Ich war Kaiser von China

Buch Ich war Kaiser von China

Vom Himmelssohn zum Neuen Menschen. Die Autobiografie des letzten chinesischen Kaisers

Peking, 1964
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Der letzte Kaiser von China

Chinas letzter Kaiser war erst zwei Jahre alt, als er 1908 nach dem mysteriösen Tod seines Onkels den Thron bestieg. Doch lange sollte der kleine Pu Yi nicht regieren, denn schon nach wenigen Jahren übernahmen Revolutionäre das Ruder und riefen in China die Republik aus. 1912 dankte der kleine Kaiser offiziell ab. Damit endete nicht nur die Herrschaft der mand­schurischen Qing-Dy­nas­tie, sondern auch die 2000-jährige Geschichte des chi­ne­sis­chen Kaiser­re­ichs. Pu Yi ließ sich allerdings nicht so einfach abservieren: Seine unablässigen Restau­ra­tions­bemühungen trieben ihn in die Arme der Japaner. Für sie war der abgesetzte Kaiser eine willkommene Marionette in ihrem Plan, in Asien zu expandieren. Aus Angst vor dem Tod ließ Pu Yi sich bere­itwillig in­stru­men­tal­isieren, zuerst von den Japanern, später von der neuen, kom­mu­nis­tis­chen Regierung Chinas. Die faszinierende Au­to­bi­ografie des letzten chi­ne­sis­chen Kaisers, einer durchaus schillern­den Persönlichkeit, liest sich ungemein spannend, auch wenn sich im Lauf der Lektüre der Verdacht verstärkt, dass diese Memoiren zu gut ins politische Kalkül der Kom­mu­nis­tis­chen Partei passen, als dass sie allein der Urhe­ber­schaft Pu Yis zuzuschreiben wären.

Take-aways

  • Pu Yi, der letzte Kaiser Chinas, veröffentlichte 1964 seine bewegenden Memoiren.
  • Inhalt: Als Pu Yi 1908 im Alter von nur zwei Jahren auf den Thron gesetzt wird, ahnt noch niemand, dass mit ihm die Geschichte der chi­ne­sis­chen Kaiser­dy­nas­tie enden wird. Schon 1912 abgesetzt, versucht er vergebens, die Monarchie wieder einzuführen, und gerät dabei immer tiefer in die Fänge der Japaner. Erst als Kriegsver­brecher in kom­mu­nis­tis­cher Gefan­gen­schaft begreift Pu Yi sein Fehlver­hal­ten und wird zu einem neuen Menschen.
  • Weil diese Au­to­bi­ografie einen der seltenen Einblicke in den Alltag hinter den Mauern der Verbotenen Stadt gewährt, ist sie ein bedeutendes his­torisches Zeit­doku­ment.
  • Im Gefängnis begann der Exkaiser und Kriegsver­brecher Pu Yi mit der Nieder­schrift eines Geständnisses, das später die Vorlage für seine Au­to­bi­ografie werden sollte.
  • Neben Pu Yi hat mindestens ein Ghostwriter an dem Buch gearbeitet.
  • Die Memoiren belegen, wie die Japaner bei ihrer Expansion in Asien vorgingen und wie Pu Yi ein Opfer ihres Macht­strebens wurde.
  • Zugleich ist der Text ein an­schauliches Beispiel für eine Umerziehung im kom­mu­nis­tisch-chi­ne­sis­chen Sinn.
  • Die Kom­mu­nis­tis­che Partei Chinas landete mit Pu Yis Au­to­bi­ografie einen ihrer größten Pro­pa­gan­da­coups.
  • 1987 wurde das Buch von Bernardo Bertolucci verfilmt; der Film erhielt neun Oscars.
  • Zitat: „Nach außen hin erschien die Verbotene Stadt als ein Hort der Ruhe und der friedlichen Harmonie, aber in Wirk­lichkeit war innerhalb ihrer Mauern schon längst jede Ordnung zusam­menge­brochen.“
 

