Das Comeback des Staates
Weltweit sorgt der Staat derzeit dafür, dass der Kapitalismus nicht zusammenbricht. Anstatt wie zu Zeiten der Großen Depression (vergeblich) auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen, versuchen Politiker und Notenbanken mit Steuer- und Zinssenkungen zu verhindern, dass die global vernetzte Wirtschaft kollabiert. Es ist bereits abzusehen, dass die Hilfe wirkt. Die Weltwirtschaft wird wieder in die Gänge kommen. Die Frage ist nur: Wie wird sie dann aussehen? Anders formuliert: Wie lässt sich vermeiden, dass ähnliche Mechanismen wieder greifen und erneut zum Kollaps führen?
„Es steht außer Zweifel, dass es heute ohne die massiven staatlichen Eingriffe kein funktionsfähiges Finanzsystem mehr gäbe.“
Wer nur an strengere Regeln für die Bankenaufsicht denkt und ansonsten „Weiter so!“ ruft, denkt nicht weit genug. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren erkennen müssen, welche selbstzerstörerischen Kräfte ein System entwickeln kann, das sich selbst überlassen wird. Zuvor war jahrzehntelang der Glaube an den Markt gewachsen, entsprechend hatte die Politik sich zurückdrängen lassen. Jetzt ist die Zeit gekommen, das Verhältnis umzudrehen: Was wir brauchen, ist ein Markt unter Aufsicht des Staates – nicht umgekehrt. Nur so kann die wirtschaftliche Dynamik den allgemeinen Wohlstand mehren.
„Die Finanzkrise wird mehr oder weniger als Betriebsunfall in der deutschen Wirtschaftspolitik betrachtet.“
Dabei ist kein „Vater Staat“ gefragt, der unantastbar und unhinterfragbar Geld einnimmt und wieder ausgibt. Denn diese fehlende Transparenz sorgt nicht zuletzt für die Distanz, mit der viele Menschen den staatlichen Institutionen gegenüberstehen. Gebraucht wird ein transparenter Staat, ein Staat, der von seinen Bürgern gebildet wird, die sich mit ihm identifizieren. Ein schwieriger Weg, aber ein lohnender.
„Die selbstzerstörerischen Tendenzen eines zu starken Marktes sind unverkennbar.“
Es gibt keinen Gegensatz zwischen Markt und Staat, wie er zwei Jahrzehnte lang konstruiert worden ist. Beide Institutionen müssen zusammen spielen. Das wird jetzt klar, nachdem der Markt unkontrolliert ins Aus getorkelt ist. Ebenso ist offensichtlich, dass es der Staat ist, der die Zügel in der Hand haben muss. Er muss nicht selbst Markt spielen – das würde schiefgehen. Aber er muss die Spielregeln aufstellen – und kontrollieren –, nach denen die Akteure im Markt agieren.
„Der demokratische Staat und die soziale Marktwirtschaft werden entweder gemeinsam siegen oder gemeinsam untergehen.“
Das erfordert ein Umdenken. Die Lehren der Großen Depression sind in Vergessenheit geraten – kein Wunder, das Ganze ist schließlich schon 80 Jahre her. Die Politiker von heute trauen sich kaum, die Dynamik der Märkte zu begrenzen. Gerade in Deutschland sind staatliche Konjunkturhilfen deshalb spät und halbherzig beschlossen worden. Dabei wäre Klotzen angesagt, nicht Kleckern! Leider gibt es einige europäische Länder wie Italien, Griechenland oder die Niederlande, die als Trittbrettfahrer agieren und keinerlei konjunkturelle Maßnahmen ergreifen – von einem einheitlichen europäischen Vorgehen kann nicht die Rede sein.
Wann Verstaatlichung sinnvoll ist
Im Zentrum der Krise stehen die Banken. Niemand weiß, wie solvent sie eigentlich noch sind. Pumpt der Staat weiter Milliardenbeträge in angeschlagene Institute, besteht die Gefahr, dass die Steuerzahler dafür sorgen, dass die Bankaktionäre ungeschoren aus der Krise hervorgehen. Sinnvoll wäre das nicht. Die Alternative heißt: Verstaatlichung.
„Die Krise des Marktes hat das Potenzial, zu einer Krise der Demokratie zu werden.“
Allein der Gedanke wäre noch vor wenigen Jahren verworfen worden. Nun zeigt er sich als realistische Option: Wenn ein Unternehmen insolvent wird, verliert der Eigentümer die Verfügungsmacht darüber. Das gilt auch für Banken. Da die Insolvenz bei größeren Banken jedoch eine Kettenreaktion auslösen kann (siehe Lehman Brothers), muss der Staat einspringen, um die Geschäfte am Laufen zu halten. So lassen sich die eingesetzten Steuergelder nutzen, ohne dass die Aktionäre davon profitieren. Altlasten können dann in eine „Bad Bank“ überführt werden, und die überlebende „Good Bank“ kann über einen Börsengang wieder privatisiert werden. Die Einnahmen beim Börsengang sind dann zumindest teilweise ein Ausgleich für die ausgegebenen Steuergelder.
