Was denkt China?

Buch Was denkt China?

dtv,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Wird China durch den wachsenden Wohlstand automatisch in eine Demokratie westlichen Zuschnitts verwandelt? Die Erwartungen vieler abendländischer Experten sind für Mark Leonard alles andere als realistisch. Nach zahlreichen Reisen in das Reich der Mitte und unzähligen Gesprächen mit In­tellek­tuellen, Politikern und Wis­senschaftlern sieht er Anzeichen für einen anderen, einen eigentümlich-chi­ne­sis­chen Weg, der die Theorie über den Zusam­men­hang von Wirtschaftswach­s­tum, Mark­twirtschaft und Demokratisierung Lügen straft. In einer, wie für angelsächsische Sachbücher typisch, packenden Art und Weise erläutert Leonard, welche Antworten die Chinesen selbst auf die aktuellen ökonomischen, sozialen und politischen Her­aus­forderun­gen haben. Es zeichnet sich ab, dass der zunehmende Einfluss des riesigen Landes das globale Kräfteverhältnis schon bald verändern wird. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Westlern, die wissen möchten, welche Rolle die Chinesen in der künftigen Weltordnung für sie vorgesehen haben.

Take-aways

  • Chinas Hinwendung zum Kap­i­tal­is­mus führt nicht automatisch zu einer Anpassung an westliche Werte.
  • Chinesische Denker entwickeln eigenständige Konzepte der Glob­al­isierung, die westliche Modelle mit chi­ne­sis­chen Wertvorstel­lun­gen verknüpfen.
  • Markt- und Plan­wirtschaft liefen in China zunächst parallel; eine Schock­ther­a­pie wie im ehemaligen Ostblock gab es nicht.
  • Das ungebremste Wachstum führt zu massiven sozialen und ökologischen Problemen.
  • Die Chinesen glauben, dass nur ein starker Staat diese Probleme bewältigen kann.
  • Eine Demokratisierung ist nicht in Sicht, China hat eine de­lib­er­a­tive Diktatur.
  • Der Grund für die In­ter­net­zen­sur ist vor allem die Angst vor „Ver­samm­lun­gen“, die sich gegen das Regime wenden könnten.
  • Die chinesische Außenpolitik strebt eine politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Macht­po­si­tion an.
  • China verfolgt eine mul­ti­lat­erale Sicher­heitsstrate­gie. Dazu gehört Kooperation, ohne die staatliche Souveränität zu beschädigen.
  • Chinas Konzept der Son­der­wirtschaft­szo­nen ist für viele En­twick­lungsländer eine attraktive Alternative zu westlicher En­twick­lung­shilfe.
 

Zusammenfassung

Chinas Weg

China hat in den letzten Jahrzehnten einen beispiel­losen Aufschwung hingelegt. Seit die ersten Son­der­wirtschaft­szo­nen errichtet wurden, hat sich das Reich der Mitte zu einem bedeutenden Mitspieler in der in­ter­na­tionalen Wirtschaft entwickelt. Chinesische Produkte finden sich in jedem westlichen Haushalt. Der einst rückständige Bauernstaat hat binnen nur 30 Jahren so große Schritte in Richtung Mod­ernisierung gemacht, dass die USA befürchten müssen, schon bald von den Chinesen überholt zu werden.

„Heute verkünden chinesische In­tellek­tuelle ihre Unabhängigkeit von ausländischen Modellen und planen eine Zukunft zu ihren eigenen Bedingungen.“

Diese enorme wirtschaftliche Entwicklung führt jedoch nicht unbedingt zu einer Anpassung an westliche Werte, wie dies viele abendländische Experten erwartet haben. Das wirtschaftliche Erstarken war vielmehr die Grundlage für eine geistige Selb­st­besin­nung des Riesen­re­iches. Stand am Anfang des Wach­s­tum­sprozesses noch die bere­itwillige Übernahme amerikanis­cher Vorgaben, haben sich inzwischen eigenständige Konzepte chi­ne­sis­cher Denker her­aus­ge­bildet. Tausende von In­tellek­tuellen in zahlreichen Denk­fab­riken entwickeln Ideen für eine „alternative Moderne“, ein chi­ne­sis­ches Modell der Glob­al­isierung, das westliche Konzepte mit chi­ne­sis­chen Wertvorstel­lun­gen verknüpft.

