Die Synergiefalle
Es gibt zweifellos Unternehmen, die nach einer Übernahme von Synergien profitieren: General Electric z. B. oder Cisco Systems. Aber generell sollte man die Erwartungen an eine Übernahme und erst recht an die Synergieeffekte nicht zu hoch schrauben. Das zeigt eine Umfrage der Unternehmensberatung Bain: Die meisten Befragten hatten schon negative Erfahrungen mit Übernahmen gesammelt. Und nicht nur das: Unter den 250 befragten Managern, die für Übernahmen und Fusionen zuständig waren, stimmten 90 % mit einer Erhebung überein, aus der hervorging, dass bei mindestens zwei Dritteln aller Übernahmen der Wert des kaufenden Unternehmens sank. 50 % gaben an, dass Übernahmen nicht zustande gekommen seien, weil die Ergebnisse der Kaufprüfung nicht gut genug waren. Wiederum 50 % erklärten, dass der Übernahmekandidat im Vorfeld „hübsch gemacht“ worden sei – trotzdem wollte keiner der Befragten die Übernahmeanstrengungen stoppen.
„Synergien gaukeln vor, dass man etwas umsonst bekommt.“
Dabei können überschätzte Synergieeffekte regelrecht zum Ruin führen, wie die Geschichte von UnumProvident zeigt. Unum und Provident waren in ihrem Feld die größten Anbieter: Der eine verkaufte Berufsunfähigkeitsversicherungen an Gruppen, der andere an Privatpersonen. Gemeinsam wollte man neue Kunden erreichen, die noch keine Policen hatten. Zudem wollte man den Bestandskunden die Produkte des jeweils anderen als Zusatzpolicen verkaufen. Der erste CEO des neu geschaffenen Versicherungsriesen war ein absoluter Profi. Dennoch musste er seinen Sessel nach nur vier Monaten räumen, als UnumProvident Zusatzkosten von 623,7 Millionen Dollar veröffentlichte, darunter unerwartete fusionsbedingte Ausgaben in Höhe von 42,5 Millionen Dollar.
„Die Idee der Synergiestrategien ist, dass eins plus eins gleich drei sei; die Unterschiede in Unternehmenskultur, Fähigkeiten oder Systemen können aber dafür sorgen, dass Synergien, die einfach zu erreichen scheinen, nie realisiert werden können.“
Woran scheiterte der Zusammenschluss? Beispielsweise daran, dass es 34 unterschiedliche Informationssysteme gab, die keine Daten untereinander austauschten. Sogar sechs Jahre nach der Fusion waren erst vier von ihnen abgebaut worden. Hinzu kam, dass die Vertriebler des einen Unternehmensteils nicht die Produkte des anderen verkaufen wollten. Und die Kunden reagierten auf den Zusammenschluss überhaupt nicht: Wer vorher noch keine Police hatte, kaufte auch jetzt keine, und die Bestandskunden waren gesättigt. Noch schlimmer kam es, als einige Zeit darauf der Konzern Zahlungen aus Berufsunfähigkeitsversicherungen zu Unrecht ablehnte und schließlich von Gerichten dazu verurteilt wurde. Innerhalb von nur zwei Jahren fiel der Aktienkurs um 50 %, weitere zwei Jahre später lag er 90 % unter dem Vor-Fusions-Niveau. Fazit: Synergiepotenziale vermuteten nur die Strategen – den Kunden sind Synergien egal. Unterschiede in den Unternehmenskulturen und Systemen verhinderten die Nutzung von scheinbar einfach zu erzielenden Synergien.
Mathematischer Hokuspokus
Auch darauf fallen viele Unternehmensführer herein: „Financial Engineering“ oder aggressive Buchhaltung wird von vielen Firmen benutzt, um Bilanzen zu schönen. Das war z. B. bei Enron der Fall, aber auch Green Tree ließ sich auf Zahlenspiele ein. Das Unternehmen finanzierte in der besten Zeit 40 % aller Trailer-Häuser, die verkauft wurden. Trailer-Häuser sind mobile Fertighäuser, eine Art Container, die von Jahr zu Jahr an Wert verlieren und längstens 15 Jahre halten. Green Tree vergab allerdings Kredite mit 30-jähriger Laufzeit. Also zahlte der Kunde noch, wenn das Haus längst Schrott war – und auch der Kreditgeber hatte keinen Gegenwert mehr in der Hand. Zusätzlich waren die Zinsen bei einer 30-jährigen Laufzeit viel höher als bei der sonst üblichen 15-jährigen Laufzeit. Also zahlten die Käufer für ihren Wohncontainer erst viel zu viel – und irgendwann gar nicht mehr. Green Tree bündelte die Hypotheken, teilte sie in Pfandbriefe und verkaufte diese. Gleichzeitig rechnete das Unternehmen aus, was es verdienen würde, wenn die Darlehen künftig zurückgezahlt würden, und verbuchte diese Summe nach den Verbriefungen als Gewinn. 1998 wurde Green Tree von Conseco gekauft – 2002 war das Käuferunternehmen pleite, und zwar aufgrund der Green-Tree-Probleme, die Conseco natürlich mitgekauft hatte. Dabei war auch der CEO von Conseco ein Geschäftsmann mit viel Erfahrung. Er hatte in 17 Jahren 40 Versicherungen übernommen und seine Firma erfolgreich geführt.