„Wenn der staatliche Rahmen richtig gesetzt wird, kann der Markt seine Stärken voll ausspielen.“
Für andere Unternehmen gilt dasselbe: Die einzige angemessene Staatshilfe besteht im Auftritt des Staates als Insolvenzverwalter. Es gibt keinen Grund, Unternehmen wie Opel oder Schaeffler mit Steuergeldern über Wasser zu halten. Staatliche Garantien wären in diesen Fällen kontraproduktiv. Geraten gesunde Unternehmen in Schieflage, sollte der Staat den Neustart nach der Insolvenz finanziell durch einen Deutschlandfonds ermöglichen. Ein solcher Fonds, den es in anderen Staaten längst gibt, würde als Holding für alle staatlichen Beteiligungen – Banken und andere Unternehmen – fungieren. Formal wäre es eine Aktiengesellschaft mit eigenem Vorstand, Staatsvertreter säßen im Aufsichtsrat.
Vertrauen taugt nichts, Kontrolle tut Not
Das Finanzsystem braucht bessere Kontrolle. Wie die Vergangenheit zeigt, sind nationale Interessen zu stark, als dass realistischerweise eine globale oder auch nur eine europäische Lösung anzustreben wäre. Jede Nation ist gefordert. Das heißt aber nicht, auf internationale Vereinbarungen zu verzichten. Der Ansatz, dass Banken alle vergebenen Großkredite einem globalen Kreditregister melden sollen, ist sinnvoll. In Deutschland gibt es ein solches Register für Kredite ab 1,5 Mio. Euro seit Jahrzehnten. Ein solches Register wäre zugleich ein Frühwarnsystem. Ein weiterer Ansatzpunkt: Das Verhältnis des Eigenkapitals zur Bilanzsumme muss bei Banken wieder erhöht werden.
„Wechselkurspolitik darf keine nationale Angelegenheit sein.“
Zu hinterfragen ist die Rolle der Rating-Agenturen. Sie haben Finanzprodukten beste Bonität bestätigt, die heute als „toxic papers“ verteufelt werden. Mit den Fähigkeiten oder aber mit der Unabhängigkeit dieser Agenturen scheint es nicht zum Besten zu stehen. Solange die großen Drei (Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch) keine ernsthafte Konkurrenz haben, ist ihr Status nicht bedroht. Das könnte sich ändern, wenn eine staatliche – möglichst auf EU-Ebene angesiedelte – Rating-Agentur entstünde, die keine Rücksicht auf die eigene Gewinnmaximierung nehmen müsste.
„Anstelle des ,Wohlstands für alle‘ ist in diesem Jahrzehnt der ,Luxus für wenige‘ getreten.“
Zwei weitere Ideen, kurz angerissen: Boni für Bankmanager sollten nicht für das abgelaufene Jahr gelten, sondern über einen Zeitraum von beispielsweise vier Jahren gestreckt und erst nach Ablauf dieser Frist ausgezahlt werden. Und um zu verhindern, dass Finanzinvestoren aufgekaufte Firmen mit Schulden überladen und so zum Zusammenbruch führen, sollten sie beim Erwerb 10 % des Unternehmenswerts als Steuer zahlen („Heuschreckensteuer“). Prosperiert das Unternehmen nach zehn Jahren noch, wird die Summe rückerstattet.
„Die zunehmende internationale Arbeitsteilung ist kein Grund für ein kollektives ,Gürtel-enger-Schnallen‘.“
Aus schwankenden Wechselkursen finanzielle Vorteile herauszuschlagen, ist längst nicht mehr das Privileg von Börsenzockern. Ganze Volkswirtschaften manipulieren die Stärke ihrer Währung durch Auf- und Abwertungen. Das gilt es zu stoppen, am besten durch eine globale Währungsordnung, angelehnt an den Vorgänger von 1944, das Bretton-Woods-System.