Chi­ne­sis­cher Kap­i­tal­is­mus

Chinas Startschuss zur Einführung der Mark­twirtschaft begann 1979 mit der Direktive, Bauernhöfe in bestimmten Gebieten nicht mehr kollektiv, sondern privat zu be­wirtschaften. Der Anstieg der land­wirtschaftlichen Produktivität war erheblich, Tausende von Arbeitskräften wurden freigesetzt. Kurz darauf wurde Shenzhen, ein ärmliches Fischerdorf in der Nähe von Hongkong, zur ersten Son­der­wirtschaft­szone erklärt. Dort durften mark­twirtschaftliche Reformen durchgeführt wurden, die einen enormen Wirtschaft­sauf­schwung ermöglichten. Die Erlaubnis, mark­twirtschaftliche Ideen auszupro­bieren, die klare Ex­por­to­ri­en­tierung und die Gewinnung ausländischer Investoren dienten dem Ziel, mit­tel­fristig hoch tech­nisierte, moderne Fabriken zu bauen, um in­ter­na­tional konkurrenzfähige Produkte herzustellen. Eine sofortige vollständige Lib­er­al­isierung aller Märkte war in China jedoch politisch nicht gewollt. Peking verfolgte einen zwei­gleisi­gen Ansatz, in dem Markt- und Plan­wirtschaft parallel liefen, verbunden natürlich mit einer unange­focht­e­nen politischen Autorität und absoluter Kontrolle durch die Kom­mu­nis­tis­che Partei (KP). Die Chinesen erlebten also einen schle­ichen­den Übergang von der Plan- zur Mark­twirtschaft – im Gegensatz etwa zu den drama­tis­chen Schock­ther­a­pien, die die Bürger der ehemaligen Ostblockländer durchmachen mussten.

„Die Demokratisierung ist seit ihrem en­thu­si­astis­chen Beginn in den 90er Jahren zum Stillstand gekommen.“

In sozialen Fragen herrschte zunächst eine Laisser-faire-Hal­tung; die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums wurde dem Markt überlassen und soziale Un­gerechtigkeit als un­ver­mei­d­bares Neben­pro­dukt des wirtschaftlichen Aufschwungs in Kauf genommen. Diese Haltung, verbunden mit einer starken Betonung der Marktkräfte und der Forderung nach einem schwachen Staat, dessen Haup­tauf­gabe die Sicherung der Eigen­tum­srechte sei – klassische liberale Ansichten also –, ist die zentrale the­o­retis­che Position der „Neuen Rechten“ in China. In der Praxis haben deren Vertreter aber kaum Probleme, sich mit dem autoritären Staat zu arrangieren, nicht zuletzt deshalb, weil sie inzwischen sehr ein­flussre­ich sind und massiv vom Ein­parteien­staat profitieren.

Soziale Probleme

Die ent­fes­sel­ten Marktkräfte haben in China zu massiven sozialen und ökologischen Problemen geführt. Nur wenige profitieren, der größte Teil der Bevölkerung zahlt einen hohen Preis für das chinesische Wirtschaftswun­der: Korruption, En­teig­nun­gen, Ausbeutung, Armut, eine zerstörte Umwelt. Die „Neue Linke“ setzt deshalb zwar weiterhin auf die Mark­twirtschaft, aber zugleich auf einen starken Staat, effiziente Staat­sun­ternehmen und eine funk­tion­ierende staatliche Struktur, die Bildung, Gesund­heitsver­sorgung, Al­terssicherung usw. gewährleisten und den Schutz der natürlichen Ressourcen ermöglichen soll. Nicht mehr das Wachstum soll oberstes Ziel der chi­ne­sis­chen Politik sein, sondern eine „harmonische Gesellschaft“ bzw. eine „wis­senschaftliche Entwicklung“. Eine Verbindung von west­lich-mark­twirtschaftlichen mit tra­di­tionell-chi­ne­sis­chen Ideen soll erreicht werden. Eines der gewichtig­sten Argumente für diese Abkehr vom absolut freien Markt ist para­dox­er­weise ein ökonomisches: die Ankurbelung des Bin­nenkon­sums. Nur funk­tion­ierende soziale Sicherungssys­teme könnten dafür sorgen, dass die Chinesen mehr konsumieren statt wie bislang üblich für schlechte Zeiten und das Alter zu sparen. Und natürlich spüren die chi­ne­sis­chen Machthaber genau, dass die Un­zufrieden­heit in der Bevölkerung wächst. Wenn sie diese Entwicklung zunehmend ernst nehmen, dann nicht zuletzt aus Gründen des Machter­halts.

