Qualität gegen Quantität
Am Schreibtisch einen Vorgang bearbeiten, sich dabei von einer eingehenden E-Mail unterbrechen lassen, gleich die Antwort tippen und dabei auch noch ein dringendes Telefonat führen, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt: Alles wird gleichzeitig erledigt. Toll! Toll? Ganz im Gegenteil: Was Sie ausnahmsweise mal machen können, wenn es brennt, entartet allzu leicht zum Dauerzustand. Aber wird die Qualität der Arbeit dadurch besser? Oder arbeiten Sie dann total fremdbestimmt, weil Sie nur noch auf Reize von außen reagieren? In der Tat, genauso ist es: Durch oberflächliches Multitasking gaukelt man sich und anderen Effizienz vor – Quantitätseffizienz. Qualitätvoll arbeiten und Freude daran haben können Sie aber nur dann, wenn Sie selbst Ihre Zeit sinnvoll einteilen. Wenn Sie verstehen, wie das Gehirn strukturiert ist, werden Sie erkennen, welcher Unfug Multitasking ist.
Gehirnfunktionen verstehen und nutzen
Sie erinnern sich sicher, wie Sie in den ersten Fahrstunden versucht haben, den vielen Anforderungen des Straßenverkehrs gleichzeitig gerecht zu werden, und wie schwierig das war: Der Verkehr war zu beachten, dazu die Verkehrszeichen und zudem waren die ungewohnte Mechanik und Steuerung des Wagens zu bedienen. Das erforderte Ihre volle Konzentration. Heute machen Sie das alles automatisch und hören dabei noch Radio oder führen ein interessantes Gespräch mit Ihrem Beifahrer. Das spricht auf den ersten Blick für die Nützlichkeit des Multitaskings.
„Multitasking ist eine der wirksamsten Methoden, Zeit zu vertrödeln und Kosten zu verursachen.“
Um das Phänomen des Lernens zu verstehen, müssen wir die Funktionsweise unseres Gehirns betrachten. Zunächst filtert das Ultrakurzzeitgedächtnis die tausendfältigen Sinneseindrücke, die der Mensch im Wachzustand ständig verarbeiten muss. Auf dieser Ebene vollbringt das Gehirn eine Steuerungsleistung und sortiert Wichtiges von Unwichtigem. Das Kurzzeitgedächtnis hingegen dient als „Arbeitsspeicher“, in dem Reize und Informationen verarbeitet werden. Die dem Gehirn eigene Kapazität zur Informationsverarbeitung ist groß, aber nicht unendlich. Gewisse Vorgänge lassen sich so weit automatisieren, dass sie den Arbeitsspeicher nicht mehr belasten; dadurch werden Kapazitäten für andere Aufgaben frei. Lernen ist ein solcher Vorgang. Es ist nichts anderes als die Übertragung von Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis. Zu Beginn erfordert es aber Ihre volle Aufmerksamkeit.
„Unser Denkorgan ist mit Mehrfachaufgaben schlicht überfordert, auch wenn wir das nur ungern zugeben.“
In der Psychologie und der Neurowissenschaft gibt es verschiedene Theorien, wie die Informationsverarbeitung im Gehirn erfolgt. Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Aufnahmefähigkeit Grenzen gesetzt sind. Das Gehirn ist aber in der Lage, seine Ressourcen flexibel zu handhaben. Beispielsweise werden in Alarmsituationen abgespeicherte Muster blitzschnell reaktiviert. Oder es werden bei kreativen Prozessen bestimmte Muster bzw. verarbeitete Informationen neu kombiniert. Männliche und weibliche Gehirne sind in dieser Hinsicht graduell unterschiedlich strukturiert.
Wahrnehmung und Verarbeitung
Die Informationsverarbeitung erfolgt in drei Stufen:
- bewusste Wahrnehmung,
- Reaktion,
- Informationsverarbeitung im eigentlichen Sinn – durch Abgleich mit früheren Reizmustern, Erwartungen, Anpassungen.
