Ist der Markt noch zu retten?

Buch Ist der Markt noch zu retten?

Warum wir jetzt einen starken Staat brauchen

Econ,


Rezension

Peter Bofinger weiß, was an den Stammtis­chen über Politiker gedacht und gesagt wird. Und über den Staat, der nur nimmt und nimmt und nimmt. Schwierig, unter solchen Vorzeichen zu einer Ehren­ret­tung anzutreten. Als einer der pro­fil­iertesten deutschen Volkswirte nimmt Bofinger das Wagnis trotzdem auf sich. Schlauer­weise gibt er erst zu, was falsch läuft, dreht dann den Spieß aber um und sagt: Der Staat ist jeder Einzelne von uns. Er ist nur so kraftvoll, wie wir ihn machen. Bofingers Wunsch: ein starker Bürgerstaat, der ein Gegengewicht zu den aus dem Ruder gelaufenen Marktkräften bildet. Mehr noch: der dem Markt die Spielregeln vorgibt. Damit, so der Autor, wäre die Titelfrage „Ist der Markt noch zu retten?“ durchaus positiv zu beantworten. Ein klar analysieren­des und elegant geschriebenes Plädoyer für mehr Bürgersinn, meint BooksInShort und empfiehlt das Buch allen, deren unbedingter Glaube an die Mark­twirtschaft ein wenig ins Wanken geraten ist.

Take-aways

  • Ein mark­tlib­erales „Weiter so“ führt un­weiger­lich zur nächsten globalen Wirtschaft­skrise.
  • Nötig ist ein starker Staat, der Spielregeln aufstellt und durchsetzt.
  • Die Macht kommt von den Bürgern: Sie müssen den Staat als ihren Staat annehmen.
  • Dafür muss der Staat trans­par­enter werden: Die Bürger müssen nachvol­lziehen können, wofür ihre Steuern und Abgaben verwendet werden.
  • Wenn Großbanken pleitegehen, sollen sie nicht künstlich am Leben erhalten, sondern ver­staatlicht werden.
  • Durch die Aufteilung in eine „Bad Bank“ und eine „Good Bank“ und den erneuten Börsengang der Letzteren wird der Staat wenigstens teilweise entschädigt.
  • Das gilt auch für andere große Unternehmen, die Bankrott machen: Der Staat soll als In­sol­ven­zvertreter agieren.
  • Es braucht ein globales Kred­itreg­is­ter für Großkredite, das als Frühwarnsystem dient.
  • Deutschland muss in Bildung investieren, um nicht hinter andere, besser ausbildende Länder zurückzufallen.
  • Wer arbeitet, muss an der steigenden Produktivität teilhaben. Eine negative Einkom­menss­teuer für zu niedrige Einkommen ist nötig.
 

Zusammenfassung

Das Comeback des Staates

Weltweit sorgt der Staat derzeit dafür, dass der Kap­i­tal­is­mus nicht zusam­men­bricht. Anstatt wie zu Zeiten der Großen Depression (vergeblich) auf die Selb­s­theilungskräfte des Marktes zu setzen, versuchen Politiker und Notenbanken mit Steuer- und Zinssenkun­gen zu verhindern, dass die global vernetzte Wirtschaft kollabiert. Es ist bereits abzusehen, dass die Hilfe wirkt. Die Weltwirtschaft wird wieder in die Gänge kommen. Die Frage ist nur: Wie wird sie dann aussehen? Anders formuliert: Wie lässt sich vermeiden, dass ähnliche Mechanismen wieder greifen und erneut zum Kollaps führen?

„Es steht außer Zweifel, dass es heute ohne die massiven staatlichen Eingriffe kein funktionsfähiges Fi­nanzsys­tem mehr gäbe.“

Wer nur an strengere Regeln für die Banke­nauf­sicht denkt und ansonsten „Weiter so!“ ruft, denkt nicht weit genug. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren erkennen müssen, welche selbstzerstörerischen Kräfte ein System entwickeln kann, das sich selbst überlassen wird. Zuvor war jahrzehn­te­lang der Glaube an den Markt gewachsen, entsprechend hatte die Politik sich zurückdrängen lassen. Jetzt ist die Zeit gekommen, das Verhältnis umzudrehen: Was wir brauchen, ist ein Markt unter Aufsicht des Staates – nicht umgekehrt. Nur so kann die wirtschaftliche Dynamik den allgemeinen Wohlstand mehren.