„Angesichts der geschichtlichen Erfahrung, dass Sie mit 40-%iger Wahrscheinlichkeit danebenliegen und mit 25-%iger Wahrscheinlichkeit um über ein Viertel danebenliegen, sollten Sie Ihre Strategie überdenken, wenn Sie keine große Fehlertoleranz haben.“
Wenn Sie sichergehen wollen, nach einer Übernahme nicht auf schöngerechnete Finanzen zu stoßen, sollten Sie auf folgende Punkte achten: Gibt es oft kleine Gewinne, aber nur selten kleine Verluste? Werden von Analysten gemachte Durchschnittsprognosen öfter getroffen oder sogar ein bisschen übertroffen, nur selten jedoch knapp verfehlt? Wenn Sie selbst Zahlen frisieren, sollten Sie sich über eines im Klaren sein: Sie lösen damit eine Spirale aus. Denn was jetzt schöngerechnet wird, ist der Maßstab fürs nächste Quartal.
Viele Musiker machen noch kein Orchester
Wenn ein Unternehmen viele Konkurrenten aufkauft, die Branche also aufrollt, hat das sicher viele Vorteile. Beispielsweise hat ein größeres Unternehmen eine höhere Kaufkraft als viele kleine, bei Banken kommt man günstiger an einen Kredit und Marketingmaßnahmen rechnen sich eher. Zwei Erfolgsbeispiele für gelungene Roll-ups sind die von Sysco Corporation und AutoNation. Doch sie sind selten. Denn auch zum Thema Roll-ups gibt es eine Studie: Fast die Hälfte der Unternehmen, die andere aufkauften, haben zwischen 1998 und 2000 mehr als 50 % ihres Marktwerts verloren.
„Financial-Engineering-Strategien können Finanzprodukte mit systemimmanenten Schwächen hervorbringen, die kurzfristig für die Kunden interessant sind, aber den Anbieter (und oft auch die Kunden) langfristig einem unangemessen hohen Ausfallrisiko aussetzen.“
Das Bestattungsinstitut Loewen z. B. wurde in den 1950er Jahren gegründet. 1975 gehörten 14 andere Unternehmen zur Loewen-Gruppe, 1989 waren es bereits 131. Im Jahr 1998 machte man über eine Milliarde Dollar Umsatz und mehr als 1100 Institute sowie 400 Friedhöfe gehörten zu Loewen. Aber: Die Menge an Filialen hatte kaum Auswirkung auf die Optimierung der Geschäftsabläufe. Benachbarte Bestatter konnten einen Leichenwagen oder eine Einbalsamierungseinrichtung teilen, viel mehr Synergien gab es nicht. Höhere Preise und ein schlechterer Service trieben die Kunden in die Arme der Konkurrenz. Zudem ging die Sterberate zurück, und nach einer weiteren Übernahme hatte sich ein Schuldenberg angehäuft. 1999 meldete das Unternehmen Insolvenz an, 2006 wurde es zu einem Spottpreis verkauft.
„Die Umsetzung einer Technologie kostet meist mehr an Zeit und Ressourcen, als man denkt, selbst wenn man vorher wusste, dass sie mehr Zeit und Ressourcen kosten würde, als man denkt.“
Das Beispiel zeigt: Bevor Sie eine Branche aufrollen, sollten Sie sich gründlich Gedanken machen. Eine Übernahme ist immer eine bewegte Zeit. Wie viele Stunden werden Ihre Manager benötigen, um Struktur ins Chaos zu bringen? Warum sollte Ihre Marktmacht nach einer Übernahme größer werden? Wo können Sie die Preise um wie viel und weswegen anheben? Was müssen Sie zunächst ausgeben, um künftig einen Gewinn zu erzielen? Welchen Preis können und wollen Sie aufgrund welcher Annahmen maximal bezahlen?
Den Zeitgeist verschlafen
Noch eine Stolperfalle: Über 100 Jahre alt ist das Unternehmen Kodak. In den 1960er und 70er Jahren galten die Wertpapiere des Unternehmens als solide Anlage, die Geschäfte liefen bis in die 90er hinein sehr gut. Doch dann wurden Filme für Fotoapparate nicht mehr benötigt. Man fotografierte digital. Diese Entwicklung war nicht plötzlich gekommen, sondern seit den 50ern voraussehbar. Allerdings wollten die Manager bei Kodak das nicht wahrhaben. Dabei hatte der Firmengründer Eastman das Unternehmen schon mehrfach den Gegebenheiten angepasst – beispielsweise hatte Kodak die Nase vorn, als Farb- die Schwarz-Weiß-Filme verdrängten. Mit der Umstellung auf Digitalfotografie tat sich das Unternehmen jedoch schwer. Es erfand jede Menge Services, die der selbstständige Internetnutzer gar nicht braucht, eroberte sich aber schließlich doch einen Platz in der Riege der Firmen, die gute Digitalkameras herstellen. Allerdings: Die Konkurrenz ist groß. 2002 legte Kodak bei jeder Kamera für 400 $ rund 60 $ drauf. Das Unternehmen hat in nur zehn Jahren 75 % seines Wertes an der Börse verloren. 2005 beschäftigte es nur noch rund ein Drittel so viele Mitarbeiter wie 20 Jahre zuvor.
