hat er kaum Aussicht darauf, die Regierungsver­ant­wor­tung zu übernehmen, und die geringen Zuwendungen des Hofes verunmöglichen ihm ein standesgemäßes Auftreten. Eines Tages folgt den Freunden ein Mann, der eine Maske trägt und gekleidet ist wie ein Armenier. „Wünschen Sie sich Glück“, sagt dieser un­ver­mit­telt zum Prinzen, „um neun Uhr ist er gestorben.“ Sechs Tage später erreicht den Prinzen die Nachricht, dass sein Cousin, der Erbprinz, vor sechs Tagen, abends um neun Uhr verstorben sei. Kurz darauf nähert sich der Armenier dem Prinzen wieder. Er sei erkannt, flüstert er ihm zu, drei Adlige der Republik erwarteten ihn, um ihn in allen Ehren zu empfangen. Am folgenden Abend gerät der Prinz in einem Kaffeehaus mit einem reichen Venezianer aneinander. Es kommt zur Schlägerei. Die Ausländer im Saal sind sich einig, dass das Leben des Prinzen in Gefahr ist und er schleunigst die Stadt verlassen sollte. Doch die Staatsin­qui­si­tion kommt ihm zuvor und führt den Grafen und den Prinzen mit verbundenen Augen in ein dunkles Verlies. Dort köpft man den Venezianer kurzerhand, um dem Prinzen Genugtuung zu verschaffen. Der Prinz fällt vor Schreck in Ohnmacht.

Die Totenbeschwörung

Während einer Spazier­fahrt besuchen der Graf und der Prinz einen Jahrmarkt. Eine Tänzerin hält plötzlich inne, ruft: „Ein König ist unter uns“, und legt dem Prinzen eine Krone vor die Füße. Als der Prinz später eine Schnupftabak­dose, die er an einer Losbude gewonnen hat, öffnet, erbleicht er: Darin liegt der verloren geglaubte Schlüssel zu seinem Safe. Beim Abendessen in bunt gemischter Gesellschaft berichtet er von den geheimnisvollen Ereignissen. Seine Tis­chnach­barn tun diese als Taschen­spiel­erei ab. Ein Sizilianer fragt, ob der Prinz denjenigen erkennen würde, den er der Sache mit dem Schlüssel verdächtige. Der Prinz bejaht. Als der Sizilianer ihm einen Spiegel vors Gesicht hält, weicht der Prinz erschrocken zurück. Er hat den Armenier darin gesehen. Nun ist seine Neugierde geweckt. Er bittet den Sizilianer, ihm mehr von seiner Kunst zu zeigen, indem er den Geist eines im Krieg ver­stor­be­nen Freundes beschwören soll. Der Magier willigt ein, nicht ohne zuvor einige Details über den Freund zu erfragen. Die zehn Teilnehmer der Séance erhalten nach einiger Vor­bere­itungszeit den Befehl, sich rund um einen mit schwarzem Tuch behangenen Altar aufzustellen. Der Magier murmelt unverständliche Beschwörungen und befiehlt den hinter ihm Stehenden, ihn an den Haaren zu fassen. Elektrische Schläge, die auch die anderen Teilnehmer zu spüren bekommen, durchzucken ihn und er ruft den Namen des Ver­stor­be­nen. Es blitzt und donnert. Schließlich erscheint eine menschliche Gestalt, die dem Freund des Prinzen ähnlichsieht, in blutigem Hemd für kurze Zeit über dem Kamin. Noch bevor diese die Frage des Beschwörers beantworten kann, erbebt das Haus wieder, und eine neue Gestalt, noch grauen­voller als die erste, erscheint an der Türschwelle. Der Magier ist starr vor Schreck. „Dich hab ich nicht gewollt“, ruft er und zielt mit einer Pistole auf die Erscheinung. Die Kugel rollt auf den Altar. Der Sizilianer fällt in Ohnmacht. Der Prinz erkennt in der zweiten Gestalt seinen ver­stor­be­nen Freund und hört dessen Prophezeiung, dass er in Rom die Antworten auf seine Fragen finden werde. Mit Rauch und Don­ner­schlag ver­schwindet die Erscheinung. Am Morgen erwacht der Magier, blickt einen der Teilnehmer an und stürzt schreiend vor dessen Füße. Es ist der Armenier!