„Die Finanzkrise wird mehr oder weniger als Be­trieb­sun­fall in der deutschen Wirtschaft­spoli­tik betrachtet.“

Dabei ist kein „Vater Staat“ gefragt, der unantastbar und un­hin­ter­frag­bar Geld einnimmt und wieder ausgibt. Denn diese fehlende Transparenz sorgt nicht zuletzt für die Distanz, mit der viele Menschen den staatlichen In­sti­tu­tio­nen gegenüberstehen. Gebraucht wird ein trans­par­enter Staat, ein Staat, der von seinen Bürgern gebildet wird, die sich mit ihm iden­ti­fizieren. Ein schwieriger Weg, aber ein lohnender.

„Die selbstzerstörerischen Tendenzen eines zu starken Marktes sind un­verkennbar.“

Es gibt keinen Gegensatz zwischen Markt und Staat, wie er zwei Jahrzehnte lang konstruiert worden ist. Beide In­sti­tu­tio­nen müssen zusammen spielen. Das wird jetzt klar, nachdem der Markt un­kon­trol­liert ins Aus getorkelt ist. Ebenso ist of­fen­sichtlich, dass es der Staat ist, der die Zügel in der Hand haben muss. Er muss nicht selbst Markt spielen – das würde schiefgehen. Aber er muss die Spielregeln aufstellen – und kon­trol­lieren –, nach denen die Akteure im Markt agieren.

„Der demokratis­che Staat und die soziale Mark­twirtschaft werden entweder gemeinsam siegen oder gemeinsam untergehen.“

Das erfordert ein Umdenken. Die Lehren der Großen Depression sind in Vergessen­heit geraten – kein Wunder, das Ganze ist schließlich schon 80 Jahre her. Die Politiker von heute trauen sich kaum, die Dynamik der Märkte zu begrenzen. Gerade in Deutschland sind staatliche Kon­junk­turhil­fen deshalb spät und halbherzig beschlossen worden. Dabei wäre Klotzen angesagt, nicht Kleckern! Leider gibt es einige europäische Länder wie Italien, Griechen­land oder die Niederlande, die als Trit­tbret­tfahrer agieren und keinerlei kon­junk­turelle Maßnahmen ergreifen – von einem ein­heitlichen europäischen Vorgehen kann nicht die Rede sein.

Wann Ver­staatlichung sinnvoll ist

Im Zentrum der Krise stehen die Banken. Niemand weiß, wie solvent sie eigentlich noch sind. Pumpt der Staat weiter Mil­liar­den­beträge in angeschla­gene Institute, besteht die Gefahr, dass die Steuerzahler dafür sorgen, dass die Bankaktionäre ungeschoren aus der Krise hervorgehen. Sinnvoll wäre das nicht. Die Alternative heißt: Ver­staatlichung.

„Die Krise des Marktes hat das Potenzial, zu einer Krise der Demokratie zu werden.“

Allein der Gedanke wäre noch vor wenigen Jahren verworfen worden. Nun zeigt er sich als re­al­is­tis­che Option: Wenn ein Unternehmen insolvent wird, verliert der Eigentümer die Verfügungsmacht darüber. Das gilt auch für Banken. Da die Insolvenz bei größeren Banken jedoch eine Ket­ten­reak­tion auslösen kann (siehe Lehman Brothers), muss der Staat einspringen, um die Geschäfte am Laufen zu halten. So lassen sich die einge­set­zten Steuergelder nutzen, ohne dass die Aktionäre davon profitieren. Altlasten können dann in eine „Bad Bank“ überführt werden, und die überlebende „Good Bank“ kann über einen Börsengang wieder pri­vatisiert werden. Die Einnahmen beim Börsengang sind dann zumindest teilweise ein Ausgleich für die aus­gegebe­nen Steuergelder.

„Wenn der staatliche Rahmen richtig gesetzt wird, kann der Markt seine Stärken voll ausspielen.“

Für andere Unternehmen gilt dasselbe: Die einzige angemessene Staatshilfe besteht im Auftritt des Staates als In­sol­ven­zver­wal­ter. Es gibt keinen Grund, Unternehmen wie Opel oder Schaeffler mit Steuergeldern über Wasser zu halten. Staatliche Garantien wären in diesen Fällen kon­trapro­duk­tiv. Geraten gesunde Unternehmen in Schieflage, sollte der Staat den Neustart nach der Insolvenz finanziell durch einen Deutsch­land­fonds ermöglichen. Ein solcher Fonds, den es in anderen Staaten längst gibt, würde als Holding für alle staatlichen Beteili­gun­gen – Banken und andere Unternehmen – fungieren. Formal wäre es eine Ak­tienge­sellschaft mit eigenem Vorstand, Staatsvertreter säßen im Auf­sicht­srat.