Zusammenfassung

Kindheit als Kaiser

In einem abge­gren­zten Teil des Kaiser­palastes in Peking verbringt Pu Yi, der letzte Kaiser Chinas, die wohl absurdeste Kindheit, die man sich denken kann. Nach dem Tod seines Onkels, der unter ungeklärten Umständen gestorben ist, entscheidet die Kaiser­in­witwe Tze Hsi, den kleinen Pu Yi im Alter von nur zwei Jahren zu inthro­nisieren; dies geschieht am 2. Dezember 1908. Doch der Kleine darf nur kurze Zeit Kaiser spielen, denn am 10. Oktober 1911 kommt es zu einem Aufstand und er muss 1912 abdanken. Stets umgibt ihn ein buntscheck­iger Schwarm von Dienerinnen und Eunuchen, sein Leben ist genauestens geregelt. Daran ändert sich auch nach der Abdankung nichts; das ver­schwen­derische Leben im Palast geht aufgrund des „Wohlwol­len­den Vertrags“ auf Kosten des Volkes weiter. Im Alter von fünf Jahren erhält Pu Yi drei Tutoren; er studiert die chi­ne­sis­chen Klassiker und die Edikte der Kaiser, ab dem 13. Lebensjahr wird er auch in Englisch un­ter­richtet. Von den vier Grun­drechenarten hat er allerdings keine Ahnung, auch wurden ihm weder Lan­desken­nt­nisse noch die Grundlagen der Ökonomie vermittelt. Selbst im mand­schurischen Spra­chunter­richt kommt er nicht weit, ja er lernt nicht einmal das Alphabet. Pu Yi ist allerdings auch kein sonderlich ehrgeiziger Schüler: Wenn ihm danach ist, beurlaubt er die Lehrer spontan.

Die Eunuchen

Pu Yis Kindheit ist geprägt von Eunuchen. Sie kleiden ihn an, geleiten ihn zum Unterricht, bedienen ihn beim Essen, überwachen seinen Schlaf. Denn das Gesetz schreibt vor, dass von einer bestimmten Stunde an kein „un­versehrtes“ männliches Wesen sich in der Kaiserstadt, der Verbotenen Stadt, aufhalten darf. Eunuchen sind Pu Yis wichtigste Spielgefährten, seine Sklaven und zugleich auch seine ersten Lehrer. Die Eu­nuchenge­sellschaft ist streng hi­er­ar­chisch gegliedert, der Monatslohn ist eher gering. Wen wundert es da, dass die Eunuchen auf der ständigen Suche nach Nebeneinkom­men Intrigen anzetteln? Pu Yi ist oft jähzornig, sodass er bei jeder Gelegenheit Eunuchen aus­peitschen lässt. Mit solcherlei Quälereien vertreibt er sich die Zeit; der Autoritätsdünkel wird ihm von klein auf eingeflößt: Schließlich steht der Kaiser jenseits von Gut und Böse. Noch wichtiger als die Eunuchen ist für Pu Yi die Amme Wang Momo. Nur sie kann seinem Treiben Einhalt gebieten, nur sie kann ihm klarmachen, dass auch Eunuchen Menschen wie der Kaiser selbst sind. Aber alles, was sie ihm an Men­schlichkeit bis zu seinem neunten Lebensjahr vermittelt hat, wird später vom ko­r­rumpieren­den Einfluss seiner Umgebung zu­nichtegemacht.

Ausländische Erziehung

Auf dem Land leidet das Volk seit dem Ende der Monarchie unter den Bürg­erkriegswirren, weshalb es hofft, der Kaiser möge China bald wieder regieren und für Frieden sorgen. Offenbar ist der Glanz des Kaiser­hauses noch nicht ganz verblasst, weshalb es immer wieder zu Restau­ra­tions­bemühungen kommt, denen der abgedankte Kaiser zunächst eher unbeteiligt gegenübersteht, die er später aber immer aktiver unterstützt.