Geister aus Fleisch und Blut

Schon treten Gerichts­di­ener die Tür ein und wollen alle Anwesenden festnehmen. Aber der Armenier redet leise auf die Beamten ein, bis sie sich am Ende bereiterklären, nur den Sizilianer mitzunehmen. Im Haus finden sich versteckte Räume, eine Elek­trisier­mas­chine und Trommeln mit Bleikugeln. Einer der Häscher schießt zum Spaß in den Kamin. Da fällt ein Mann herunter, dem die Kugel das Bein zer­schmettert hat. Es handelt sich um einen Bettelmönch, der im Auftrag des Magiers dem ersten Geist seine Stimme geliehen hat.

„Nie in meinem Leben sah ich so viele Züge, und so wenig Karakter, so viel anlokkendes Wohlwollen mit so viel zurükstoßendem Frost in einem Men­schen­gesichte beisammen wohnen.“ (über den Armenier, S. 20)

Zurück in Venedig bemerkt der Prinz, dass einer seiner Jäger spurlos ver­schwun­den ist. Es heißt, die Pfaffen hätten ihn zum Katholizis­mus bekehrt. Als Ersatz wird ihm ein gewisser Biondello vorgestellt. Später besucht der Prinz den Sizilianer im Gefängnis, der ihm freimütig alle seine Tricks offenbart. Die Erscheinung des Armeniers im Spiegel? Ein Pastellbild hinter Glas. Der Schlüssel in der Tabakdose? Der Sizilianer hat ihn, als er dem Prinzen aus der Tasche gefallen war, hinein­gelegt und dafür gesorgt, dass keine Niete unter den Losen war. Die Tänzerin? Sie war von ihm bezahlt. Die erste Geis­ter­erschei­n­ung? Mit einer Za­uber­laterne hat der Magier ein Bild des Freundes an die Kaminwand geworfen. Und die elek­trischen Schläge? Die erhielten die Anwesenden über die Elek­trisier­mas­chine.

Die Geschichte vom falschen und echten Gespenst

Dann erkundigt sich der Prinz nach dem Armenier. Er sei ein schreck­liches Wesen, raunt der Magier. Immer in einer anderen Verkleidung unterwegs, un­ver­wund­bar und unsterblich. Er schlafe und esse nicht und verschwinde immer um Mitternacht für eine Stunde, weil er dann zu Stein erstarre und die Welt der Lebendigen verlasse. Als Antwort auf die Frage, weshalb er solche Angst vor dem Armenier gehabt habe, erzählt der Magier eine merkwürdige Geschichte: Einige Jahre zuvor hat er das Vertrauen einer neapoli­tanis­chen Adels­fam­i­lie erworben. Deren ältester Sohn Jeronymo war auf geheimnisvolle Weise ver­schwun­den. Nach jahrelanger erfolgloser Suche sollte der jüngere Sohn Lorenzo Jeronymos trauernde Frau heiraten und den Fürstentitel weiterführen. Lorenzo bat den Sizilianer, den Geist seines Bruders zu rufen, damit das Weib endlich loslassen könne und ihn als Ehemann akzeptiere. Der Magier inszenierte daraufhin eine Sitzung, an dessen Ende Jeronymos ver­meintlicher Geist seinen Trauring fallen ließ – einen nachgemachten. Auf der Hochzeit tauchte dann der Armenier in Gestalt eines Franziskan­ermönchs auf und rief Jeronymos Geist erneut herbei. Ein entstelltes Wesen erschien und beschuldigte seinen Bruder des Mordes an ihm. Lorenzo starb kurz darauf. Auf dem Fam­i­lien­an­we­sen fand man in einem still­gelegten Brunnen ein Skelett.