De­lib­er­a­tive Diktatur

Spätestens mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat die Forderung nach mehr Demokratie, wie sie ins­beson­dere von der „Neuen Linken“ vorgetragen wird, einen empfind­lichen Dämpfer erhalten. Für viele chinesische Denker, vor allem für die der „Neuen Rechten“, sind freie Wahlen weniger wichtig als Rechtsstaatlichkeit, also das Ende von Korruption und Macht­miss­brauch, damit die Bürger ihre verbrieften Rechte auch tatsächlich durchsetzen können. Das derzeitige autoritäre System gilt vielen sogar als vorteilhaft, weil es ermöglicht, notwendige, aber schmerzhafte Reformen umzusetzen, die sich in einer demokratis­chen Gesellschaft nicht realisieren ließen.

„Statt eine chinesische Variante der liberalen Demokratie zu entwickeln suchen viele In­tellek­tuelle nach einem völlig neuen Modell.“

Überhaupt ist der Begriff „Demokratie“ für Chinesen keineswegs uneingeschränkt positiv. Er steht nicht zuletzt für drei Hor­rorszenar­ien, die es unbedingt zu vermeiden gelte. Erstens: das Chaos, das der große Bruder Sowjetunion durchlebte, weil die Demokratisierung zeitlich vor der wirtschaftlichen Lib­er­al­isierung erfolgte. Zweitens: die massiven sozialen Konflikte in der Volks­demokratie China während der Kul­tur­rev­o­lu­tion, die zu einem Kampf aller gegen alle führten. Drittens: die Gefahr, dass demokratis­che Wahlen zur Unabhängigkeit Taiwans, vielleicht sogar zur Loslösung weiterer Regionen, ins­beson­dere von Tibet, führen könnten.

„Es ist kaum zu bestreiten, dass Chinas Soft Power zugenommen hat.“

Allerdings ist der politischen Führung klar, dass sie stärker auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen muss, um ihre Macht zu erhalten. China ex­per­i­men­tiert deshalb mit zahlreichen Methoden. Politische Kon­sul­ta­tio­nen, Gespräche mit Experten und Mei­n­ung­sum­fra­gen sind die wichtigsten Bausteine dieser de­lib­er­a­tiven (be­ratschla­gen­den) Diktatur. Auch die tra­di­tionellen Protestkundge­bun­gen und Petitionen erleben eine Renaissance. Dazu treten neue Ansätze, beispiel­sweise ba­sis­demokratis­che Experimente oder der Einsatz von Fokus­grup­pen, ausgewählten Personen, die politische Entschei­dun­gen stel­lvertre­tend für die gesamte Bevölkerung treffen sollen. Sogar im Internet – aus westlicher Sicht das Demokratisierungsin­stru­ment schlechthin – hat die KP durch strikte Zensur die Oberhand behalten. Im Gegensatz zum ehemaligen Ostblock werden aber nicht alle Inhalte zensiert, die irgendwie westlich sind, sondern ausschließlich jene, die die Regierung gefährden könnten. Die zentrale Bedrohung liegt aus der Sicht der Partei in den Möglichkeiten, sich via Internet zusam­men­zuschließen, denn Ver­samm­lun­gen gelten tra­di­tionell als besonders gefährlich.

Nationale Macht

Die Glob­al­isierung – aus westlicher Sicht mit der Schwächung der Na­tion­al­staaten verbunden – ist für die Chinesen kein Grund, sich von der Idee der nationalen Vor­ma­cht­stel­lung zu ve­r­ab­schieden. Im Gegenteil, das Erreichen einer möglichst umfassenden Macht­po­si­tion ist das Ziel der chi­ne­sis­chen Außenpolitik, und zwar in politischer, wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Hinsicht. China hat tra­di­tionell Angst davor, dass sich andere gegen das Land verbünden. Deshalb setzt man alles daran, nach außen nicht als Bedrohung zu erscheinen. Gle­ichzeitig aber will man den Vor­ma­ch­tanspruch nicht aufgeben. Kon­flik­tver­mei­dung, wirtschaftliche In­ter­ven­tio­nen und eine Diplomatie des Lächelns sollen Chinas Einfluss in der Welt stärken. Ein wichtiges Kampfmittel für die Chinesen ist die so genannte Soft Power: Mit Stipendien für Aus­landsstu­den­ten, den analog zu den Goethe-In­sti­tuten arbeitenden Kon­fuz­ius-In­sti­tuten, in­ter­na­tionalen Fernsehsendern usw. will China einen kulturellen Einfluss erlangen, wie er heute von den USA durch Hollywood und CNN erreicht wird.