„Mit der stillschweigen­den Duldung der re­pub­likanis­chen Regierung führten wir unser Leben im Palast weiter wie bisher und ver­schwen­de­ten den Schweiß und das Blut des Volkes, um unsere parasitäre Existenz aufrechtzuer­hal­ten.“ (S. 43)

Mit Reginald Fleming Johnston, einem schot­tis­chen Tutor, der Pu Yi seit dessen 13. Lebensjahr un­ter­richtet, ist nicht zu spaßen. Johnston bringt dem Jungen nicht nur die englische Sprache bei, sondern will ihn auch zu einem englischen Gentleman erziehen. Pu Yi in­ter­essiert sich unter Johnstons Einfluss zunehmend für westliche Dinge und imitiert seinen Lehrer. Am kaiser­lichen Hof aber ist der Brite äußerst unbeliebt, weil er Pu Yi aufzeigt, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Kein eigenes Leben

Gleich zwei Frauen muss Pu Yi heiraten, weil sich die in­volvierten Parteien bei Hof nicht auf eine einigen können. Immerhin wird er durch diesen Akt volljährig. Nur zu gern möchte er im Ausland studieren, doch das würde einer Kündigung des „Wohlwol­len­den Vertrags“ mit der Republik gle­ichkom­men. Der Kaiserhof mitsamt seiner einengenden und en­g­stirni­gen Zeremonien wird Pu Yi zunehmend zuwider. Ein Telefon wird ihm verweigert, und überhaupt ist man dagegen, dass der Kaiser Kontakte zur Außenwelt pflegt oder Zeitungen liest, in denen er so manch Missliebiges über seine Palast­di­ener erfahren könnte. Der Wunsch, ins Ausland zu gehen, wird übermächtig. Heimlich bereitet Pu Yi zusammen mit seinem Bruder Pu Dschiä seine Flucht vor, doch der Plan wird von einem Eunuchen aufgedeckt.

Unter dem Schutz der Japaner

Als am 5. November 1924 der „Wohlwol­lende Vertrag“ von der Republik gekündigt wird, muss Pu Yi den Kaisertitel ablegen. Doch als er den Palast verlässt, ist er gar nicht so unglücklich, den Kerk­er­mauern seiner Kindheit und Jugend endlich entkommen zu sein. Aber was soll als Nächstes geschehen? Da der Kaiser einst für Erd­bebenopfer in Japan hohe Summen gespendet hat, wird ihm nun der Schutz der japanischen Gesandtschaft zuteil. Die Öffentlichkeit kritisiert ihn jedoch dafür, sich aus­gerech­net den Japanern anvertraut zu haben. Pu Yi gesteht im Nachhinein ein, dass er naiv in eine Falle getappt sei und die Japaner seine unrühmliche Rolle bei ihren Ex­pan­sions­bemühungen von langer Hand geplant hätten. Doch nur sie scheinen ihm zum Zeitpunkt der Entschei­dung Garant dafür zu sein, eines Tages den Thron zurückerobern und im Ausland studieren zu können.

„(...) im zarten Alter von zehn Jahren hatte ich mir bereits angewöhnt, bei jeder Gelegenheit Eunuchen aus­peitschen zu lassen: Grausamkeit und Jähzorn waren mir zur zweiten Natur geworden.“ (S. 68)

Sieben Jahre bleibt Pu Yi in der Hafenstadt Tientsin, in der Hoffnung, die Kriegsh­er­ren des Nordens auf seine Seite zu ziehen. Die Generäle werden von den Japanern in deren Ex­pan­sion­spläne in Asien wie auch in die Son­der­in­ter­essen in Nordchina einbezogen. Und die Japaner brauchen den Kaiser als Figur in ihrem Ränkespiel, weil sie selbst bei der Bevölkerung verhasst sind. Da Pu Yi von chi­ne­sis­chen Generälen enttäuscht, von den Japanern aber stets vorzüglich behandelt wurde, setzt er von nun an alles auf die Karte Japan.