Unter dem Licht der Vernunft

Der Graf von O. ist von dieser Erzählung schwer beeindruckt. Er ist geneigt, die zweite Geis­ter­erschei­n­ung als echt anzusehen. Nicht aber der Prinz. Weshalb sollte er einem aus­gemachten Betrüger Glauben schenken? Nach und nach entlarvt er die Winkelzüge des Magiers. Der Schlüssel zu dessen Ver­logen­heit sei der Ring: Der Sizilianer müsse diesen vom Mörder Jeronymos erhalten haben. In seiner Erzählung aber habe er so getan, als sei er von Lorenzos Ehrlichkeit überzeugt gewesen. Der Prinz vermutet, dass der Sizilianer nur ein Handlanger des Armeniers ist. Das grobe Gaukelspiel sollte vom feineren ablenken und so den Glauben an das ver­meintliche zweite Wunder stärken. Und tatsächlich: Wenige Tage später ist der Sizilianer ver­schwun­den, weil der Armenier offenbar seine Freilassung bewirkt hat. Zwar gibt es für das geheimnisvolle Wissen des Armeniers, dass der Thronfolger sterben werde, nach wie vor keine Erklärung. Der Prinz vertraut aber darauf, dass es nicht übersinnlichen Ursprungs sein kann, wenn der Rest ein Gaukelspiel ist.

Flucht in die Freigeis­terei

Bald danach beginnt der Prinz, sich zu verändern. Er hat eine bigotte, protes­tantis­che Erziehung erlitten und sich danach nie mehr groß Gedanken über seine Religion gemacht. Nun aber ist sein Glaube an Gott erschüttert. Er tritt dem berüchtigten Geheimbund Bucentauro bei. Die Crème de la Crème von Venedig, einschließlich einiger Kardinäle, ist Mitglied in diesem Klub. Das ändert aber nichts am enthemmten Verhalten und der Sit­ten­losigkeit innerhalb der Gesellschaft. Alle Mitglieder müssen beim Eintritt ihrer Nation und Religion entsagen, und der Schein von Gleichheit liefert eine Vollmacht für die schlimmsten Auss­chwei­fun­gen.

„Die Thüre sprang freiwillig unter einem heftigen Donner auf, ein Blitz erleuchtete das Zimmer und eine andre körperliche Gestalt, blutig und blaß wie die erste aber schrek­licher, erschien an der Schwelle.“ (S. 31)

Der Graf von O. muss Venedig verlassen, um üble Gerüchte zu widerlegen, die jemand in seiner Heimat über ihn verbreitet. Er lässt sich brieflich vom Baron von F*, der im Dienst des Prinzen steht, über den Fortgang der Geschichte un­ter­richten. Die Nachrichten sind be­sorgnis­er­re­gend. Der Prinz stürzt sich in immer neue Unkosten und scheint einer fiebrigen Vergnügungssucht an­heimge­fallen zu sein. Von seinen alten Vertrauten, einschließlich des Barons, will er nichts mehr wissen. Eines Nachts, als sich der Prinz und Biondello auf dem Nach­hauseweg verirren, hören sie aus einer Nebengasse Hil­feschreie. Der Prinz eilt zum Tatort und befreit den jungen Marchese von Civitella aus den Händen brutaler Schläger. Civitella, der bisher nur durch Skandale aufgefallen ist, folgt seinem Retter fortan wie ein Schatten. Der Prinz ist bald fast pleite. Die Wechsel aus der Heimat bleiben aus und er nimmt Zuflucht bei einem Wucherer. Auf die betretenen Blicke des Barons regiert er ungehalten. Ja, die Vergnügungen seien ihn teuer zu stehen gekommen. Aber liege nicht sein einziges Glück in den Zer­streu­un­gen des Augenblicks? Es entspinnt sich ein langes Gespräch, in dem der Prinz die religiös-kon­ser­v­a­tiven Ansichten des Barons her­aus­fordert. Der Mensch, so der Prinz, sehe sich als Mittelpunkt der Welt und habe sich deshalb einen Schöpfer nach seinem Bild geschaffen – und nicht etwa umgekehrt. Tatsächlich seien moralische Begriffe wie Zweck und Mittel nichts anderes als Ursache und Wirkung. Das moralische Wesen sei ebenso wie das organische eine Naturnotwendigkeit. Es sei in sich geschlossen und brauche keine äußere Instanz, keinen Glauben an das ewige Leben, keine Religion.