„Je komplizierter eine Tätigkeit, desto höher ist die Beanspruchung der Aufmerksamkeit und desto geringer fällt die Leistung aus.“
Es handelt sich dabei um Lernprozesse, die ständig ablaufen; das Gehirn korrigiert sich dadurch dauernd selbst.
Lassen sich bestimmte Arbeitsvorgänge im Büroalltag so einüben oder trainieren, dass sie quasi automatisch ablaufen, ähnlich wie beim Erlernen eines Musikinstruments? Das rein mechanische Öffnen einer E-Mail gewiss, aber bereits die Wahrnehmung der Betreff-Zeile erfordert Ihre Aufmerksamkeit. Werden daneben auch noch andere Reize verarbeitet, „zappt“ das Gehirn hin und her und bringt die Informationen in ein verkürztes Nacheinander. Unsere Hirnstruktur ist zur Gleichzeitigkeit gar nicht in der Lage, auch wenn es dem Multitasker so erscheinen mag. Durch die oberflächliche Behandlung der Informationen im Kurzzeitgedächtnis werden diese nicht richtig verarbeitet. Dadurch gehen evtl. wichtige Inhalte verloren. Es wird nichts langfristig abgespeichert. Ständig müssen Informationen mit erneuter Anstrengung aufgearbeitet werden. Und das ist keine Zeitersparnis. Der Multitasker widmet seine Aufmerksamkeit allem – und nichts.
Wirtschaftliche Folgen
Aufmerksamkeitsverluste und künstlich gesteigertes Arbeitstempo führen zu ökonomisch quantifizierbaren Verlusten. Zu viel Zeit wird mit der oberflächlichen Bearbeitung überflüssiger Reize wie Cc-E-Mails oder Telefonaten regelrecht vertrödelt. Jeder weiß, wie schnell ein Vormittag, der eigentlich für andere Aufgaben vorgesehen war, verplempert ist. Dadurch steigen wiederum Zeit- und Termindruck, was zu weiterer Oberflächlichkeit führt. Dem Controlling entgehen oftmals solche Kosten – Millionen verschwendeter Arbeitsstunden.
Menschliche Folgen
Die durch Multitasking ausgelöste Negativspirale kann beim einzelnen Mitarbeiter im Extremfall bis zum Burnout führen. In menschlicher Hinsicht können durch digitalisiertes Online-Kommunikationsverhalten keine emotionalen Bindungen mehr entstehen, weil man das Gegenüber nur noch sehr reduziert, ohne Mimik, Körpersprache und Emotionen wahrnimmt. Die Gefahr von Missverständnissen steigt, von der Demotivation von Mitarbeitern und Kollegen ganz zu schweigen.
So geben Sie Gegensteuer
Um der Multitasking-Falle zu entgehen, lassen Sie sich nicht mehr von außen treiben, sondern nehmen Sie das Heft des Handelns und Entscheidens selbst in die Hand. Gehen Sie am besten so vor:
- Definieren Sie Ihre Wünsche und Ziele und richten Sie sich danach. Durch Konformität und überangepasstes Handeln können Sie sich kaum entwickeln, die Kreativität versiegt und die Freude an der Arbeit geht verloren. Ständiges Hin- und Herschalten zwischen Anforderungen ist keine Zielorientierung.
- Berücksichtigen Sie bei der Zielorientierung auch Ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse. Wenn Sie sich z. B. unbedingt einen Porsche leisten wollen, ist das ein mächtiger Motivator.
- Arbeiten Sie lösungsorientiert, nicht problemorientiert. Es ist nicht so wichtig, Fehler zu suchen. Finden Sie eine alternative Lösung.
- Aus der Zielorientierung ergeben sich fast wie von selbst Prioritäten – im klaren Unterschied zu Dringlichkeiten aller Art. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche und langfristig Wichtige.