Mandschuguo

Nach einer aben­teuer­lichen Flucht gen Norden wird Pu Yi im oberen Stock eines Gebäudes festgesetzt. Aus dem ver­sproch­enen Kaisertitel wird vorerst nichts, Pu Yi soll lediglich Staat­sober­haupt der neu geschaf­fe­nen Republik Mandschuguo werden. Widerwillig gibt er sich geschlagen; zu sehr hat er sich schon auf die Japaner eingelassen, als dass es noch ein Zurück gäbe. Am 28. Februar 1932 wird der Nordosten Chinas zum unabhängigen Staat Mandschuguo erklärt und Pu Yi zum Regenten ernannt. Aber schon bald merkt er, dass seine Macht nur auf dem Papier besteht. Jedem seiner Minister ist ein japanischer Vizem­i­nis­ter unterstellt, der die Verfügungsgewalt innehat. Pu Yi darf nicht einmal unerlaubt seine Residenz verlassen. Als er einen Geheimver­trag mit dem japanischen General Itagaki un­terze­ich­net, der später als Kriegsver­brecher erhängt wird, unterstellt er damit den Nordosten vollkommen der japanischen Herrschaft. Allerdings hat er im Vertrag fest­ge­hal­ten, dass er als Regent zurücktreten werde, wenn er nicht innerhalb eines Jahres wieder als Monarch eingesetzt würde. Von diesem Recht macht er jedoch keinen Gebrauch, denn was hätte Pu Yi dann tun sollen? 1934 gewinnt diejenige japanische Clique die Oberhand, die die Monarchie befürwortet, und Pu Yi wird als Kaiser von Mandschuguo eingesetzt.

Der Traum ist ausgeträumt

Als ein hoher Mand­schu-Beamter, der zudem mit der Kaiser­fam­i­lie durch eine Verlobung verbunden ist, wegen an­ti­japanis­cher Umtriebe hin­gerichtet wird, wacht auch Pu Yi aus seinem Kaisertraum auf. Sein Hand­lungsspiel­raum ist äußerst eingeschränkt. Von 1937 an lanciert Japan eine Ter­rorkam­pagne in Nordchina, sodass Pu Yi in ständiger Angst lebt. Nach dem Vorfall auf der Marco-Polo-Brücke am 7. Juli 1937, dem Auslöser für den Zweiten Japanisch-Chi­ne­sis­chen Krieg, darf er nur noch wenige Verwandte empfangen. Als er gezwungen wird, den Kult um die japanische Ahngöttin zur Staat­sre­li­gion Mand­schuguos zu erklären und seine eigenen Ahnen aufzugeben, handelt Pu Yi abermals nach dem Motto: ein Schritt zurück, zwei nach vorn. Schließlich geht es ihm nur noch ums nackte Überleben.

Der große Zusam­men­bruch

Pu Yi hat nach außen hin zwar keine Macht und muss jedem Fin­ger­schnipsen der Japaner gehorchen, doch in seinen eigenen vier Wänden wütet er als uneingeschränkter Herrscher und lässt seine Frustration erneut an den Be­di­en­steten aus. Als Japan am 9. August 1945 kapituliert, wird Pu Yis Flucht von russischen Einheiten vereitelt. Auf Befehl der sow­jetis­chen Regierung wird er in einem Hotel interniert. Am 1. August 1950 übergibt man der chi­ne­sis­chen Regierung die gesamte Mand­schuguo-Führungsclique als Kriegsver­brecher. Schließlich findet sich diese in einem stark bewachten Gefängnis wieder – und wundert sich sehr darüber, dass man Gefangenen wie ihnen Bücher zum Studium gibt. Pu Yi ist ohne seine Familie auf sich allein gestellt und versagt vollkommen. Unendlich viele Probleme türmen sich vor ihm auf: Decke zusam­men­le­gen, Waschwasser ausleeren, Sachen flicken, Schuhe selbst schnüren – immer hinkt er dem Tagesplan hinterher. Noch schlimmer aber ist der Spott der Mit­ge­fan­genen. Seine Aufmachung und sein sorgloser Umgang mit Kleidern bescheren ihm eine Rüge vonseiten des Gefäng­nis­di­rek­tors. Noch nie zuvor ist Pu Yi in aller Öffentlichkeit bloßgestellt worden, und nun gilt er sogar als schlechtes Vorbild.