„Möglicherweise kaufen Sie nicht nur Vermögenswerte, von denen Sie wissen, sondern auch Probleme, von denen Sie nichts wissen.“
Das Beispiel zeigt, dass Unternehmensführer bereit sein müssen zu erkennen, dass das Geschäft der Zukunft ein anderer Markt sein kann als der heutige. Ähnliche Probleme wie Kodak hat übrigens die Musikindustrie, der beim CD-Verkauf die Einnahmen wegbrechen, weil heute überwiegend einzelne Titel online gekauft werden. Übrigens: Auch das andere Extrem, der Glaube an zu viel Hightech, kann Sie ins Aus führen. Motorola beispielsweise hielt viel zu lange an seiner Iridium-Strategie, dem Satellitenkommunikationssystem, fest. Schließlich wurde das Projekt von der Handybranche überrollt. Der finanzielle Verlust ging in die Milliarden. Damit Ihnen so etwas nicht passiert, sollten Sie die kritischen Stimmen, die laut werden, nicht nur hören, sondern sich auch fragen: Könnten sie vielleicht Recht haben?
Wenn Nachbarmärkte fern sind
Ist auf dem Gebiet ihrer Kernkompetenz nichts mehr zu holen, denken viele Unternehmen darüber nach, Nachbarmärkte in Angriff zu nehmen. Eine Fünfjahresstudie hat gezeigt, dass diese so genannte Adjazenz durchaus zu einem nachhaltigen, profitablen Wachstum führen kann. Allerdings scheiterten sage und schreibe 75 % der 1850 untersuchten Unternehmen bei dem wenig risikoreichen Versuch, ihre Kernkompetenzen in benachbarte Märkte zu verschieben. Die Gründe dafür: Entweder fehlt es ihnen am nötigen Know-how für den Nachbarmarkt oder sie überschätzen die Möglichkeiten des Cross-Selling. Der Kosmetikhersteller Avon ist in die Nachbarmarktfalle getappt. Als immer weniger Kunden tagsüber erreichbar waren, um ihnen zu Hause in Ruhe etwas zu verkaufen, nahm das Unternehmen Gesundheitsartikel in sein Angebot auf, um bei weniger Kunden mehr zu verkaufen – mit großem Erfolg. Als man dann jedoch Firmen kaufte, die Pflegeheime betrieben, übernahm sich das Unternehmen: Das nötige Fachwissen fehlte, zudem war der Vertriebsweg ein komplett anderer.
„Wenn die Leute erst einmal auf eine bestimmte Entscheidung zusteuern, suchen sie nur noch nach Informationen, die diese Lösung bestätigen, und ignorieren alles, was dagegen spricht.“
Sie lernen daraus, dass bloße Ähnlichkeiten für den Eintritt in einen Nachbarmarkt nicht ausreichend sind. Sie sollten darum vorher die Vertriebswege, die Kunden und natürlich die Produkte genau analysieren. Damit sich der Weg in einen neuen Markt für Sie lohnt, sollte ein Kostenvorteil von mindestens 30 % entstehen.
Eins und eins bleibt zwei
Selbst wenn vieles zu passen scheint, kann ein Unternehmenszusammenschluss schiefgehen. Denken Sie an das DaimlerChrysler-Debakel: Die Ingenieure des einen Unternehmens wollten nicht mit denen des anderen zusammenarbeiten. Außerdem war die Lage auf dem US-Automarkt kritisch, und Daimler musste Zahlungsverpflichtungen an Chrysler-Rentner schultern. Das Ende der Geschichte ist bekannt. Ein Zusammenschluss zweier Firmen nimmt im Übrigen an Komplexität zu, je größer die Unternehmen sind. Schließlich müssen zwei Unternehmenskulturen miteinander verbunden werden, die u. U. wenig gemeinsam haben.
Sie wollen es trotzdem tun?
Wenn Sie trotzdem unbedingt ein Unternehmen übernehmen wollen, dann achten Sie auf folgende Punkte:
- Lernen Sie aus Ihren Fehlern – und aus denen anderer.
- Bitten Sie Ihre Mitarbeiter explizit, Ihnen nur Gründe zu nennen, die gegen eine Fusion sprechen. Wenn Sie sie lediglich um ihre Meinung fragen, bekommen Sie möglicherweise nur Bestätigung.
- Prüfen Sie zuerst alle Informationen, bevor Sie eine Lösung favorisieren.
- Glauben Sie an Zahlen, die Sie nachvollziehen können, nicht an Geschichten.
- Suchen Sie einen Advocatus Diaboli, dessen Job es ist, Ihnen unangenehme Fragen zur Übernahme zu stellen. Können Sie alle zu seiner Zufriedenheit beantworten?