Chinas Weg
China hat in den letzten Jahrzehnten einen beispiellosen Aufschwung hingelegt. Seit die ersten Sonderwirtschaftszonen errichtet wurden, hat sich das Reich der Mitte zu einem bedeutenden Mitspieler in der internationalen Wirtschaft entwickelt. Chinesische Produkte finden sich in jedem westlichen Haushalt. Der einst rückständige Bauernstaat hat binnen nur 30 Jahren so große Schritte in Richtung Modernisierung gemacht, dass die USA befürchten müssen, schon bald von den Chinesen überholt zu werden.
„Heute verkünden chinesische Intellektuelle ihre Unabhängigkeit von ausländischen Modellen und planen eine Zukunft zu ihren eigenen Bedingungen.“
Diese enorme wirtschaftliche Entwicklung führt jedoch nicht unbedingt zu einer Anpassung an westliche Werte, wie dies viele abendländische Experten erwartet haben. Das wirtschaftliche Erstarken war vielmehr die Grundlage für eine geistige Selbstbesinnung des Riesenreiches. Stand am Anfang des Wachstumsprozesses noch die bereitwillige Übernahme amerikanischer Vorgaben, haben sich inzwischen eigenständige Konzepte chinesischer Denker herausgebildet. Tausende von Intellektuellen in zahlreichen Denkfabriken entwickeln Ideen für eine „alternative Moderne“, ein chinesisches Modell der Globalisierung, das westliche Konzepte mit chinesischen Wertvorstellungen verknüpft.
Chinesischer Kapitalismus
Chinas Startschuss zur Einführung der Marktwirtschaft begann 1979 mit der Direktive, Bauernhöfe in bestimmten Gebieten nicht mehr kollektiv, sondern privat zu bewirtschaften. Der Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität war erheblich, Tausende von Arbeitskräften wurden freigesetzt. Kurz darauf wurde Shenzhen, ein ärmliches Fischerdorf in der Nähe von Hongkong, zur ersten Sonderwirtschaftszone erklärt. Dort durften marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt wurden, die einen enormen Wirtschaftsaufschwung ermöglichten. Die Erlaubnis, marktwirtschaftliche Ideen auszuprobieren, die klare Exportorientierung und die Gewinnung ausländischer Investoren dienten dem Ziel, mittelfristig hoch technisierte, moderne Fabriken zu bauen, um international konkurrenzfähige Produkte herzustellen. Eine sofortige vollständige Liberalisierung aller Märkte war in China jedoch politisch nicht gewollt. Peking verfolgte einen zweigleisigen Ansatz, in dem Markt- und Planwirtschaft parallel liefen, verbunden natürlich mit einer unangefochtenen politischen Autorität und absoluter Kontrolle durch die Kommunistische Partei (KP). Die Chinesen erlebten also einen schleichenden Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft – im Gegensatz etwa zu den dramatischen Schocktherapien, die die Bürger der ehemaligen Ostblockländer durchmachen mussten.
„Die Demokratisierung ist seit ihrem enthusiastischen Beginn in den 90er Jahren zum Stillstand gekommen.“
In sozialen Fragen herrschte zunächst eine Laisser-faire-Haltung; die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums wurde dem Markt überlassen und soziale Ungerechtigkeit als unvermeidbares Nebenprodukt des wirtschaftlichen Aufschwungs in Kauf genommen. Diese Haltung, verbunden mit einer starken Betonung der Marktkräfte und der Forderung nach einem schwachen Staat, dessen Hauptaufgabe die Sicherung der Eigentumsrechte sei – klassische liberale Ansichten also –, ist die zentrale theoretische Position der „Neuen Rechten“ in China. In der Praxis haben deren Vertreter aber kaum Probleme, sich mit dem autoritären Staat zu arrangieren, nicht zuletzt deshalb, weil sie inzwischen sehr einflussreich sind und massiv vom Einparteienstaat profitieren.