Umerziehung

Endlich wird verkündet, was die Regierung mit den Gefangenen vorhat: Sie sollen durch ein Studium umerzogen werden, denn die Kom­mu­nis­tis­che Partei ist überzeugt, dass die meisten von ihnen zu neuen Menschen geformt werden können. Der Kommunismus wolle die Welt umgestalten, und dazu sei die Umerziehung der Menschheit notwendig. Man müsse zuerst das eigene Denken und die eigene Herkunft begreifen, bevor man sich ändern könne. Um die Umerziehung erfolgreich durchzuführen, müsse darum jeder Rechen­schaft über seine eigene Geschichte ablegen und seine Au­to­bi­ografie schreiben. Pu Yi misstraut dem Ganzen und befürchtet, es handle sich nur um einen Trick, mit dem ihm ein Geständnis entlockt werden soll. Auch werden die Gefangenen aufge­fordert, alles über die Verbrechen der Japaner aufzuschreiben. Pu Yi wird bewusst, dass er einen Großteil der Schuld an den Verbrechen auf sich nehmen muss.

Blick zurück in die Hölle

1952 beginnt das ernsthafte politische Studium, parallel dazu wird praktisch gearbeitet. Das Kleben von Schachteln stellt Pu Yi, der noch nicht einmal einen Bleistift selber spitzen kann, vor größte Her­aus­forderun­gen. Er produziert mit seinen zwei linken Händen nur Auss­chuss­ware, weshalb ihn seine Zel­lengenossen hänseln. Bald muss er einsehen, dass er mit seinen Fehlern die ganze Gruppe belastet. Im März 1954 wird der Prozess um die japanischen Kriegsver­brechen eröffnet. Pu Yi will nun rückhaltlos alles offenlegen. Sind die Berichte über die japanischen Kriegsgräuel in Mandschuguo bisher stets an ihm abgeprallt, so erschüttert ihn nun das Geständnis von Furumi Tadayaki, dem ehemaligen Leiter des Amtes für allgemeine An­gele­gen­heiten. Auch die Mand­schuguo-Regierung hat sich daran beteiligt, das chinesische Volk zu drangsalieren. Menschen wurden sinnlos abgeschlachtet, und ab 1943 waren als „Besserungsanstal­ten“ getarnte Konzen­tra­tionslager ein­gerichtet worden. Der Nordosten war de facto ein Polizeis­taat unter japanischer Ober­herrschaft. Nach all diesen Enthüllungen will keiner seiner Verwandten noch zu Pu Yi stehen. Er weiß, dass ein Geständnis allein nicht ausreichen wird, um ihn von seinen Ver­fehlun­gen reinzuwaschen. In allen Lebenslagen den Starken zu spielen und die Schwachen einzuschüchtern, erschien ihm bisher immer selbstverständlich. Nun erkennt er, dass die Angst um sein Leben ihn feige und korrupt gemacht hat.

Ein neuer Mensch

Im Sommer 1956 muss Pu Yi als Zeuge gegen japanische Kriegsver­brecher aussagen. Sie alle sind wie aus­gewech­selt und bereuen ihre Schuld zutiefst. Auf einer Besich­ti­gungs­fahrt in den Norden gelangt Pu Yi zu der Überzeugung, dass das chinesische Volk endlich aus seiner Erstarrung erwacht ist. In dieser his­torischen Phase will nun jeder seinen Beitrag leisten. Pu Yi beginnt ein Studium der chi­ne­sis­chen Medizin und absolviert einen Kurs in Akupunktur. Diese Arbeit stärkt sein Selb­stver­trauen. Die Jahre im Gefängnis haben ihn gelehrt, unter der Leitung der Kom­mu­nis­tis­chen Partei die Wurzeln von Recht und Unrecht zu erkennen. Zur Zehn­jahres­feier der Volk­sre­pub­lik China 1959 werden reformierte Kriegsver­brecher und Kon­ter­rev­o­lu­tionäre begnadigt, so auch Pu Yi. Im März 1960 nimmt er eine Arbeit in einem botanischen Garten auf und lernt, wie man Blumen anpflanzt; ab März 1961 ist er an einem Forschungsin­sti­tut tätig, um lit­er­arisches und his­torisches Material der späten Qing-Zeit aufzuar­beiten. Dort findet er auch Unterstützung bei der Nieder­schrift seiner eigenen Au­to­bi­ografie.