Mul­ti­lat­erales Sicher­heit­skonzept

Neben Soft Power wird ein neues mul­ti­lat­erales Sicher­heit­skonzept verfolgt. Nicht die westliche Vorstellung von Transparenz und gegen­seit­iger Überwachung steht hier im Mittelpunkt, sondern Ko­op­er­a­tio­nen bei gle­ichzeitig strikter Einhaltung der nationalen Souveränität. In diesen Zusam­men­schlüssen verzichtet man sowohl auf die Einmischung in innere An­gele­gen­heiten als auch auf die Herstellung demokratis­cher Verhältnisse. In der Shanghai Cooperation Or­ga­ni­za­tion (SCO) sind derzeit China, Russland sowie einige zen­tralasi­atis­che Staaten zusam­mengeschlossen; die Mongolei, Pakistan, der Iran und Indien sind als Beobachter angeschlossen. Hier entsteht vielleicht ein sehr ein­flussre­iches, wirtschaftlich starkes Bündnis von z. T. autoritär gelenkten Staaten, das über Atomwaffen verfügt und eine Konkurrenz zur NATO werden könnte.

„Politisch und militärisch hat die SCO schon heute das Potenzial, in Zen­tralasien zu einer Rivalin der NATO zu werden.“

Natürlich strebt China auch einen Ausbau des Militärapparats, der Hard Power, an. Doch man will kein teures Wettrüsten im großen Stil, sondern setzt eher auf eine „asym­metrische Kriegsführung“, also auf etwas, was aus westlicher Sicht eine der zentralen Bedrohungen in der glob­al­isierten Welt darstellt. Die Chinesen versuchen, Schwach­stellen ihrer Gegner sys­tem­a­tisch auszunutzen – wie es auch Guerillakämpfer (z. B. Vietcong, Al Kaida) tun, für die der Begriff ursprünglich geprägt wurde. Daneben versucht China zunehmend, sich in in­ter­na­tionalen Or­gan­i­sa­tio­nen wie die UN einzubinden. Man spielt scheinbar das Spiel des Westens mit, versucht aber in Wirk­lichkeit, eigene Regeln aufzustellen. Unerwünschte Entschei­dun­gen werden entweder durch ein Veto oder lieber noch durch die gezielte Bee­in­flus­sung anderer Staaten blockiert. Der Erfolg gibt den Chinesen Recht und ihr Einfluss in diesen Or­gan­i­sa­tio­nen ist deutlich angestiegen.

In­ter­na­tionale Projekte

China überträgt sein Wach­s­tum­skonzept auch aktiv auf andere Länder. Eine Art Pi­lot­pro­jekt für diese Entwicklung war die erste ausländische Son­der­wirtschaft­szone in Sambia. Inzwischen gibt es mehr als 3000 solcher Projekte in 120 Ländern. Der Deal lautet: Zugang zu Rohstoffen gegen Geld und Wirtschaft­shilfe. Nicht moralische Überlegungen bestimmen das außen­poli­tis­che Handeln der Chinesen, sondern die strikte Ausrichtung an den eigenen nationalen Interessen. Totalitäre Strukturen sind den Chinesen egal. Für viele En­twick­lungsländer ist das eine attraktive Alternative zu den En­twick­lung­shil­fe­pro­gram­men des In­ter­na­tionalen Währungsfonds, die an unliebsame Bedingungen wie Lib­er­al­isierun­gen und weit reichende politische Reformen gekoppelt sind.

„Die Anziehungskraft des chi­ne­sis­chen Modells reicht weit über Afrika hinaus.“

Glob­al­isierung bedeutet also nicht länger den unaufhalt­baren Siegeszug von Mark­twirtschaft und Demokratie. Die Chinesen haben begonnen, ihr eigenes Glob­al­isierungskonzept zu entwickeln. Dessen Bausteine sind chi­ne­sis­cher Kap­i­tal­is­mus, de­lib­er­a­tive Diktatur und nationale Macht. Damit will China eine alternative Weltordnung aufbauen: die „ummauerte Welt“, in der die Na­tion­al­staaten zwar globalen Handel betreiben, aber zugleich die volle Kontrolle über ihre wirtschaftliche Entwicklung, ihr politisches System und ihre Außenpolitik behalten.

Über den Autor

Mark Leonard ist Direktor für In­ter­na­tionale Politik am Centre for European Reform in London. Seine Schw­er­punkte sind der Nahe Osten, die Beziehungen zwischen der EU und China sowie die transat­lantis­chen Beziehungen. Er war als Gast­pro­fes­sor an der chi­ne­sis­chen Akademie für Sozial­wis­senschaften in Peking tätig.