Vertrauen taugt nichts, Kontrolle tut Not

Das Fi­nanzsys­tem braucht bessere Kontrolle. Wie die Ver­gan­gen­heit zeigt, sind nationale Interessen zu stark, als dass re­al­is­tis­cher­weise eine globale oder auch nur eine europäische Lösung anzustreben wäre. Jede Nation ist gefordert. Das heißt aber nicht, auf in­ter­na­tionale Vere­in­barun­gen zu verzichten. Der Ansatz, dass Banken alle vergebenen Großkredite einem globalen Kred­itreg­is­ter melden sollen, ist sinnvoll. In Deutschland gibt es ein solches Register für Kredite ab 1,5 Mio. Euro seit Jahrzehnten. Ein solches Register wäre zugleich ein Frühwarnsystem. Ein weiterer Ansatzpunkt: Das Verhältnis des Eigenkap­i­tals zur Bilanzsumme muss bei Banken wieder erhöht werden.

„Wech­selkur­spoli­tik darf keine nationale An­gele­gen­heit sein.“

Zu hin­ter­fra­gen ist die Rolle der Rat­ing-Agen­turen. Sie haben Fi­nanzpro­duk­ten beste Bonität bestätigt, die heute als „toxic papers“ verteufelt werden. Mit den Fähigkeiten oder aber mit der Unabhängigkeit dieser Agenturen scheint es nicht zum Besten zu stehen. Solange die großen Drei (Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch) keine ernsthafte Konkurrenz haben, ist ihr Status nicht bedroht. Das könnte sich ändern, wenn eine staatliche – möglichst auf EU-Ebene an­ge­siedelte – Rat­ing-Agen­tur entstünde, die keine Rücksicht auf die eigene Gewin­n­max­imierung nehmen müsste.

„Anstelle des ,Wohlstands für alle‘ ist in diesem Jahrzehnt der ,Luxus für wenige‘ getreten.“

Zwei weitere Ideen, kurz angerissen: Boni für Bankmanager sollten nicht für das abgelaufene Jahr gelten, sondern über einen Zeitraum von beispiel­sweise vier Jahren gestreckt und erst nach Ablauf dieser Frist ausgezahlt werden. Und um zu verhindern, dass Fi­nanz­in­ve­storen aufgekaufte Firmen mit Schulden überladen und so zum Zusam­men­bruch führen, sollten sie beim Erwerb 10 % des Un­ternehmenswerts als Steuer zahlen („Heuschreck­en­s­teuer“). Prosperiert das Unternehmen nach zehn Jahren noch, wird die Summe rückerstattet.

„Die zunehmende in­ter­na­tionale Ar­beit­steilung ist kein Grund für ein kollektives ,Gürtel-en­ger-Schnallen‘.“

Aus schwank­enden Wech­selkursen finanzielle Vorteile her­auszuschla­gen, ist längst nicht mehr das Privileg von Börsenzockern. Ganze Volk­swirtschaften ma­nip­ulieren die Stärke ihrer Währung durch Auf- und Abwertungen. Das gilt es zu stoppen, am besten durch eine globale Währung­sor­d­nung, angelehnt an den Vorgänger von 1944, das Bret­ton-Woods-Sys­tem.

Sozialer Kahlschlag ist ein Irrweg

Deutschland hat seit dem Jahrtausendwech­sel nicht nur die Staatsquote herun­terge­fahren, es hat auch die Löhne faktisch eingefroren. Das koppelt die Ar­beit­nehmer vom gestiegenen volk­swirtschaftlichen Wohlstand ab und schadet den Unternehmen, indem es die Konsumlust dämpft. Die Besserver­di­enen­den haben zugeschla­gen, ihre Einkommen sind stark angestiegen. Auf der anderen Seite schrumpft die Mit­telschicht: Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren in die Un­ter­schicht abgerutscht – dieser Effekt ist in keiner ver­gle­ich­baren Volk­swirtschaft so stark. Der Traum vom besseren Leben, der die Bun­desre­pub­lik Deutschland seit ihrem Bestehen angefeuert hat, scheint ausgeträumt. Damit sinkt das Vertrauen in Sinn und Wert der sozialen Mark­twirtschaft. Die Umfragen zeichnen ein eindeutiges Bild: Die Zustimmung sinkt, im Osten Deutsch­lands noch schneller als im Westen. Der Staat gilt als Krake, der die Bürger ausnimmt. Und da er von gewählten Politikern geführt wird, sinkt auch die Wertschätzung für die Demokratie. Das zeigt sich beispiel­sweise an der ständig sinkenden Wahlbeteili­gung.