Zum Text

Aufbau und Stil

Pu Yi schildert ins­beson­dere in den ersten Kapiteln seines Buches minutiös den Alltag in der Verbotenen Stadt: angefangen beim Speiseplan über die Auflistung aller Kosten im Kaiser­palast bis hin zur Rangordnung der Eunuchen. In dieser Au­to­bi­ografie wird nichts beschönigt, im Gegenteil, aus der Distanz wirft Pu Yi einen recht kritischen Blick auf sein früheres Leben, das ihm selbst nun sehr befremdlich vorkommt. Pu Yi reflektiert seine Fehler und seine Kurzsichtigkeit in politischen An­gele­gen­heiten, so etwa, dass er mit den Generälen aufs falsche Pferd gesetzt hat und sich naiv hat ausnutzen lassen.

Die eingestreuten Auszüge aus Tagebüchern, Zeitungsno­ti­zen und offiziellen Dokumenten, vor allem aber die alten Fotografien un­ter­stre­ichen den au­then­tis­chen Charakter des Buches. Gegen Ende allerdings liest sich die Au­to­bi­ografie eher wie ein kom­mu­nis­tis­ches Pamphlet, das die Erschaffung eines neuen Menschen propagiert. Der Bericht endet im Jahr 1962, fünf Jahre vor dem Tod des letzten Kaisers von China.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Das Leben als Kaiser ist trübselig: Es spielt sich hinter ver­schlosse­nen Türen ab, abgeschieden von der Außenwelt und von Freunden. Die Einhaltung der Etikette und all der Vorschriften des Palastes ist für das Kind eine Qual. Vor den Augen des Lesers verblasst der Glanz der scheinbar grandiosen Welt, sobald er hinter die Kulissen blickt.
  • Pu Yis Charakter macht eine starke Wandlung durch. Solange seine Umgebung dem Kaiser Respekt zollt, kann er sich alles erlauben und seine Launen an den Schwächeren auslassen, ohne dass ihn jemand zur Rechen­schaft zieht. Da Pu Yi von seinen Lehrern kein brauchbares Wissen vermittelt wird, haben alle Intriganten ein leichtes Spiel mit ihm und können ihn für eigene Zwecke ausnutzen. Schließlich zeigt sich an Pu Yis Beispiel auch, wie die Angst um das eigene Leben aus einem Menschen einen Sadisten und Feigling machen kann.
  • Pu Yi ist Opfer und Täter zugleich. Bei ihren Eroberungszügen in Asien während des Zweiten Weltkriegs beziehen die japanischen Aggressoren den Kaiser von Anfang an in ihre Kriegsstrate­gie mit ein. Aufgrund seiner Charak­ter­schwäche ist Pu Yi lange Zeit unfähig, selbstständig Entschei­dun­gen zu fällen. In der Folge stilisiert er sich zum ohnmächtigen Opfer der Japaner. Erst während der Gefan­gen­schaft erkennt er eigene Schuld und Ve­r­ant­wor­tung.
  • Das nach­sichtige Verhalten der Kommunisten gegenüber den Gefangenen, die Kombination aus Strafe und Milde, die Umerziehung durch Arbeit bei gle­ichzeit­iger ide­ol­o­gis­cher Un­ter­weisung, all das soll zeigen, dass alle, sogar Pu Yi, eine Zukunft im neuen Staat haben. Insofern kann das Buch auch als Anleitung für eine kom­mu­nis­tis­che Umerziehung in­ter­pretiert werden. Die Stufenfolge lautet: Angriff auf die eigene Identität, Erken­nt­nis­prozess, Iden­ti­fika­tion mit dem neuen System, Heilsweg des „neuen Menschen“, den allein die Partei zu bieten hat.