Die Erscheinung der Schönheit

Civitella hat von dem Wucherer erfahren und will, wie er dem Baron mitteilt, dem Prinzen das nötige Geld leihen. Sein Onkel, der Kardinal A*i, besitze ein beträchtliches Vermögen. Während eines Ausflugs besucht der Prinz eine Kirche, die als besonders schön gerühmt wird. Was er darin erblickt, verschlägt ihm den Atem: Eine junge Frau, in schwarze Seide gehüllt, kniet voller Anmut vor dem Altar. Das blonde Haar fließt über ihren Rücken herab. Dem Prinzen erscheint sie göttlich schön. Biondello soll ihr folgen. Bevor dieser ihre Spur verliert, hört er sie zu ihrer Zofe sprechen. Weil er nichts versteht, nimmt er an, sie sei Griechin.

„Die Zeit selbst scheint an ihm ihre Macht zu verlieren, die Jahre trocknen seine Säfte nicht aus und das Alter kann seine Haare nicht bleichen.“ (der Sizilianer über den Armenier, S. 52)

Civitella leiht dem Prinzen das Doppelte von dem, was er dem Wucherer bezahlen muss. Um ihn von seiner fieber­haften Suche nach der Griechin abzulenken, verführt er ihn zum Glücksspiel. Der Prinz pokert hoch – und verliert. Am Ende steht er bei Civitella mit 24 000 Zechinen in der Kreide. Civitella erzählt dem Prinzen und seinen Gefährten nun ein mehrere Monate zurückliegendes Ereignis, das sich auf der Insel Murano zugetragen hat: Von seiner Pension aus beobachtete er, wie eine junge Dame von göttlicher Anmut sich mit einem Mann traf, der einen seltsam stechenden Blick hatte. Den Beschrei­bun­gen nach können es nur der Armenier und die Griechin gewesen sein. Die beiden waren of­fen­sichtlich ein Liebespaar, aber der Armenier entzog sich den Liebko­sun­gen der Griechin. Am Ende stahl er sich unbemerkt davon. Civitella beschloss, die verzweifelte Schönheit zu erobern. Er beobachtete, wie sie einen Brief im Garten verlor, und las diesen heimlich. Den Inhalt lernte er auswendig.

Zurück in die Finsternis

Biondello berichtet, dass jemand versuche, über den Prinzen Erkundi­gun­gen einzuziehen: wie er lebe, was er wofür ausgebe und mit wem er verkehre. Allerdings kann er nicht sagen, wer dahin­ter­steckt. Genau eine Woche nach der ersten Begegnung mit der schönen Griechin sucht der Prinz wieder die Kirche auf, in der Hoffnung, sie dort zu treffen. Vergeblich. Doch dann begegnet er ihr, anscheinend zufällig, in einer Gondel auf dem Weg zur Insel Murano wieder. Der Prinz ist außer sich vor Glück, als er mehrere Stunden mit ihr in einem Garten verbringen darf. Zu Hause wartet derweil ein ärgerlicher Brief auf ihn: Der Hof ruft ihn mit Nachdruck zurück. Doch der Prinz denkt nicht daran abzureisen. Wenige Wochen später weht bereits ein schärferer Wind aus der Heimat: Man wisse alles über seine Spielsucht und die Frauen­z­im­mer, und dass er im Begriff stehe, zum Katholizis­mus überzutreten. Geld gebe es keines mehr, es sei denn, er kehre endlich nach Hause zurück. Der Prinz überwirft sich endgültig mit seiner Familie. Später stellt sich heraus, dass die Griechin in Wahrheit die illegitime Tochter einer deutschen Adligen ist.

„Wollen Sie lieber ein Wunder glauben, als eine Un­wahrschein­lichkeit zugeben?“ (der Prinz zum Grafen, S. 81)