„Für die meisten Deutschen war die Zeit nach der Jahrtausendwende ein verlorenes Jahrzehnt.“

Wenn weder die Demokratie noch der Staat etablierte Werte sind, wird auch die Glob­al­isierung eher als Gefahr denn als Chance gesehen. Sie wird als un­kon­trol­lier­bare Macht dämonisiert und direkt für die Kürzungen im Sozial­bere­ich ve­r­ant­wortlich gemacht. Das aber ist falsch: Einen direkten Bezug zwischen der Glob­al­isierung und der Notwendigkeit, soziale Leistungen zu kürzen, gibt es nicht. Im Gegenteil: Deutschland profitiert von der Glob­al­isierung – versäumt es aber, diesen Gewinn an alle Bürger auszuschütten. Das muss sich ändern, wenn der Markt und die Demokratie eine Zukunft haben sollen. Mindestlöhne sind notwendig. Wer voll arbeitet und trotzdem – wegen Familie – nicht über die Runden kommt, muss vom Staat in Form einer negativen Einkom­men­steuer unterstützt werden: Zu niedrige Löhne werden automatisch aufgestockt. Generell gilt: Die Ar­beit­nehmer müssen wieder am Produktivitäts­fortschritt beteiligt werden. Die ent­ge­genge­set­zte Strategie – Lohn­verzicht als Heilmittel – schadet nur der deutschen Volk­swirtschaft, da die Nachfrage einbrechen würde.

„Der Na­tion­al­staat muss dafür sorgen, dass Arbeit sich auch lohnt.“

Gerupft werden deutsche Ar­beit­nehmer auch durch die Steuern. Während die Besserver­di­enen­den zwar jammern, aber noch genügend im Porte­mon­naie behalten, wird denjenigen, die schlechter verdienen, mehr abgezogen als in den meisten anderen In­dus­tri­es­taaten. Damit werden die Schwachen zusätzlich unter Druck gesetzt. Kein Wunder, dass ein Großteil der Deutschen das Steuer­sys­tem für ungerecht hält. Investieren muss der Staat in Bildung. Es kann nicht angehen, dass alle ver­gle­ich­baren Länder deutlich mehr Geld dafür ausgeben. Kinder aus Arbeiter- oder Mi­granten­fam­i­lien haben in Deutschland wesentlich schlechtere Chancen, eine Hochschule zu besuchen, als in allen anderen westeuropäischen Ländern. Bildung ist mehr als ein „nice to have“: Bereits jetzt fehlen Fachar­beiter, spätestens in 10–15 Jahren wird Deutschland hinter besser ausbildende Länder zurückfallen.

Der Staat: Besser als sein Ruf

Der Staat ist in der Bringschuld: In Zeiten stetiger Entfremdung muss er zeigen, was er anfängt mit all dem Geld, das er über Steuern und Abgaben von seinen Bürgern einnimmt. Es fließt nämlich keineswegs nur in Bürokratie und Politikerdiäten, wie an Stammtis­chen gern gemutmaßt wird. Die nötige Transparenz zu erreichen ist nicht schwierig: Die Daten gibt es schon längst. Aus ihnen ergibt sich beispiel­sweise für das Jahr 2003, dass der Staat seine Mittel u. a. so ausgibt:

  • gut 25 % für die Rentner und die Versorgung der Hin­terbliebe­nen,
  • für das Gesund­heitssys­tem knapp 14 %,
  • für die Bildung 9 %,
  • für den Schulden­di­enst und das Ar­beit­slosen­geld jeweils 6 %,
  • für die „allgemeine Verwaltung“ nur rund 5 %.
„Die Bürger müssen wissen, wohin ihre ganzen Abgaben fließen.“

Ein trans­par­enter Staat sollte eine solche Tabelle als Tätigkeit­snach­weis an alle Bürger schicken. So wird sichtbar, wie jeder von uns vom staatlichen Wirken profitiert. Der Staat ist kein Monster, sondern ein Anwalt der Schwachen – und der Garant für eine Zukunft, in der es sich zu leben lohnt. Dafür brauchen wir, was den Deutschen weitgehend abhanden gekommen ist: Bürgersinn. Denn der Staat, das sind wir.

Über den Autor

Peter Bofinger lehrt Volk­swirtschaft an der Universität Würzburg und ist einer der deutschen „Wirtschaftsweisen“. Er zählt zu den promi­nen­testen und stre­it­barsten Ökonomen in Deutschland, die sich immer wieder in aktuelle politische Debatten einschalten. Bofinger ist auch Autor des Buches Wir sind besser als wir glauben.