Soziale Probleme
Die entfesselten Marktkräfte haben in China zu massiven sozialen und ökologischen Problemen geführt. Nur wenige profitieren, der größte Teil der Bevölkerung zahlt einen hohen Preis für das chinesische Wirtschaftswunder: Korruption, Enteignungen, Ausbeutung, Armut, eine zerstörte Umwelt. Die „Neue Linke“ setzt deshalb zwar weiterhin auf die Marktwirtschaft, aber zugleich auf einen starken Staat, effiziente Staatsunternehmen und eine funktionierende staatliche Struktur, die Bildung, Gesundheitsversorgung, Alterssicherung usw. gewährleisten und den Schutz der natürlichen Ressourcen ermöglichen soll. Nicht mehr das Wachstum soll oberstes Ziel der chinesischen Politik sein, sondern eine „harmonische Gesellschaft“ bzw. eine „wissenschaftliche Entwicklung“. Eine Verbindung von westlich-marktwirtschaftlichen mit traditionell-chinesischen Ideen soll erreicht werden. Eines der gewichtigsten Argumente für diese Abkehr vom absolut freien Markt ist paradoxerweise ein ökonomisches: die Ankurbelung des Binnenkonsums. Nur funktionierende soziale Sicherungssysteme könnten dafür sorgen, dass die Chinesen mehr konsumieren statt wie bislang üblich für schlechte Zeiten und das Alter zu sparen. Und natürlich spüren die chinesischen Machthaber genau, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst. Wenn sie diese Entwicklung zunehmend ernst nehmen, dann nicht zuletzt aus Gründen des Machterhalts.
Deliberative Diktatur
Spätestens mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat die Forderung nach mehr Demokratie, wie sie insbesondere von der „Neuen Linken“ vorgetragen wird, einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Für viele chinesische Denker, vor allem für die der „Neuen Rechten“, sind freie Wahlen weniger wichtig als Rechtsstaatlichkeit, also das Ende von Korruption und Machtmissbrauch, damit die Bürger ihre verbrieften Rechte auch tatsächlich durchsetzen können. Das derzeitige autoritäre System gilt vielen sogar als vorteilhaft, weil es ermöglicht, notwendige, aber schmerzhafte Reformen umzusetzen, die sich in einer demokratischen Gesellschaft nicht realisieren ließen.
„Statt eine chinesische Variante der liberalen Demokratie zu entwickeln suchen viele Intellektuelle nach einem völlig neuen Modell.“
Überhaupt ist der Begriff „Demokratie“ für Chinesen keineswegs uneingeschränkt positiv. Er steht nicht zuletzt für drei Horrorszenarien, die es unbedingt zu vermeiden gelte. Erstens: das Chaos, das der große Bruder Sowjetunion durchlebte, weil die Demokratisierung zeitlich vor der wirtschaftlichen Liberalisierung erfolgte. Zweitens: die massiven sozialen Konflikte in der Volksdemokratie China während der Kulturrevolution, die zu einem Kampf aller gegen alle führten. Drittens: die Gefahr, dass demokratische Wahlen zur Unabhängigkeit Taiwans, vielleicht sogar zur Loslösung weiterer Regionen, insbesondere von Tibet, führen könnten.
„Es ist kaum zu bestreiten, dass Chinas Soft Power zugenommen hat.“
Allerdings ist der politischen Führung klar, dass sie stärker auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen muss, um ihre Macht zu erhalten. China experimentiert deshalb mit zahlreichen Methoden. Politische Konsultationen, Gespräche mit Experten und Meinungsumfragen sind die wichtigsten Bausteine dieser deliberativen (beratschlagenden) Diktatur. Auch die traditionellen Protestkundgebungen und Petitionen erleben eine Renaissance. Dazu treten neue Ansätze, beispielsweise basisdemokratische Experimente oder der Einsatz von Fokusgruppen, ausgewählten Personen, die politische Entscheidungen stellvertretend für die gesamte Bevölkerung treffen sollen. Sogar im Internet – aus westlicher Sicht das Demokratisierungsinstrument schlechthin – hat die KP durch strikte Zensur die Oberhand behalten. Im Gegensatz zum ehemaligen Ostblock werden aber nicht alle Inhalte zensiert, die irgendwie westlich sind, sondern ausschließlich jene, die die Regierung gefährden könnten. Die zentrale Bedrohung liegt aus der Sicht der Partei in den Möglichkeiten, sich via Internet zusammenzuschließen, denn Versammlungen gelten traditionell als besonders gefährlich.