Drei Monate lang hört der Graf von O. nichts mehr vom Baron über den Prinzen. Biondello hat offenbar alle Briefe abgefangen. Dann gelangt doch einer zu ihm. Aus diesem Schreiben spricht schiere Verzwei­flung: Der Prinz habe Civitella schwer verwundet und der Kardinal habe Meuchelmörder nach ihm aus­geschickt. Die Griechin sei vergiftet worden. Als der Graf nach dreiwöchiger Reise in Venedig ankommt, ist der Prinz nicht für ihn zu sprechen. Mit Civitella und dem Kardinal hat er sich versöhnt, die Schulden sind beglichen. Er ist zum Katholizis­mus konvertiert und hört in den Armen des Armeniers die erste Messe.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Geis­terse­her ist in sehr un­ein­heitlichem Stil geschrieben. Schiller mischt Fragmente eines Briefromans mit drama­tis­chen Dialogen, zeichnet die geistige Entwicklung des Prinzen anhand eines pla­tonis­chen Dialogs nach, lässt den Sizilianer eine Novelle als Binnenerzählung berichten und dergleichen mehr. Außerdem jongliert er virtuos mit den Per­spek­tiven: Zunächst erzählt der Graf die Geschichte aus seiner Sicht. Dann lässt er die Briefe des Barons sprechen. Einschübe wie die Binnenerzählung vermitteln dem Leser immer neue Sichtweisen. In seiner Lesean­leitung zur Buchausgabe nennt Schiller den Geis­terse­her eine „unerhörte Geschichte“ und tarnt sie als historische Begebenheit: Indem er sich selbst als Herausgeber der Memoiren des Grafen ausgibt, verleiht er diesen eine scheinbare Authentizität. Zudem spielt er geschickt mit der Sen­sa­tion­s­gier seiner Leser: Wie in einem modernen Polit­thriller wirft er sie auf eine Achterbahn der doppelten Ent­larvun­gen und Lösungen, Überraschun­gen und Wendepunkte. Auch der Cliffhanger ist hier bereits per­fek­tion­iert – 200 Jahre vor seiner Blütezeit in den Fernseh­seifenopern der 1980er Jahre.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Geis­terse­her, schrieb Schiller, sei „ein Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des men­schlichen Geistes“. Es ist eine Studie über die Ma­nip­ulier­barkeit des Menschen. Der Prinz entblößt eine Täuschung nach der anderen, ohne jemals zum Kern der heimtückischen Intrigen vorzu­drin­gen.
  • Stattdessen wird der Prinz zum Opfer einer Verschwörung. Sein noch recht junges Vernunftgebäude wird von Gefühlen erschüttert. Die bigotte und lieblose Erziehung hat ihn nicht auf die Begegnung mit der Schönheit vorbereitet. Und der Armenier hat seinen Lockvogel nicht umsonst in einer Kirche platziert. Denn die ver­meintliche Griechin repräsentiert für den Prinzen das Ideal des Schönen, Wahren und Guten. Ihr Tod treibt ihn dorthin, wo sein Gegen­spieler ihn haben wollte: in die Arme der aller Vernunft spottenden katholis­chen Kirche.
  • „Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht“, forderte Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Diesen glückseligen Zustand beschrieb er als Unabhängigkeit von äußeren Kräften, als ein har­monis­ches Ruhen in sich selbst. Im Geis­terse­her legt Schiller dem Prinzen diesen Ansatz in den Mund – und schickt ihn dann über den Umweg der Freigeis­terei in die religiöse Finsternis.
  • Der Schauplatz Venedig wirft ein beze­ich­nen­des Schlaglicht auf die prekäre Lage des europäischen Adels am Vorabend der Französischen Revolution: Hinter den prachtvollen Fassaden der Stadt verstecken sich Dekadenz, Fäulnis und Verderben. Die vergängliche Schönheit der Stadt steht stel­lvertre­tend für die schwindende Macht des Adels.
  • Zur moralischen Läuterung seiner Leser beizutragen, war erklärtermaßen Schillers Absicht. Mit den de­tail­ge­nauen Beschrei­bun­gen der Geis­terbeschwörungen wirkte er aufklärerisch im wahrsten Wortsinn. Niemand sollte mehr auf die Scharlatane und religiösen Rattenfänger seiner Zeit here­in­fallen.
  • Schiller ließ sich von his­torischen Personen, Begeben­heiten und Verschwörungs­the­o­rien inspirieren und gab die Dichtung als wahr aus. Diese Balance auf dem schmalen Grat zwischen Fiktion und Wahrheit fiel ihm nicht leicht – auch deshalb konnte er sich nie zu einem echten Schluss durchringen.