His­torischer Hintergrund

China: vom Kaisertum zum Kommunismus

Die mand­schurische Qing-Dy­nas­tie, die 1644 die chinesische Ming-Dy­nas­tie ablöste, regierte China als letzte Kaiser­dy­nas­tie bis 1911. Ursprünglich stammten die Mandschus aus dem Nordosten Chinas. Dort war das Kaiserhaus auch nach dem Sturz der Monarchie verwurzelt, weshalb Restau­ra­tions­bemühungen vor allem von jenen Warlords ausgingen, die das nördliche Territorium unter sich aufgeteilt hatten.

Die junge Republik China, die 1912 ausgerufen wurde, litt unter internen Macht­in­tri­gen, die sich schließlich der Gen­er­alis­simus Chiang Kai-Schek zunutze machte. Doch anstatt der immer ag­gres­siv­eren japanischen Expansion in China Einhalt zu gebieten, verausgabte sich Chiang Kai-Schek völlig im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten, die vor allem im ländlichen China viel Rückhalt hatten. Das japanische Kaiserreich regierte bald nicht nur den Mar­i­onet­ten­staat Mandschuguo, sondern unterjochte auch weite Teile Chinas und drangsalierte die chinesische Bevölkerung auf grausamste Weise. Nach der Ka­pit­u­la­tion Japans 1945 verschärfte sich der Bürgerkrieg zwischen den Armeen Chiang Kai-Scheks und Mao Zedongs. Mao ging als Sieger aus diesem „Bruderzwist“ hervor und rief am 1. Oktober 1949 die Volk­sre­pub­lik China aus.

Aufgrund der guten Beziehungen zwischen den beiden kom­mu­nis­tis­chen Staaten lieferte die Sowjetunion schon ein Jahr nach der Gründung der Volk­sre­pub­lik China die Kriegsver­brecher aus, die in Mandschuguo gewütet hatten. Durch eine sys­tem­a­tis­che Gehirnwäsche, mit der die kom­mu­nis­tis­chen Führer Chinas seit jeher feindliche Soldaten und Bevölkerungs­grup­pen auf ihre Seite zu ziehen versucht hatten, gelang ihnen die Umerziehung dieser Gefangenen.

Sein Erziehungsrezept übertrug Mao auf die ganze chinesische Gesellschaft. Insofern bildete er mit seiner Strategie der Einsicht, der Analyse und der geduldigen Arbeit den Gegenpol zur Liq­ui­da­tion­sstrate­gie Josef Stalins. Zudem verstand es Mao, an kon­fuzian­is­che Tugenden wie Loyalität, Selb­st­diszi­plin und Gehorsam zu appellieren und diese Werte für die kom­mu­nis­tis­che Umerziehung zu aktivieren.

Entstehung

1964 erschien in Peking Pu Yis Au­to­bi­ografie unter dem Titel Die erste Hälfte meines Lebens. Der Verdacht, dass er bei der Nieder­schrift bere­itwillig den Vorgaben der Kom­mu­nis­tis­chen Partei gefolgt ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Fakt ist, dass viele Autoren, Ministerien und Hunderte Experten und Berater im Auftrag der Partei an dem Text mitgewirkt haben.

Schon während seiner Haft wurde Pu Yi angeleitet, unter Aufsicht der Sicher­heits­behörden an seiner Biografie zu schreiben. Diese schriftlichen Geständnisse dienten dann tatsächlich als Grundlage für seine Memoiren. Außerdem stellte ihm der Verlag den Ghostwriter Li Wenda zur Seite, worauf sich der Umfang des Buches verdoppelte.

Wirkungs­geschichte

Die chinesische Ausgabe der Au­to­bi­ografie brachte es auf zahlreiche Auflagen in Millionenhöhe, das Buch wurde in Dutzende Sprachen übersetzt (1965 ins Deutsche) und schließlich 1987 vom ital­ienis­chen Regisseur Bernardo Bertolucci verfilmt. Die Rolle des Pu Yi spielte John Lone; Joan Chen stellte die Kaiserin und Peter O’Toole den schot­tis­chen Lehrer Reginald Fleming Johnston dar. Der Film wurde mit neun Oscars aus­geze­ich­net. Bertolucci stand übrigens Pu Dschiä, der Bruder von Pu Yi, zur Seite.