„Wir stehen in Verbindung, haben aber keine Beziehung zueinander.“
Erledigen Sie die anstehenden Aufgaben in dieser Reihenfolge:
- Kritische Situationen und feste Termine.
- Strategische Weichenstellungen und langfristige Planungen.
- Erst danach werden E-Mails, Anrufe, Post, Berichte, Meetings abgearbeitet.
- Die Beschäftigung mit ziellosem Surfen, Chatten, Info- und Werbematerial, Cc-E-Mails, statistischen Ausarbeitungen usw. sollten Sie so weit wie möglich einschränken. Entfernen Sie von Ihrem Schreibtisch alles, was Sie ablenkt oder was Sie schnell noch nebenbei erledigen könnten.
„Dauerstress, auch bedingt durch das ständige Neuausrichten unserer Aufmerksamkeit, ist wahrlich kein guter Nährboden für Kreativität.“
Den Hauptstressfaktor E-Mail können Sie bändigen, indem Sie eine bestimmte Zeit festlegen, in der Sie den Posteingang bearbeiten. Erklären Sie Ihrem Umfeld, dass auf diesem Weg von Ihnen keine Antworten im Minutentakt zu erwarten sind.
Das Ende der Gleichzeitigkeit
Wenn Sie Ihre Ziele und Aufgaben definiert haben, ergeben sich die Prioritäten – und damit ein sinnvolles Nacheinander – wie von selbst. Das ist das Ende der Gleichzeitigkeit: Ihr Gehirn arbeitet mit voller Aufmerksamkeit an dem, was wichtig ist. Das Wichtigste ist aber oft auch das Schwierigste und Komplizierteste. Unterteilen Sie komplexe Aufgaben in kleinere Zwischenetappen. Deren Erledigung, also die schrittweise Bewältigung der Gesamtaufgabe, bringt Sie wirklich weiter. Das wird mit Gewinn und Erfolg belohnt – oder zumindest mit dem motivierenden, freudigen Gefühl, eine Aufgabe erfolgreich bewältigt zu haben. Und das ist der beste Motivator für die nächste Aufgabe.
Tipps für Führungskräfte
Als Vorgesetzter sollten Sie auch Ihren Führungsstil kritisch betrachten und ihn nicht mehr unter Gleichzeitigkeitszwang stellen. Was für ein Cheftyp sind Sie?
- Hochmotivierte Chefs arbeiten zwar ausdauernd und intensiv, verwechseln aber allzu leicht Anstrengung mit Leistung und Ergebnis. Vereinbaren Sie stattdessen mit Ihren Mitarbeitern die Ziele und überlassen Sie ihnen Freiräume zu deren Verwirklichung.
- Hektische Chefs stehen ständig unter Strom und verwirren und demotivieren ihre Mitarbeiter. Nehmen Sie lieber das Tempo raus und kümmern Sie sich in Gesprächen und Erklärungen um die Belange Ihrer Mitarbeiter. Diese Art von Anerkennung führt zu starker Motivation und Leistungssteigerung.
- Joviale Chefs sorgen zwar für gute Stimmung, aber den Mitarbeitern fehlen die Zielorientierung und die Prioritätensetzung. Dadurch entsteht die Gefahr einer gewissen Gleichzeitigkeit. Stellen Sie Regeln auf und erklären Sie, was wichtig ist.
„Konformität lässt wenig Platz für selbstständige Entscheidungen und echte Entwicklung.“
Generell empfiehlt es sich für Führungskräfte, den Kommunikationsfluss zu regeln. Durch offenen, direkten Umgang mit den Mitarbeitern lässt sich die informelle Kommunikation (Gerüchteküche, Flurfunk) eindämmen. Auch für das Versenden, Bearbeiten und Weiterleiten von E-Mails lassen sich Regeln aufstellen: Wer braucht welche Information? Wer bekommt eine Kopie? Wann werden Mails gelöscht? Der Aufwand, das interne Informationssystem zu strukturieren und regelmäßig zu aktualisieren, ist keine verschwendete Zeit.