His­torischer Hintergrund

Renaissance der Gespenster

Gegen Ende des 18. Jahrhun­derts schien das Licht der Aufklärung die dunklen Geister der Bigotterie und Unmündigkeit vertrieben zu haben. Doch der Schein trog. Denn trotz – oder gerade wegen – des Triumphs der Vernunft gedieh im Schatten des Ra­tio­nal­is­mus eine okkulte Gegen­be­we­gung. Adlige trafen sich zu spiri­tis­tis­chen Sitzungen und Totenbeschwörungen. Billige Ritter- oder Schauer­ro­mane fanden reißenden Absatz, auch weil im Zuge der Al­pha­betisierung erstmals ein Markt für Massen­me­dien entstanden war. Gesellschaftliche Umwälzungen re­sul­tierten in ver­bre­it­eter Ori­en­tierungslosigkeit, und diese bildete den perfekten Nährboden für Scharlatane, Teufel­saus­treiber, Wun­der­heiler und Wahrsager. Einer von ihnen war der legendäre Hochstapler und Alchemist Giuseppe Balsamo, das Vorbild für den Armenier im Roman. Der Sizilianer trat in europäischen Adels­fam­i­lien als Graf von Cagliostro auf und wurde u. a. als Geis­terbeschwörer berühmt.

Auch das verborgene Treiben der Geheimbünde reizte die Fantasie der Menschen. So genannte Bündnisromane über die geschlosse­nen Gesellschaften der Jesuiten, Freimaurer, Illuminaten oder Rosenkreuzer sprachen ein Massen­pub­likum an. Schiller griff eine populäre Verschwörungs­the­o­rie auf, wonach Mitglieder des 1773 vom Papst aufge­hobe­nen Je­suitenor­dens protes­tantis­che Thronfolger zum Übertritt in die katholische Kirche zu bewegen versuchten, um ihre Machtbasis in Europa zu erweitern. 1786 war z. B. die bevorste­hende Konversion des würt­tem­ber­gis­chen Erbprinzen Friedrich Heinrich Eugen in aller Munde. Der Prinz hatte mit einem Zeitungsar­tikel über die empirische Wahrschein­lichkeit von Geis­ter­erschei­n­un­gen für Aufsehen gesorgt.

Entstehung

Schiller stieß 1786 während der Suche nach neuen Inhalten für seine Zeitschrift Thalia auf die Thematik des Okkulten und ließ sich dadurch zu seinem Roman anregen. Die als Fort­set­zungs­geschichte geschriebe­nen Folgen des Geis­terse­hers erschienen 1787–1789 in insgesamt fünf Heften von Thalia. Der Erfolg beim Publikum war phänomenal: Leser und Kritiker rissen den Verkäufern die Hefte aus den Händen. Bei Hofe und in den bürgerlichen Salons wurde aufgeregt diskutiert und über mögliche Ausgänge spekuliert. Der Geis­terse­her war ein gesellschaftliches Ereignis, ver­gle­ich­bar mit Dallas oder der Schwarzwald­klinik knapp 200 Jahre später. Schiller sagte einmal, das Publikum sei sein Mäzen. Er wollte mit dem Fort­set­zungsro­man so viel Geld wie möglich verdienen. Aber er konnte sich mit seinem kommerziell er­fol­gre­ich­sten Werk nie wirklich anfreunden. Anfang 1788 schrieb er seinem Freund Christian Gottfried Körner: „Der Geis­terse­her, den ich eben jetzt fortsetzte, wird schlecht – schlecht, ich kann nicht helfen.“ Er klagte über den „sündlichen“ Zeitaufwand für die „Schmiererei“, „weil es nichts Kleines war, in eine planlose Sache Plan zu bringen.“

Erst die Idee, mit dem philosophis­chen Gespräch und der Figur der Griechin seine ästhetischen Vorstel­lun­gen zu the­ma­tisieren, gab dem Schaf­fen­sprozess neuen Schwung. Als Vorbild für die lichtvolle Frauengestalt gilt die schöne Henriette von Arnim, mit der Schiller 1787 in Dresden eine kurze, lei­den­schaftliche Affäre hatte. Die erste Buch­druck­aus­gabe 1789 wollte Schiller eigentlich mit einem fulminanten Schluss beenden. Doch dazu kam es nicht – wahrschein­lich wusste er selbst nicht, wie dieser hätte aussehen können. Mit Blick auf den Markterfolg kürzte er nur das philosophis­che Gespräch von ursprünglich 40 Thalia-Seiten auf wenige Überbrück­ungs­seiten. Zuletzt bat ein Berliner Verleger den Autor im Sommer 1800 um eine Fortsetzung. Schiller lehnte entschieden ab.