Sozialer Kahlschlag ist ein Irrweg
Deutschland hat seit dem Jahrtausendwechsel nicht nur die Staatsquote heruntergefahren, es hat auch die Löhne faktisch eingefroren. Das koppelt die Arbeitnehmer vom gestiegenen volkswirtschaftlichen Wohlstand ab und schadet den Unternehmen, indem es die Konsumlust dämpft. Die Besserverdienenden haben zugeschlagen, ihre Einkommen sind stark angestiegen. Auf der anderen Seite schrumpft die Mittelschicht: Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren in die Unterschicht abgerutscht – dieser Effekt ist in keiner vergleichbaren Volkswirtschaft so stark. Der Traum vom besseren Leben, der die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen angefeuert hat, scheint ausgeträumt. Damit sinkt das Vertrauen in Sinn und Wert der sozialen Marktwirtschaft. Die Umfragen zeichnen ein eindeutiges Bild: Die Zustimmung sinkt, im Osten Deutschlands noch schneller als im Westen. Der Staat gilt als Krake, der die Bürger ausnimmt. Und da er von gewählten Politikern geführt wird, sinkt auch die Wertschätzung für die Demokratie. Das zeigt sich beispielsweise an der ständig sinkenden Wahlbeteiligung.
„Für die meisten Deutschen war die Zeit nach der Jahrtausendwende ein verlorenes Jahrzehnt.“
Wenn weder die Demokratie noch der Staat etablierte Werte sind, wird auch die Globalisierung eher als Gefahr denn als Chance gesehen. Sie wird als unkontrollierbare Macht dämonisiert und direkt für die Kürzungen im Sozialbereich verantwortlich gemacht. Das aber ist falsch: Einen direkten Bezug zwischen der Globalisierung und der Notwendigkeit, soziale Leistungen zu kürzen, gibt es nicht. Im Gegenteil: Deutschland profitiert von der Globalisierung – versäumt es aber, diesen Gewinn an alle Bürger auszuschütten. Das muss sich ändern, wenn der Markt und die Demokratie eine Zukunft haben sollen. Mindestlöhne sind notwendig. Wer voll arbeitet und trotzdem – wegen Familie – nicht über die Runden kommt, muss vom Staat in Form einer negativen Einkommensteuer unterstützt werden: Zu niedrige Löhne werden automatisch aufgestockt. Generell gilt: Die Arbeitnehmer müssen wieder am Produktivitätsfortschritt beteiligt werden. Die entgegengesetzte Strategie – Lohnverzicht als Heilmittel – schadet nur der deutschen Volkswirtschaft, da die Nachfrage einbrechen würde.
„Der Nationalstaat muss dafür sorgen, dass Arbeit sich auch lohnt.“
Gerupft werden deutsche Arbeitnehmer auch durch die Steuern. Während die Besserverdienenden zwar jammern, aber noch genügend im Portemonnaie behalten, wird denjenigen, die schlechter verdienen, mehr abgezogen als in den meisten anderen Industriestaaten. Damit werden die Schwachen zusätzlich unter Druck gesetzt. Kein Wunder, dass ein Großteil der Deutschen das Steuersystem für ungerecht hält. Investieren muss der Staat in Bildung. Es kann nicht angehen, dass alle vergleichbaren Länder deutlich mehr Geld dafür ausgeben. Kinder aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien haben in Deutschland wesentlich schlechtere Chancen, eine Hochschule zu besuchen, als in allen anderen westeuropäischen Ländern. Bildung ist mehr als ein „nice to have“: Bereits jetzt fehlen Facharbeiter, spätestens in 10–15 Jahren wird Deutschland hinter besser ausbildende Länder zurückfallen.
Der Staat: Besser als sein Ruf
Der Staat ist in der Bringschuld: In Zeiten stetiger Entfremdung muss er zeigen, was er anfängt mit all dem Geld, das er über Steuern und Abgaben von seinen Bürgern einnimmt. Es fließt nämlich keineswegs nur in Bürokratie und Politikerdiäten, wie an Stammtischen gern gemutmaßt wird. Die nötige Transparenz zu erreichen ist nicht schwierig: Die Daten gibt es schon längst. Aus ihnen ergibt sich beispielsweise für das Jahr 2003, dass der Staat seine Mittel u. a. so ausgibt:
- gut 25 % für die Rentner und die Versorgung der Hinterbliebenen,
- für das Gesundheitssystem knapp 14 %,
- für die Bildung 9 %,
- für den Schuldendienst und das Arbeitslosengeld jeweils 6 %,
- für die „allgemeine Verwaltung“ nur rund 5 %.
„Die Bürger müssen wissen, wohin ihre ganzen Abgaben fließen.“
Ein transparenter Staat sollte eine solche Tabelle als Tätigkeitsnachweis an alle Bürger schicken. So wird sichtbar, wie jeder von uns vom staatlichen Wirken profitiert. Der Staat ist kein Monster, sondern ein Anwalt der Schwachen – und der Garant für eine Zukunft, in der es sich zu leben lohnt. Dafür brauchen wir, was den Deutschen weitgehend abhanden gekommen ist: Bürgersinn. Denn der Staat, das sind wir.