Das Buch erregte noch zu Pu Yis Lebzeiten die Aufmerk­samkeit der in­ter­na­tionalen Presse, Jour­nal­is­ten besuchten den prominenten Kriegsver­brecher und befragten ihn nach seiner Erfahrung im Gefängnis. Der Geläuterte stellte sich eindeutig hinter die neue kom­mu­nis­tis­che Regierung. Wurde der letzte Kaiser von China ein Opfer raf­finierter Gehirnwäsche und soll dieser Text als Beweis für seine er­fol­gre­iche Umerziehung dienen? Dann wäre Pu Yi einmal mehr zum Instrument anderer geworden, dieses Mal zu dem der maois­tis­chen Propaganda.

Heute kämpft der jüngste Bruder Pu Ren darum, die heiklen Stellen im Manuskript, die Pu Yi vor der Drucklegung der Au­to­bi­ografie zurückgezogen hat, nicht der breiten Öffentlichkeit zugängig zu machen. Der armeeeigene Verlag witterte darin aber das große Geschäft, und so wird Pu Yi wohl auch lange nach seinem Tod weiter das Opfer von Sen­sa­tion­s­gier und ökonomischen Interessen bleiben.

Über den Autor

Pu Yi wird am 7. Februar 1906 in Peking geboren. Am 13. November 1908 besteigt er im Alter von zwei Jahren den Kaiserthron, da kurz zuvor sein Onkel und Vorgänger unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Die Dynastie der mand­schurischen Qing unter der Herrschaft der Kaiser­in­witwe Tze Hsi will auf diese Weise ihren Fortbestand sichern. Aufgewach­sen am Kaiserhof unter den wachsamen Augen der Kaiser­in­witwe, genießt Pu Yi nur wenig kindliche Freuden. Erst mit sieben Jahren kommt er überhaupt in Kontakt mit anderen Kindern – und hat auch später keinerlei Hand­lungsspiel­raum. Am 12. Februar 1912 wird er nach der Ausrufung der Republik China zur Abdankung gezwungen, lebt aber weiterhin im Kaiser­palast. 1917 regiert er für wenige Tage wieder als Kaiser, doch die Republik weiß sofort gegen diese Restau­ra­tion einzuschre­iten. 1922 wird Pu Yi gleich mit zwei Frauen verheiratet: Die Hauptfrau, die Kaiserin, stirbt später an ihrer Opiumsucht, und die Nebenfrau lässt sich nach neun Jahren scheiden. 1924 flieht Pu Yi zur japanischen Gesandtschaft nach Tientsin. 1934 wird ihm der Kaisertitel des japanischen Mar­i­onet­ten­staates Mandschuguo im Nordosten Chinas verliehen. 1945 misslingt Pu Yi nach der japanischen Ka­pit­u­la­tion die Flucht nach Japan, und er gerät in sowjetische Gefan­gen­schaft. 1950 wird er nach China aus­geliefert und anschließend in chi­ne­sis­chen Gefängnissen zu einem neuen Menschen umerzogen. 1959 kommt er durch einen Gnaden­er­lass Maos frei. Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er in Peking, wo er zunächst als Gärtner, später als Literatur- und Geschichts­forscher arbeitet. 1962 heiratet Pu Yi die Kranken­schwester Li Shuxian. 1964 wird er vollkommen re­ha­bil­i­tiert. Als 1966 die so genannte Kul­tur­rev­o­lu­tion ausbricht, werden viele, die Pu Yi unterstützt haben, denunziert. Auch Pu Yi wird ständig verhört, er leidet an der De­nun­zi­a­tion der anderen und stirbt schließlich seelisch und körperlich gebrochen am 17. Oktober 1967 an Nierenkrebs. Der zweite Teil seiner Au­to­bi­ografie bleibt unvollendet.