Wirkungs­geschichte

Der Begeis­terung der Leser tat das keinen Abbruch. In der Rezension der Allgemeinen Deutschen Bibliothek hieß es zur zweiten Buchauflage 1792: „So entdeckt man immer in den kleinsten Zügen Spuren des Genius und der feinsten Men­schenken­nt­nis, so bezaubert die Darstel­lungskunst, die klassische Schreibart.“ Hugo von Hoff­mannsthal bewunderte Schillers Fähigkeit, „vielerlei Menschen in ein großes Geschick“ zu verknüpfen, und nahm das Werk 1912 in seine Sammlung Deutsche Erzähler auf. Und Thomas Mann ließ sich von dem „prachtvollen Sen­sa­tion­sro­man“ zu der Novelle Tod in Venedig inspirieren.

Der fehlende Schluss ließ den Menschen noch zu Schillers Lebzeiten keine Ruhe. Ernst Friedrich Follenius schrieb 1796 einen zweiten und dritten Teil. Zahlreiche Neuin­ter­pre­ta­tio­nen und Schlussver­sio­nen folgten, bis Kai Meyer sich 1995 mit Der Geis­terse­her. Ein un­heim­licher Roman im klassischen Weimar die vorerst letzte einfallen ließ. Die langfristige Bedeutung von Schillers einzigem Blockbuster wird oft unterschätzt: Er etablierte u. a. das Genre des Fort­set­zungsro­mans, inspirierte in seiner englischen Übersetzung die Gothic Novel und gilt als Wegbereiter des modernen Krim­i­nal­ro­mans.

Über den Autor

Friedrich Schiller wird am 10. November 1759 in Marbach am Neckar als Sohn eines Offiziers geboren. Auf Befehl des würt­tem­ber­gis­chen Landesherrn Karl Eugen wird er in dessen Eliteschule in Stuttgart aufgenommen. Schiller behagt der militärische Drill im Internat überhaupt nicht, wenngleich die Lehrkräfte und die Ausbildung her­vor­ra­gend sind. Er studiert zunächst Jura und dann Medizin. Viel stärker lockt den jungen Mann aber die Schrift­stellerei. Mehr oder weniger heimlich schreibt er sein erstes Drama Die Räuber, das 1782 in Mannheim uraufgeführt wird. Als er gegen den Willen Karl Eugens die Lan­des­gren­zen überschre­itet, wird er mit Haft und Schreib­ver­bot bestraft. Schiller entzieht sich dem Zwang durch neuerliche Flucht und setzt seine schrift­stel­lerische Arbeit fort. Die frühen Dramen erscheinen: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale und Liebe (1784). Unter ständiger Geldnot leidend, zieht er 1785 zu seinem Freund und Gönner Christian Gottfried Körner nach Sachsen, wo er u. a. die durch Beethovens Vertonung bekannt gewordene Ode An die Freude sowie den Dom Karlos (1787) schreibt. Aufgrund seiner viel beachteten Studie Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande schlägt Goethe ihn 1788 für den Lehrstuhl für Geschichte in Jena vor. Hier verfasst Schiller seine ästhetischen und his­torischen Schriften und heiratet 1790 Charlotte von Lengefeld. Nach seinem Umzug nach Weimar im Jahr 1799 schließt Schiller Fre­und­schaft mit Goethe. Daraus ergibt sich eine der frucht­barsten Dichter­bekan­ntschaften aller Zeiten: In der Nähe Goethes beendet Schiller sein erstes klassisches Geschichts­drama, die Wallenstein-Trilogie. Es folgen Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans (beide 1801), Die Braut von Messina (1803) und Wilhelm Tell (1804), aber auch ein um­fan­gre­iches lyrisches Werk. 1802 erhält er den Adelstitel. Seine schlechte körperliche Kon­sti­tu­tion zwingt ihn immer wieder aufs Kranken­lager. Am 9. Mai 1805 stirbt Schiller in Weimar.