Nationale Macht
Die Globalisierung – aus westlicher Sicht mit der Schwächung der Nationalstaaten verbunden – ist für die Chinesen kein Grund, sich von der Idee der nationalen Vormachtstellung zu verabschieden. Im Gegenteil, das Erreichen einer möglichst umfassenden Machtposition ist das Ziel der chinesischen Außenpolitik, und zwar in politischer, wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Hinsicht. China hat traditionell Angst davor, dass sich andere gegen das Land verbünden. Deshalb setzt man alles daran, nach außen nicht als Bedrohung zu erscheinen. Gleichzeitig aber will man den Vormachtanspruch nicht aufgeben. Konfliktvermeidung, wirtschaftliche Interventionen und eine Diplomatie des Lächelns sollen Chinas Einfluss in der Welt stärken. Ein wichtiges Kampfmittel für die Chinesen ist die so genannte Soft Power: Mit Stipendien für Auslandsstudenten, den analog zu den Goethe-Instituten arbeitenden Konfuzius-Instituten, internationalen Fernsehsendern usw. will China einen kulturellen Einfluss erlangen, wie er heute von den USA durch Hollywood und CNN erreicht wird.
Multilaterales Sicherheitskonzept
Neben Soft Power wird ein neues multilaterales Sicherheitskonzept verfolgt. Nicht die westliche Vorstellung von Transparenz und gegenseitiger Überwachung steht hier im Mittelpunkt, sondern Kooperationen bei gleichzeitig strikter Einhaltung der nationalen Souveränität. In diesen Zusammenschlüssen verzichtet man sowohl auf die Einmischung in innere Angelegenheiten als auch auf die Herstellung demokratischer Verhältnisse. In der Shanghai Cooperation Organization (SCO) sind derzeit China, Russland sowie einige zentralasiatische Staaten zusammengeschlossen; die Mongolei, Pakistan, der Iran und Indien sind als Beobachter angeschlossen. Hier entsteht vielleicht ein sehr einflussreiches, wirtschaftlich starkes Bündnis von z. T. autoritär gelenkten Staaten, das über Atomwaffen verfügt und eine Konkurrenz zur NATO werden könnte.
„Politisch und militärisch hat die SCO schon heute das Potenzial, in Zentralasien zu einer Rivalin der NATO zu werden.“
Natürlich strebt China auch einen Ausbau des Militärapparats, der Hard Power, an. Doch man will kein teures Wettrüsten im großen Stil, sondern setzt eher auf eine „asymmetrische Kriegsführung“, also auf etwas, was aus westlicher Sicht eine der zentralen Bedrohungen in der globalisierten Welt darstellt. Die Chinesen versuchen, Schwachstellen ihrer Gegner systematisch auszunutzen – wie es auch Guerillakämpfer (z. B. Vietcong, Al Kaida) tun, für die der Begriff ursprünglich geprägt wurde. Daneben versucht China zunehmend, sich in internationalen Organisationen wie die UN einzubinden. Man spielt scheinbar das Spiel des Westens mit, versucht aber in Wirklichkeit, eigene Regeln aufzustellen. Unerwünschte Entscheidungen werden entweder durch ein Veto oder lieber noch durch die gezielte Beeinflussung anderer Staaten blockiert. Der Erfolg gibt den Chinesen Recht und ihr Einfluss in diesen Organisationen ist deutlich angestiegen.
Internationale Projekte
China überträgt sein Wachstumskonzept auch aktiv auf andere Länder. Eine Art Pilotprojekt für diese Entwicklung war die erste ausländische Sonderwirtschaftszone in Sambia. Inzwischen gibt es mehr als 3000 solcher Projekte in 120 Ländern. Der Deal lautet: Zugang zu Rohstoffen gegen Geld und Wirtschaftshilfe. Nicht moralische Überlegungen bestimmen das außenpolitische Handeln der Chinesen, sondern die strikte Ausrichtung an den eigenen nationalen Interessen. Totalitäre Strukturen sind den Chinesen egal. Für viele Entwicklungsländer ist das eine attraktive Alternative zu den Entwicklungshilfeprogrammen des Internationalen Währungsfonds, die an unliebsame Bedingungen wie Liberalisierungen und weit reichende politische Reformen gekoppelt sind.
„Die Anziehungskraft des chinesischen Modells reicht weit über Afrika hinaus.“
Globalisierung bedeutet also nicht länger den unaufhaltbaren Siegeszug von Marktwirtschaft und Demokratie. Die Chinesen haben begonnen, ihr eigenes Globalisierungskonzept zu entwickeln. Dessen Bausteine sind chinesischer Kapitalismus, deliberative Diktatur und nationale Macht. Damit will China eine alternative Weltordnung aufbauen: die „ummauerte Welt“, in der die Nationalstaaten zwar globalen Handel betreiben, aber zugleich die volle Kontrolle über ihre wirtschaftliche Entwicklung, ihr politisches System und ihre Außenpolitik behalten.